Wut und Trauer bleiben

Die Katastrophe von Rana Plaza hat die Textilbranche verändert

Bis heute kämpfen Angehörige der Opfer und Arbeiter*innen der Textilfabrik in Bangladesch mit den Folgen des Unglücks vom 24. April 2013. Seitdem konnten sie einige Verbesserungen erkämpfen.

Haidy Damm, 24.04.23, nd

»Auf einmal gab es einen Stromausfall. Ich hatte furchtbare Angst, dass das Gebäude jeden Moment einstürzen könnte. Dann, in dem Moment als die Generatoren angeschaltet wurden, wackelte das ganze Gebäude so heftig, und es stürzte tatsächlich ein! Danach erinnere ich mich daran, mich nicht mehr bewegen zu können.« Mit diesen Worten beschreibt die Näherin Rita Akher Josna in einem Interview, wie sie den Morgen des 24. April vor zehn Jahren erlebte. An diesem Tag stürzte in Bangladesch der achtstöckige Fabrikkomplex Rana Plaza ein.

Mehr als 5000 Arbeiter*innen befanden sich in den zahlreichen Textilwerkstätten, die in dem Gebäude neben Geschäften und einer Bank untergebracht waren. Schon am Tag vor dem Unglück waren Risse in dem Gebäude entdeckt worden, die Geschäfte im Erdgeschoss hatten bereits reagiert und geschlossen. Die Arbeiter*innen wurden jedoch gezwungen, ihre Arbeit fortzusetzen. Ihnen wurde damit gedroht, dass der Lohn für zwei Monate einbehalten würde, wenn sie nicht wieder an die Arbeit gingen. Dann kam es zum Einsturz. Mehr als 1100 Menschen starben in den Trümmern, 2500 wurden verletzt. Tausende Familien standen plötzlich vor dem wirtschaftlichen Abgrund, da die verunglückten Näherinnen oft Alleinverdienerinnen waren.

In den Trümmern wurden Etiketten zahlreicher europäischer Unternehmen und Modemarken gefunden, darunter Primark, Benetton, Mango, C&A sowie die deutschen Unternehmen KiK und Adler. Zwar wiesen diese zunächst jegliche Verantwortung von sich, den öffentlichen Druck konnte die Textilbranche jedoch nicht ignorieren. Letztlich erklärte sich ein Teil der Unternehmen bereit, in einen Entschädigungsfonds einzuzahlen. Mehr als 30 Millionen US-Dollar wurden bis Mitte 2015 gesammelt, um an die rund 2800 Antragsteller*innen ausgezahlt zu werden. »Wir haben jahrelang dafür gekämpft, dass es Entschädigungen gibt«, sagt Gisela Burckhardt von Femnet gegenüber »nd«. »Aber das Geld reicht bei weitem nicht.«

 

Zur Verantwortung sollten auch die Verantwortlichen in Bangladesch gezogen werden. 2016, drei Jahre nach dem Unglück, wurden in einem Gerichtsprozess insgesamt 41 Menschen angeklagt, 38 wegen Mordes und drei wegen Beihilfe zur Flucht des Hauptangeklagten. Den Beschuldigten wird vorgeworfen, bewusst mangelhafte Baustandards unterschrieben zu haben. Zudem sollen sie Mitarbeiter*innen gezwungen haben, in dem achtstöckigen Gebäude zu arbeiten, obwohl sie wussten, dass es strukturell nicht intakt war. Das Verfahren wurde im Februar 2022 wieder aufgenommen, nachdem es jahrelang immer wieder ausgesetzt worden war. Der Hauptangeklagte Sohal Rana, Eigentümer des Fabrikkomplexes, wurde im August 2017 zu einer Haftstrafe von drei Jahren verurteilt, weil er sich weigerte, seine Vermögensverhältnisse offenzulegen. Er war bisher der einzige Angeklagte, der in Haft war. Im April nun wurde auch Rana gegen Kaution freigelassen. Der stellvertretende Generalstaatsanwalt Mohiuddin Dewan hat allerdings angekündigt, vor dem Obersten Gerichtshof Berufung einlegen zu wollen.

