2022 | Number 10Flickr | CC BY-NC-ND 2.0

Die G7, Gruppe von sieben führenden Wirtschaftsnationen des „Westens“ – USA, Japan, Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Italien, Kanada – trifft sich zusammen mit Vertretern der EU jährlich, um globale Fragen im Interesse der Reichen Welt anzugehen und in ihrem Sinn zu lösen. Während des Jahres treffen sich regelmäßig die Außen- und Finanzminister, und Sherpas und Sous-Sherpas sind ständig mit der Abklärung der Meinungen und Interessen befasst. Seit ihrer Gründung in Paris vor 47 Jahren hat sich so ein engmaschiges Netz der Kontrolle der internationalen Politik gebildet: die global governance, das globale Regiment der Reichen Welt.

Dieses Jahr ist, wie sieben Jahre zuvor, die deutsche Regierung der Gastgeber und Schloss Elmau der Ort der Tagung. Fünf Schwerpunkte hat die Bundesregierung der Tagung vorgegeben, in denen „Fortschritte“ erzielt werden sollen. Eine kurze Prüfung der propagierten Ziele erweist, dass die G7-Länder keine Lösung der globalen Probleme zur Hand haben – sondern dass sie selbst das Problem sind.

1. Für einen nachhaltigen Planeten

Tatsächlich gehören die G7-Länder zu den mit Abstand schlimmsten Umweltsündern. Bis auf Kanada gehören alle G7-Staaten zu den zehn Übelsten. Würde die ganze Menschheit die Lebensweise der US-AmerikanerInnen pflegen, brauchte man die Erde in fünffacher Ausfertigung.

Die Propagandaformel der deutschen Regierung, es gelte, „dem Klimawandel als Treiber für Armut, Hunger, Geschlechterungerechtigkeit, Konflikte und Vertreibung weltweit entgegenzuwirken“, ist ein Zynismus sonder-gleichen. Die G7 sind die Hauptakteure der Umweltverschmutzung, und am Rio Grande wie im Mittelmeer haben sie Todesmaschinen gegen die Vertriebenen eingerichtet.

2. Wirtschaftliche Stabilität und Transformation

Die deutsche Präsidentschaft behauptet, sie wolle sich stark machen „für ein …soziales und gerechtes globales Wirtschaftssystem“. Auch dies ist eine Propaganda-Lüge. In der von der G7 weithin dominierten internationalen Ordnung gehören sie selbst zum reichen Teil der Welt, während die Schwellen- und Entwicklungsländer allesamt zum armen Teil gehören. Das Pro-Kopf-Einkommen der USA ist 10mal höher als das von Ghana oder Nicaragua, 20mal höher als das von Kongo oder Haiti, 50mal höher als das von Mosambik oder Liberia. Die Bewohner Nordamerikas und der Eurozone haben ein 13mal höheres Durchschnittseinkommen als die Bewohner von Subsahara-Afrika. Das grund-legende Merkmal sozialer Ungerechtigkeit finden wir in den reichen Ländern selbst, die angeblich längst zu Sozialstaaten gereift sind. Tatsächlich haben in Deutschland die reichsten 10 Prozent ein 7mal höheres Einkommen als die ärmsten 10 %. In den USA, dem „Führer der freien Welt“, beträgt dieses Verhältnis der sozialen Ungleichheit, sogar 18. Wenn die G7 ein „soziales und gerechtes globales Wirtschaftssystem“ als ihr Ziel ausrufen, dann fragt man sich, warum sie nicht längt damit bei sich zu Hause begonnen haben.

3. Ein gesundes Leben

Das dringendste Ziel sei, behauptet der G7-Gastgeber, die Covid-19.Pandemie zu bekämpfen und für zukünftige Pandemien vorzusorgen. Tatsächlich befindet sich die Welt nach zwei Jahren „Corona“ nicht zuletzt wegen der Maßnahmen der reichen Länder in verheerender Verfassung.