Doch unterstützt durch die weltweite Aufmerksamkeit konnten die Textilgewerkschaften in Bangladesch nach der Katastrophe auch Verbesserungen erreichen. »Heute gibt es in vielen Fabriken Sicherheitskomitees, die Zahl der Gewerkschaften hat sich erhöht, die Einkäufer sind sensibilisiert«, sagt Amirul Hague Amin, Präsident und Mitbegründer der Nationalen Gewerkschaft der Textilarbeiter in Bangladesch. Allerdings gelte das nicht für alle, so Amin bei der Pressekonferenz zum Jahrestag der Katastrophe in Dhaka. »Besonders die kleinen Fabriken brauchen dringend mehr Sicherheit.« Dafür müssten die Hindernisse – auch die unsichtbaren – bei der Gründung von Gewerkschaften beseitigt werden.

Noch immer kommt es zu Entlassungen, wenn Arbeiter*innen sich zusammenschließen. Als Weckruf will der Gewerkschaftsvorsitzende die Katastrophe von Rana Plaza nicht verstanden wissen. »Ein Weckruf war der Unfall am 27.12.1990 bei Saraka Garments in Dhaka.« Damals waren 27 Arbeiter*innen gestorben, weil in der Fabrik ein Feuer ausgebrochen war, Hunderte wurden verletzt. Rana Plaza dagegen sei die Botschaft, »der Tötung von Arbeiter*innen endlich vorzubeugen«.

Die Näherin Rita Akher Josha erlitt bei dem Unglück eine schwere Wirbelverletzung. »Ich möchte echte Gerechtigkeit für die Freunde, die ich in der Tragödie verloren habe.« Dass kurz vor dem Gedenktag der Fabrikbesitzer Rana gegen Kaution freigelassen wurde, gehört wohl nicht dazu. Am 8. Mai wollen Gewerkschaften vor dem Obersten Gericht in Dhaka dagegen demonstrieren.

 

»Die sozialen Standards haben sich nicht erhöht«

Gisela Burckhardt vom Verein Femnet über den Einsturz des Fabrikkomplexes Rana Plaza und die Folgen

Interview: Haidy Damm

Am 24. April vor zehn Jahren stürzte in Bangladesch der Fabrikkomplex Rana Plaza ein. Über 1000 Arbeiter*innen starben, 2500 wurden verletzt. Erinnern Sie sich noch an den Tag?

Sicher erinnere ich mich, es war ein furchtbarer Schock. Wir haben damals sofort versucht, mit den Arbeiter*innen in Kontakt zu kommen, das war nicht so einfach wie heute. Ich selbst bin nach dem Unglück dorthin gefahren und habe verletzte Arbeiter*innen im Krankenhaus besucht und mit Hinterbliebenen gesprochen. Nachdem die ganzen Verwundeten und Toten geborgen waren, haben unsere Partnerorganisationen, zu denen wir als Mitglied der Clean Clothes Campaign enge Kontakte pflegen, vor Ort nach Labeln und Etiketten gesucht. Wir wollten wissen, wer in der Fabrik produziert hat, wer verantwortlich ist.

Die Katastrophe hat die Arbeitsbedingungen in der Textilbranche weltweit in die Schlagzeilen gebracht. International wurde das Brandschutzabkommen Accord verabschiedet. In Deutschland rief der damalige Bundesentwicklungsminister Gerd Müller das Textilbündnis ins Leben. Wie schätzen Sie diese Initiativen heute ein?

Das Brandschutzabkommen Accord war auf jeden Fall ein wichtiger Fortschritt, der leider auch erst durch den öffentlichen Druck nach dem Unglück möglich geworden ist. Rund 220 vor allem europäische Unternehmen haben es zusammen mit Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen ausgehandelt, um verpflichtende Standards für mehr Arbeitssicherheit und Gesundheit durchzusetzen. Inzwischen liegt die Zuständigkeit bei der Regierung in Bangladesch. Gleichzeitig wurde das Abkommen international ausgeweitet, so wurde es auch in Pakistan unterzeichnet. Ebenfalls als Reaktion wurde in Deutschland das Textilbündnis aus der Taufe gehoben. Das war immerhin ein erster Schritt, Gewerkschaften, Unternehmen und Zivilgesellschaft an einen Tisch zu bringen.

Und heute?

Beim Textilbündnis bin ich inzwischen ziemlich ernüchtert. Wir hatten große Hoffnung auf den Dialog mit den Unternehmen gesetzt. Bei einigen hat sich das Bewusstsein zwar geändert, dennoch hat sich vor Ort bis heute nichts verbessert. Wir überlegen immer wieder, ob es noch Sinn macht, im Textilbündnis zu bleiben. Klar ist, wir brauchen auf jeden Fall gesetzliche Regelungen. Ich finde, diese ganze Freiwilligkeit ändert kaum etwas. Insgesamt stellen wir fest: Die sozialen Standards haben sich nicht erhöht – im Gegenteil. Die Löhne wurden in Bangladesch seit fünf Jahren nicht heraufgesetzt trotz gravierender Inflation. Frauendiskriminierung und geschlechtsspezifische Gewalt am Arbeitsplatz sind weiter vorhanden. In den Corona-Jahren sind massenhaft Einkommen weggebrochen, weil die Näher*innen keine Löhne bekamen, als die Fabriken geschlossen hatten. Nur sehr wenige waren bereit, die gesetzlich vorgeschriebenen Entschädigungszahlungen auszuzahlen.

Minister Müller hat dann den Grünen Knopf gestartet. Das ist ein staatliches Textilsiegel, das 26 soziale und ökologische Produktkriterien und 20 Unternehmenskriterien umfasst...

Ich denke, der Grüne Knopf ist auch entstanden, weil das Textilbündnis aus Sicht von Gerd Müller nicht schnell genug Ergebnisse geliefert hat, die Aushandlungsprozesse waren doch sehr zäh. Es war zudem für Verbraucher*innen kaum sichtbar und hatte insgesamt wenig Auswirkungen. Er hat wohl auch deshalb das Siegel zusätzlich ins Leben gerufen.

Welche anderen Ansätze beobachten Sie?

Aktuell wird das Thema Recycling heftig diskutiert in der Branche. Dabei geht es aber nicht in erster Linie um Arbeitsbedingungen, sondern um Umweltverschmutzung und Klimawandel. Durch Wiederverwertung will man etwa den CO2-Ausstoß reduzieren. Aber das ist zum großen Teil Augenwischerei. Bei der Baumwolle etwa ist es gar nicht möglich, 100 Prozent zu recyceln. Bei den Chemiefasern wird oft nicht Kleidung recycelt, sondern anderes Plastik wie PET Flaschen. Das macht überhaupt keinen Sinn, denn es reduziert nicht die Menge an Kleidung.

Inzwischen gibt es verschiedene Label und Zertifikate, die faire Kleidung vertreiben oder zertifizieren. Sehen Sie da gute Ansätze?

Dieser ganze Bereich ist sehr problematisch. Sicher gibt es gute Ansätze wie beim Grünen Knopf oder dem Fair Trade Siegel für den Baumwollanbau. Aber auch letzteres zahlt ja keine existenzsichernden Löhne, sondern einen etwas höheren Preis für die Baumwolle. Der Rest der Lieferkette wird damit noch nicht abgedeckt. Gut ist beim Grünen Knopf, dass die Unternehmen geprüft werden und nicht nur das Produkt. Aber mit existenzsichernden Löhnen hat das alles nichts zu tun. Grundsätzlich schwierig bei den Siegeln ist, dass Unternehmen denken, super, wir bekommen ein Siegel und haben unserer Sorgfaltspflicht genüge getan. Aber das reicht einfach nicht aus. Als Unternehmen muss man die Lieferkette kennen, man muss intensiv in den Dialog mit seinen Lieferanten gehen. Erst wenn man diese gut kennt, ist es möglich, Schwächen zu verbessern und sicherzustellen, dass gute Standards umgesetzt werden. Tatsächlich ist es aber so, dass viele Unternehmen ihre Lieferkette überhaupt nicht kennen.

Hier könnte ja das neue Lieferkettengesetz greifen.

Das ist auf jeden Fall ein Ansatz. Es geht ja darum, dass Unternehmen auch in der tieferen Lieferkette, also beispielsweise in der Spinnerei aktiv werden müssen, wenn Vorkommnisse oder Verstöße gemeldet werden. Gleichzeitig gibt es aber kein Klagerecht für Betroffene vor deutschen Gerichten, das sehen wir kritisch. Insgesamt müssen wir wohl erst die Umsetzung abwarten und beobachten, wie gründlich die Unternehmen eigentlich geprüft werden.