Arme Welt gegen Reiche Welt: BIP – Rangliste / Rang Pro-Kopf-EinkommenDie G7-Länder befinden sich alle in der Spitzengruppe: USA Nr. 2, Japan Nr. 4, Deutschland Nr. 5, Frankreich Nr. 9, Großbritannien Nr. 10, Italien Nr. 11. Mit China, Indien, Indonesien, Brasilien haben sich vier Länder des „Südens“ unter die ersten Zehn geschoben. Mit Russland zusammen erreichen diese Länder ein wirtschaftspolitisches Patt gegen die G7. Misst man die Länder nach Pro- Kopf-Einkommen, dann liegt Russland auf Platz Nr. 72, alle übrigen befinden sich in der zweiten Hundertschaft der Welt.Es sind arme Länder, die sich im internationalen Wettbewerb gegen die reichen, industriell höher entwickelten Gesellschaften behaupten müssen. China ist nach dem Kaufkraft-BIP an den USA vorbeigezogen, hat aber auch eine mehr als vierfach größere Bevölkerung. Die Länder des Südens und Russland sind zwar arm, aber ihr Anteil am Welt-BIP wächst ständig, während der der reichen Länder sinkt. Die G7-Länder stellten vor 20 Jahren noch zwei Drittel des Welt-BIP, heute sind es nur noch 45%. China hat seinen Anteil am Welthandel seit 2000 von 4 auf 13% erhöht, der Anteil der USA ist von 16 auf knapp 11 gesunken. In der Welt-Arena stehen die Länder mit einem höher entwickelten Wirtschaftsstand den weniger entwickelten gegenüber. Die G7 ist die politische Agentur des reichen „Westens“ gegen den immer stärker aufkommenden „Süden“. „Global Citizen“ hat diese Rechnung aufgemacht:

  • 97 Millionen Menschen mehr wurden in die absolute Armut gestoßen.
  • Die Milliardäre wurden 54 % reicher während der Pandemie.
  • Die Pharma-Konzerne, die Covid-19-Impfstoffe herstellen, verdienen in jeder Minute 65.000 $.
  • 118 Länder haben die Impfziele der Weltgesundheitsorganisation (WHO) nicht erreicht.
  • 60% der Niedrig-Einkommen-Länder sind in der Zone des höchsten Schulden-Risikos.
  • Eine Handvoll reicher Länder erhält 68% der Sonderziehungsrechte des Internationalen Währungsfonds, während die 44 ärmsten Länder nur 7% erhalten.
  • Die Entwicklungsländer werden 3,5 Billionen $ an Unterstützungsgeldern brauchen, um die globalen Entwicklungsziele 2030 der UN zu erreichen. Doch schon vor der Pandemie standen sie vor einem Finanzierungsloch von 2,5 Billionen $.
  • Weniger als 20 Länder haben die volle Impfstoff-Produktionskapazität und sie weigern sich, auf ihre Patentrechte zu verzichten.
  • Nur 13 % der Bevölkerungen der Niedrig-Einkommensländer sind geimpft. Allein in Afrika sind über eine Milliarde Menschen ohne eine einzige Impfung.
  • Die reichen Länder beharren nicht nur auf ihren Patentrechten, sie liegen auch weit zurück hinter ihren Zusagen, Impfstoffe zu liefern. Die G7-Länder haben nur zwischen 10% ihrer Zusagen (Großbritannien) und 28% (Japan) auch wirklich geliefert.
  Land  BIP – Kaufkraftparität $ BIP pro Kopf Rang
1 China 23.009.780.000.000 102
2 USA 19.846.720.000.000 17
3 Indien 8.443.300.000.000 163
4 Japan 5.224.850.000.000 41
5 Deutschland 4.238.800.000.000 26
6 Russland 3.875.000.000.000 72
7 Indonesien 3.130.000.000.000 132
8 Brasilien 2.989.430.000.000 110
9 Frankreich 2.832.170.000.000 38
10 Großbr. 2.797.999.999.999 40
11 Italien 2.393.900.000.000 45
12 Türkei 2.393.000.000.000 68
13 Mexiko 2.306.320.000.000 95
14 Süd-Korea 2.187.000.000.000 37
15 Kanada 1.742.790.000.000 34
Quelle: CIA, Factbook 21

4. Investitionen in eine bessere Zukunft

Es gehe um die „Transformation zu nachhaltigen und klimaneutralen Gesellschaften“, und dafür sei vor allem die „Mobilisierung privater Ressourcen“ erforderlich. Was so angenehm fortschrittlich klingen soll, ist in Wahrheit das brutale Konzept, öffentliche Güter zu privatisieren, zu Waren zu machen. Luft, Gesundheit, Bildung und Erziehung, Mobilität und Verkehr, Wohnen, Grund und Boden werden „kommodifiziert“. Nicht der Bedarf, sondern die Kaufkraft des einzelnen Konsumenten regelt die Verteilung. Der Yale-Professor Timothy Snyder hat Corona die „amerikanische Krankheit“ genannt, weil ein privates Gesundheitssystem die Menschen selbst in einer Pandemie nach Einkommen und Kaufkraft behandelt oder darben lässt. Big Pharma und Big Health, Pfizer und Bayer regeln Medikamente und Krankenhausversorgung, private Heime bieten beste Pflegesätze ab 8.000 Dollar/Euro monatlich; Big Finance wie GoldmanSachs und BlackRock regeln Finanzen und Geldzufluss; BlackRock aus der New Yorker WallStreet ist Großaktionär bei fast allen DAX-Unternehmen; Bill Gates arbeitet an der totalen Kontrolle der Menschen einmal durch Einführung eines Gesundheitspasses für alle, zum anderen durch die Einführung von elektronischem Geld, was den Zentralbanken die Kontrolle über alle Geldvorgänge ermöglichen würde; Höchstbildung ist nur noch bei Big Ivy League (Efeuliga heißen die acht renommiertesten Unis in den USA, allen voran Yale und Harvard), wo ein Studienplatz gegen 80.000 Dollar im Jahr zu haben ist. Der Ablauf ist immer der gleiche. Man nennt es, wie die Berliner Regierung, „Mobilisierung privater Resssourcen“, in Wahrheit übergibt man fundamentale Elemente des gesellschaftlichen Lebens und der persönlichen Wohlfahrt dem profitstrebenden großen Kapital. Wenn privates Kapital mobilisiert werden soll, heißt das für die Bürger: Gefahr im Verzug. Wirtschaftskraft schwindet – Militärstärke wächst – damit die Gefahr eines Krieges.