Auch auf EU-Ebene wird ja ein neues Lieferkettengesetz diskutiert...

Der Entwurf hat an vielen Stellen noch Mängel, ist aber besser als die deutsche Variante. So soll es Klagemöglichkeiten für Betroffene geben. Gleichzeitig soll aber die Beweispflicht, dass Arbeitsrechte verletzt werden, bei den Betroffenen liegen. Da muss nachgebessert werden: Das Unternehmen sollte nachweisen müssen, dass es Umwelt- und Sozialstandards eingehalten hat.

In der Debatte nach der Katastrophe von Rana Plaza ging es medial und bei vielen Aktivist*innen um das »Problem Billigklamotten«. Besonders Unternehmen wie Kik standen im Fokus. Geht es um günstige Klamotten?

Nein, überhaupt nicht. Besonders Wirtschaftsvertreter*innen behaupten das immer gerne. Aber es stimmt nicht. Ich bin selbst immer wieder in Fabriken unterwegs, da läuft in der einen Reihe Kik und in der nächsten Hugo Boss oder Gucci. Alle lassen in denselben Fabriken produzieren. Der Unterschied liegt dann in der Verarbeitung oder der Auswahl der Stoffe. Bei den Arbeitsbedingungen jedoch gibt es keinen. Wer teure Kleidung kauft, sorgt nicht dafür, dass Arbeits- und Sozialstandards eingehalten werden.

Was also tun?

Man muss genau schauen, von wem man kauft. Aber es ist natürlich eine Zumutung, wenn Verbraucher*innen das alles selbst per Recherche herausfinden sollen. Deshalb braucht es das Lieferkettengesetz, das diesen Schritt leistet und die Unternehmen prüft. Auch wenn wir im Grunde durch zahlreiche Studien ja schon wissen, dass Arbeitsrechte in den Textilfabriken verletzt werden. Die Näherinnen werden entlassen, wenn sie sich etwa gewerkschaftlich organisieren. Seit der Pandemie ist der Arbeitsdruck sogar gestiegen, das Produktionssoll wurde gesteigert. Das sind die Fakten, die wir längst kennen.

Wenn Sie heute auf die Textilbranche blicken. Was sehen Sie?

Das größte Problem der Textilbranche ist die Überproduktion. Die Anzahl der weltweiten Kleidungskäufe hat sich zwischen 2000 und 2015 auf 100 Milliarden verdoppelt. Davon wird sehr sehr viel ungetragen weggeworfen, anderes ein, zweimal angezogen, bevor es in der Tonne landet. Das ist ein massiver Schaden, sowohl für die Umwelt wie auch für die Arbeiter*innen. Die von ihnen unter schlimmen Arbeitsbedingungen hergestellte Kleidung wird ungetragen weggeworfen. Das ist doch Wahnsinn! Wir brauchen weniger Produktion, weniger Kleidungsstücke, die dafür länger haltbar sind – auch im Gedenken an die Opfer von Rana Plaza, die für Fast Fashion gestorben sind.

Interview

Dr. Gisela Burckhardt ist Gründerin und Vorstandsvorsitzende von Femnet e.V. Seit 2015 ist sie gewählte Vertreterin der Zivilgesellschaft im Bündnis für nachhaltige Textilien.

 

 

Hallo!

Es geschehen doch noch gute Dinge, und manche muss man einfach nachmachen: Polen und Spanien haben beschlossen, aus dem ECT auszusteigen, siehe http://www.umweltinstitut.org/aktuelle-meldungen/meldungen/2022/klima/energiecharta-polen-und-spanien-machen-es-vor-und-steigen-aus.html

Wenn viele Länder das zeitgleich machen, greift auch die Nachgeltungsklausel nicht mehr. Denn:

  • Durch die Neutralisierung der Verfallsklausel könnte die Klagefrist für Unternehmen aus den aussteigenden Staaten, die fossile Brennstoffe einsetzen, auf ein Jahr statt auf mehr als zehn Jahre verkürzt werden.
  • Ein Austritt eröffnet die Möglichkeit, dass sich EU-Beitrittsländer, Nachbarländer wie das Vereinigte Königreich oder die Schweiz oder andere Vertragsparteien der Neutralisierung der Verfallsklausel anschließen. Dies würde das Risiko von ISDS-Klagen weiter verringern.
  • Die EU-Mitgliedsstaaten sind der wichtigste Geldgeber für das Energiecharta-Sekretariat und ein koordinierter Austritt könnte den gesamten Vertrag ins Wanken bringen. Dies könnte den ins Stocken geratenen Prozess für eine umfassendere Reform der Investitionspolitik wieder in Gang bringen - der jüngste IPCC-Bericht hat uns daran erinnert, wie wichtig dies ist, als er vor der abschreckenden Wirkung von ISDS auf die Klimapolitik warnte.

Liebe Grüße von H.

 

 

aus: Newsletter:

(Eigener Bericht) – Die am Freitag gefällte WTO-Entscheidung zur befristeten Aussetzung von Covid-19-Impfstoffpatenten ist von der Bundesregierung systematisch ausgehöhlt worden und wird wohl kaum Wirkung entfalten. Dies beklagen global tätige Menschenrechts- und Hilfsorganisationen. Demnach darf nur eine begrenzte Zahl an Entwicklungsländern Covid-19-Vakzine ohne Absprache mit den Patentinhabern produzieren. Fachleute bezweifeln, dass sie die komplexe Technologie für die Herstellung der aufwendigen mRNA-Impfstoffe beschaffen können. Ohnehin haben vor allem Deutschland, Großbritannien und die Schweiz die jetzige Aussetzung der Patente so lange hinausgezögert, bis der Weltmarkt für Covid-19-Impfstoffe weitgehend gesättigt ist. Die Patentfreigabe bei Covid-19-Medikamenten hingegen, bei denen weiterhin Marktchancen bestehen, blockieren sie unverändert. „Erkrankte in einkommensschwächeren Ländern“ könnten auch künftig nicht auf „die Behandlung“ hoffen, „die sie benötigen“, heißt es bei Amnesty International. Zu den Profiteuren zählt die Firma BioNTech (Mainz), die mit Quartalsgewinnen in Milliardenhöhe zu einem der finanzstärksten Biotech-Unternehmen weltweit aufgestiegen ist.

Weiterlesen
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8952

 

 

 

Studie belegt Einfluss von Autokonzernen auf EU-Mercosur-Handelsabkommen

 
 

Autokonzerne haben die Verhandlungen über das noch nicht unterschriebene Handelsabkommen zwischen der EU und den Mercosur-Staaten erheblich beeinflusst - und würden davon in besonderem Maße profitieren. Das zeigt die Studie „Mobilitätswende ausgebremst. Das EU-Mercosur-Abkommen und die Autoindustrie”. Dabei ging die Lobbyarbeit nicht nur von den Konzernen selbst aus. Interne E-Mails belegen, wie Mitarbeiter*innen des deutschen Wirtschaftsministeriums und der EU-Kommission aktiv auf Wirtschaftsverbände zugingen, um deren Wünsche zu erfragen und in die Verhandlungen mit den Mercosur-Staaten einzuspeisen. Die Studie wird herausgegeben von Misereor, der Deutschen Umwelthilfe, Greenpeace Deutschland, PowerShift, Attac Deutschland, Attac Österreich und dem Netzwerk Gerechter Welthandel.

Das Ergebnis der erfolgreichen Einflussnahme ist ein Vertragstext, der Zölle auf Autos mit Verbrennungsmotor, Autoteile und Rohstoffe für die Autoproduktion beseitigen sowie die Ausfuhr von Kraftstoffen auf der Basis von Nahrungs- und Futtermitteln fördern würde.  Dadurch verstärkt das Abkommen den Verbrauch fossiler Brennstoffe im Verkehr und fördert klimaschädlichen Ressourcenabbau. 