Gesamtrüstungsausgaben/Nuklearwaffen

  Gesamt-Rüstungsausgaben   einsatzbereite

 

Atomsprengköpfe

sonstige

 

Atomsprengköpfe

Land    Land     
1.USA 801 Mrd. $ 1.USA 1800 3750 (ges.: 5550)
2.China 293 Mrd. $ 2.Russland 1625 4630 (ges.: 6255
3. Indien 76,6 Mrd. $ 3.Frankreich 280 10 (ges.: 290)
4.Großbr. 68,4 Mrd. $ 4.Großbr. 120 105 (ges.: 225)
5.Russland 63,9 Mrd. $ 5.China 350
6. Frankreich 56,6 Mrd. $ 6.Pakistan 165
7. Deutschland 56,0 Mrd. $ 7.Indien 156
8.Saudi-Ar. 55,6 Mrd. $ 8.Israel 90
9. Japan 54,1 Mrd. $ 9.Nordkorea 40-50
Gesamt- Welt 2.100 Mrd. $   3.825 9.255 (ges. 13.080)
Quelle: SIPRI Yearbook 2021; Statista Research Department, 26.4.2022

Über 38% der Weltrüstungsausgaben entfallen auf die USA. An einsatzbereiten Nuklearwaffen steht allein Russland den G7-Mächten gegenüber. Das nukleare Patt zwingt die Staaten, allenfalls ihre konventionellen Kräfte ins Feld zu führen. 152mal haben die USA ihre konventionelle Übermacht seit 1993 zu „Auslandseinsätzen“ genutzt. In Afghanistan haben sie mit Deutschland und der ganzen Nato „am Hindukusch die Freiheit verteidigt“ (so der damalige SPD-Verteidigungsminister Struck). Zu einem ähnlichen Fall entwickelt sich die Ukraine. Auch hier sollen nun bis zum letzten Ukrainer „unsere freiheitlichen Werte“ verteidigt werden. Ist Russland geknackt, richten sich alle Rohre auf China, das Präsident Biden schon offiziell zum Hauptkontrahenten ausgerufen hat.

5. Ein starkes Miteinander

Man werde, versichert Berlin, „die Rolle der G7 als Brückenbauer und Vermittler für Frieden und Sicherheit stärken“. Eine dreiste Propagandalüge der G7. Die Nato hat ihren Status als Verteidigungsbündnis längst verloren. Sie ist eine aggressive globale Eingreiftruppe mit Einsätzen u.a. im Kosovo und sonstigen Ex-Jugoslawien (Bosnien & Herzegowina, Mazedonien), Libyen, Afghanistan und Irak. Ihre stete Osterweiterung – alle Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes außerhalb der früheren Sowjetunion sind heute Mitglied der Nato – haben in Russland zu einer Einkreis-Bedrohung geführt, die Putin zur propagandistischen Begründung seiner ebenso kriminellen und für die gesamte Arme Welt schädlichen Invasion in die Ukraine verhalf.

Der Ukraine-Krieg ist jetzt zu einem Testfall für die internationale Ordnung geworden. Würde die Ukraine den Krieg verlieren, wäre Amerikas Anspruch „als Schutzmacht des Westens geschwächt, wenn nicht gar ad absurdum geführt“ (Süddeutsche Zeitung). Die SZ fährt fort: „Dieser Krieg ist aus der Perspektive Washingtons der Testlauf für den weit brisanteren Weltkonflikt zwischen China und den USA“. Darum geht es. Gelingt den USA und Co., Russland in die Knie zu zwingen, es aus der Gleichung Reiche Welt gegen Arme Welt herauszunehmen, dann hat die Arme Welt insgesamt einen schweren Schlag erlitten. Sie braucht ein Russland, das seine Kraft behält, aber zurückfinden muss zu den Prinzipien der friedlichen Koexistenz.