Die Studie beschreibt detailliert, wie die Autoindustrie vom engen Zusammenspiel mit der Politik profitiert. Dazu zählen die schrittweise Beseitigung aller Zölle auf Autos und Autoteile und auf wichtige Rohstoffe wie Eisen und Stahl, Aluminium, Kupfer, Blei, Zink und das für Elektroautos wichtige Lithium. Die Mercosur-Staaten verzichten zudem auf Exportsteuern für Soja, Biodiesel und Rindsleder (Autositze). Das EU-Mercosur-Abkommen ist ein Autos-gegen-Fleisch-Deal, der vor allem einem Ziel dient: Herstellern klimaschädlicher Autos Produktions- und Importkosten zu sparen. Mit einem gerechten und nachhaltigen Handelsabkommen hat das nichts zu tun.

 

 

Deutschland rüstet auf zur Verteidigung der »regelbasierten Weltordnung«. Was ist damit gemeint?

  • Von Stephan Kaufmann
 
  • 25.03.2022, nd
  • Russlands Angriff auf die Ukraine verursacht nicht nur immenses menschliches Leid. Er stelle auch einen »Angriff auf all die Werte einer regelbasierten internationalen Ordnung« dar, so Annalena Baerbock vergangene Woche. Damit nimmt die Außenministerin einen Terminus auf, der in den vergangenen Jahren eine steile Karriere erlebt hat. »Still und leise ist der Kampf für eine ‚regelbasierte Weltordnung‘ zum höchsten und letzten Zweck der deutschen Außenpolitik avanciert«, schrieb schon 2020 Jörg Lau in der Zeitschrift »Internationale Politik«. Kein Grundsatztext komme mehr ohne diese Phrase aus.

Nicht nur in Deutschland: Vor zwei Jahren kündigten die Regierungen Europas und Chinas an, die »regelbasierte Weltordnung« gegen die unilaterale US-Politik unter Donald Trump zu verteidigen. Und vor einem Jahr nannte US-Außenminister Antony Blinken als zentrales Ziel Washingtons die »Stärkung der internationalen regelbasierten Ordnung«.

Der Terminus benennt etwas scheinbar Gutes, Vernünftiges – schließlich ist Ordnung besser als Unordnung und Regeln sind besser als Gewalt oder Zwang. Auf dieser Vernunft, so heißt es, beruht auch die globale Wirtschaft, deren Gedeihen nun gefährdet ist: »Der Krieg kann die weltweite wirtschaftliche und geopolitische Ordnung grundlegend verändern, wenn sich der Energiehandel verschiebt, sich Lieferketten verändern und Zahlungsnetzwerke zerfallen«, warnte vergangene Woche der Internationale Währungsfonds (IWF). Und Larry Fink, Chef des Vermögensverwalters Blackrock, sieht mit dem Krieg »das Ende der Globalisierung, wie wir sie in den vergangenen drei Jahrzehnten erlebt haben«.

Damit, so der Ökonom Clemens Fuest im »Handelsblatt«, stehe »unser Wohlstand steht auf dem Spiel. Wenn es zu einer dauerhaften Abschottung Russlands und Chinas vom internationalen Handel kommt, wird Deutschland einer der Hauptverlierer sein.« Auf den »Angriff auf all die Werte einer regelbasierten internationalen Ordnung« reagiert die Bundesregierung laut Baerbock mit einer »wertegeleiteten Außenpolitik«, die »bedeutet, gleichzeitig Werte und Interessen – auch wirtschaftliche Interessen – zu verteidigen. Weil das eine mit dem anderen ganz eng zusammenhängt.«

 

Dass hier Regeln als Alternative zu Zwang und Gewalt aufgeführt werden, verweist auf Gegensätze zwischen den Staaten, die wesentlich ökonomischer Natur sind. Die »regelbasierte Ordnung« regelt das Verhältnis von Konkurrenten um Macht und Geld und damit den Weltmarkt. Der Reihe nach:

I. Unternehmen und Standort

Unternehmen im Kapitalismus streben nach wachsendem Umsatz und Gewinn. Bei diesem Streben stellt die nationale Grenze zunächst ein Hindernis dar. Statt auf den Heimatmarkt beschränkt zu bleiben, wollen die Unternehmen Güter ins Ausland verkaufen. Zudem benötigen sie von dort Rohstoffe und Agrarprodukte sowie billige Vorprodukte, um ihre Produktionskosten zu senken. In die gleiche Richtung wirkt die Verlagerung von Produktion ins Ausland, also der Kapitalexport.

 

Diesem Bedürfnis der Unternehmen kommt die Politik nach, um das nationale Wirtschaftswachstum zu stärken, von dem jede Regierung finanziell abhängt. Um ihren Unternehmen das Ausland als Absatz- und Investitionssphäre zu erschließen, machen Staaten ihre Grenzen durchlässig, öffnen den Multis globale Absatzmärkte und Bezugsquellen. Die 40 Konzerne aus dem Deutschen Aktienindex erzielen heute drei Viertel ihres Umsatzes im Ausland.

Im Gegenzug öffnet ein Staat seinen heimischen Markt der ausländischen Konkurrenz. Um im globalen Wettbewerb erfolgreich zu sein, verbessert er die heimischen Standortbedingungen für Investitionen: Infrastruktur, niedrige Steuern, wettbewerbsfähige Löhne, Technologieförderung etc. Ergebnis ist die »internationale Wettbewerbsfähigkeit« eines Standortes, die regelmäßig in Rankings gemessen wird. Die Standortpolitik dient zum einen dazu, die heimischen Unternehmen in eine gute Position in der Konkurrenz mit dem Ausland zu bringen. Zum anderen wird so ausländisches Kapital angezogen, um das nationale Wirtschaftswachstum zu stärken. Diese Ziele verfolgen alle Staaten mit- und gegeneinander und machen sich so Anteile am globalen Wachstum streitig.

II. Weltmarkt und Regeln

Für die meisten Länder der Welt ist das grenzüberschreitende Geschäft also kein Zusatz mehr zum nationalen Markt. Es ist notwendiger Bestandteil dieses Wachstums gerade für erfolgreiche Staaten wie Deutschland. »Kein Land hat seinen Wohlstand so auf offene Märkte und eine multilaterale, regelbasierte Weltordnung gebaut – eine Weltordnung, die nicht erst mit dem Angriffskrieg Russlands erschüttert ist«, schreibt das »Handelsblatt« diese Woche.

Ziel in der internationalen Konkurrenz ist nicht der Sieg über die Wettbewerber, sondern ihre dauerhafte Benutzung. Daher sind gerade weltweit vernetzte Länder daran interessiert, dass sich erstens möglichst alle Staaten der globalen Konkurrenz aussetzen und dass zweitens diese Öffnung gewährleistet bleibt. Die dauerhafte Kooperationsbereitschaft von Regierungen wird organisiert über ein System global verbindlicher Regeln in Form von Handels- und Investitionsschutzabkommen und von Institutionen wie dem IWF oder der Welthandelsorganisation WTO. Diese vertraglich fixierten Regeln bilden den Rechtsrahmen der globalen Konkurrenz und sollen auch jene binden, die unzufrieden mit den Ergebnissen des Weltmarkts sind.

Die zwischenstaatlichen Verträge legen fest, was Staaten dürfen und was sie zu unterlassen haben, was sie ausländischen Wettbewerbern erlauben müssen und was sie ihnen verbieten können. Welche Regeln gelten, ist daher entscheidend für die Frage, wer bei der Benutzung des Weltmarkts erfolgreich ist und wer weniger. Entscheidend ist damit, wer die Regeln gemäß den eigenen Interessen setzen kann und wer sie bloß zu befolgen hat.

Maßgeblich gestaltet werden die Regeln meist von den Industrieländern Nordamerikas, Westeuropas und Japan. Ihre Macht gestattet es ihnen, dem Rest der Welt die Bedingungen des internationalen Geschäfts zu setzen – Regeln sind geronnene Machtverhältnisse. Mit China tritt ihnen nun ein Land gegenüber, das »durch seinen Aufstieg in der Lage sein wird, einige Regeln selbst zu bestimmen«, so der Harvard-Politologe Steven M. Walt.

Damit ist die »regelbasierte Weltordnung« laut Politikern in den USA und der EU gefährdet. In diesem Sinne stellt der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine keine »Zeitenwende« dar, sondern bloß eine Verschärfung bestehender Probleme: Die Verspannungen der internationalen Lieferketten haben für eine materielle Knappheit an Gütern weltweit und damit für eine härtere Konkurrenz gesorgt – diese Situation verschärft sich durch den Krieg und die Sanktionen. Gleichzeitig droht aus Sicht des Westens eine russisch-chinesische Allianz, damit auf Dauer eine Fragmentierung des Weltmarkts in Einflusszonen und in der Folge ein Ende des »einen Weltmarkts« mit für alle verbindlichen Normen, die der Westen maßgeblich setzt.

»Letztlich geht es nicht darum, ob die USA eine regelbasierte Ordnung haben wollen und China nicht«, erklärt Walt. »Im Kern konkurrieren die USA und China darum, wer festlegt, was Recht ist.« Dies sei die entscheidende Frage des 21. Jahrhunderts – und es ist keine juristische Frage, sondern eine Frage der Macht, das eigene Interesse für alle verbindlich zu machen.

III. Sicherheit und Weltordnung

In ihrer Rede zur Nationalen Sicherheitsstrategie Deutschlands kritisierte Außenministerin Baerbock Russland und »andere autokratische Regime, die Freiheit und Demokratie und Sicherheit in Frage stellen, die unsere internationalen Regeln brechen«. Es gehe daher darum, »unsere Sicherheit zu verteidigen«, und zwar »sowohl hier vor unserer Haustür, zehn Autostunden von hier entfernt, genauso wie in der vernetzten Welt« – also global. Dafür müsse Deutschland handlungsfähig sein, was zum einen »bedeutet, nicht abhängig und erpressbar zu sein in seinen Wirtschafts- und Energiebeziehungen«. Zum anderen »liegt unsere Stärke in unserer internationalen Geschlossenheit«, also vor allem in der Kooperation mit den USA.

Die Nationale Sicherheitsstrategie beinhaltet daher die Aufrüstung des Militärs, um ein größeres Gewicht innerhalb der Nato zu erlangen, in der Deutschland laut Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) eine »dienende Führungsrolle« anstrebt. Aber auch die Wirtschaft wird zur Waffe: Um sich unabhängiger vom Ausland zu machen, zielen Deutschland und die EU auf eine »strategische Autonomie« nicht nur bei der Energieversorgung, sondern auch bei Batterien, Computerchips oder Hochleistungscomputern. Die Produktion »strategischer« Güter soll in Europa und damit im eigenen Einflussbereich angesiedelt werden, um unabhängiger vom Ausland zu werden. Im Gegenzug werden etablierte ökonomische Abhängigkeiten genutzt, um über Sanktionen Druck auf andere Staaten auszuüben. Als riesiger Binnenmarkt »sollte die EU ihre Handelsmacht vermehrt strategisch einsetzen«, rät die ehemalige EU-Kommissarin Cecilia Malmström.

Im »Kräftemessen des 21. Jahrhunderts«, so Baerbock, wird alles zum Mittel der nationalen Sicherheit: Handelspolitik, Infrastrukturpolitik, Außen- und Sicherheitspolitik, »das gehört alles zusammen«, sagt Baerbock. Auch Investitionen in Klimaschutz und Digitalisierung, schließlich »ist technologische Überlegenheit die Basis für wirtschaftliche Stärke, und wirtschaftliche Stärke ist die Basis für politische und militärische Macht«, so Thiess Petersen, Senior Advisor der Bertelsmann Stiftung.

Zudem erneuern die EU und Deutschland ihr Bündnis mit den USA, insbesondere zur Eindämmung Chinas und Russlands. Zu diesem Zweck dient der im vergangenen Herbst gegründete Handels- und Technologierat. Bundesfinanzminister Christian Lindner setzt sich für einen neuen Anlauf zu einem Freihandelsabkommen mit den USA ein. »Gerade jetzt in der Krise zeigt sich, wie wichtig der freie Handel mit Partnern in der Welt ist, die unsere Werte teilen«, sagte Lindner diese Woche dem »Handelsblatt«.

Mit wirtschaftlichen und militärischen Mitteln arbeitet der Westen am Erhalt seiner regelbasierten Weltordnung. Und »die kommenden Wochen eröffnen eine goldene Chance, diese Ordnung neu zu gestalten«, schreibt John Micklethwait auf dem US-Portal Bloomberg, damit »McDonald’s am Moskauer Pushkin Platz wieder eröffnen kann.«