Die G7 löst die Weltprobleme nicht – sie ist selbst das Hauptproblem.

 

 

Kanzler Scholz kündigt Erhöhung der deutschen Militärausgaben um fast 50 Prozent an. Berlin und Brüssel liefern Waffen an die Ukraine, teils finanziert aus der EU-„Friedensfazilität“.

BERLIN/KIEW/MOSKAU (german-foreign-policy.com vom 28.02.22  ) – Die Bundesregierung stockt den deutschen Militärhaushalt um fast 50 Prozent auf und stellt einen Betrag in Höhe von rund einem Viertel des üblichen deutschen Staatsetats als „Sondervermögen“ für Rüstung bereit. Wie Kanzler Olaf Scholz gestern ankündigte, wird der deutsche Wehretat ab sofort auf mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts erhöht; außerdem erhält die Bundeswehr zwecks Aufrüstung Zugriff auf einen Fonds mit 100 Milliarden Euro. Darüber hinaus wird die Forderung nach weiterer atomarer Aufrüstung Europas laut. Bereits eingeleitet worden ist die Entsendung von zusätzlichen NATO-Einheiten nach Ost- und Südosteuropa, darunter deutsche. Berlin steigt in die westlichen Waffenlieferungen an die Ukraine ein und liefert unter anderem „Stinger“-Raketen, die einst den sowjetischen Streitkräften in Afghanistan herbe Verluste zufügten. Die britische Regierung hilft Privatpersonen, die in einer neuen ukrainischen Fremdenlegion am Krieg gegen Russland teilnehmen wollen. Kanzler Scholz sprach am gestrigen Sonntag in einer Regierungserklärung ausdrücklich von einer „Zeitenwende“.

„Unseren Wohlstand sichern“

Bereits vor seiner Regierungserklärung hatte Scholz zu Russlands völkerrechtswidrigem Angriffskrieg erklärt: „Der russische Überfall auf die Ukraine markiert eine Zeitenwende. Er bedroht unsere gesamte Nachkriegsordnung.“[1] Ähnliche Stellungnahmen deutscher Regierungspolitiker zu den völkerrechtswidrigen Angriffskriegen gegen Jugoslawien (1999), den Irak (2003) oder Libyen (2011) sind nicht bekannt; sie dienten jeweils der Festigung einer Weltordnung unter westlicher Dominanz. Scholz erläuterte gestern vor dem Bundestag, die Welt sei nach der „Zeitenwende“ des russischen Überfalls auf die Ukraine „nicht mehr dieselbe wie die Welt davor“; es gehe darum, „ob wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen“.[2] Auf Twitter kündigte der Kanzler an: „Wir wollen und werden unsere Freiheit und unseren Wohlstand sichern!“ Während Außenministerin Annalena Baerbock sich überzeugt gab, die von der EU beschlossenen Sanktionen würden „Russland ruinieren“, stellte Scholz Schritte für die dramatische Aufrüstung der Bundeswehr in Aussicht. Ziel sei eine „leistungsfähige, hochmoderne“ deutsche Streitmacht für den in diesen Tagen unerbittlich eskalierenden Machtkampf gegen Russland.

100 Milliarden für die Aufrüstung

Um gegen Russland aufzurüsten, wird die Bundesregierung bislang unvorstellbare Summen für die Bundeswehr bereitstellen. Kanzler Scholz kündigte gestern an, der Militärhaushalt werde ab sofort auf mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts angehoben. Bei einer Wirtschaftleistung von 3,57 Billionen Euro sind das über 71,4 Milliarden Euro – beinahe 25 Milliarden mehr als im vergangenen Jahr (46,9 Milliarden Euro). Zudem stellt Berlin noch im aktuellen Bundeshaushalt ein „Sondervermögen“ von 100 Milliarden Euro bereit, das zur Aufrüstung der Bundeswehr eingesetzt werden soll.[3] Zum Vergleich: Der Etat für 2022 hatte laut ursprünglicher Planung inklusive pandemiebedingter Sonderausgaben ein Volumen von 443 Milliarden Euro; der letzte nicht um Ausgaben im Kampf gegen die Coronakrise aufgestockte Etat (2019) belief sich auf 343 Milliarden Euro. Es sei klar, dass es deshalb zu Kürzungen an anderer Stelle kommen müsse, erklärt Finanzminister Christian Lindner.[4] Das Verteidigungsministerium weist auf verschiedene laufende Projekte hin, für die die Mittel benötigt werden, etwa der deutsch-französische Kampfjet der nächsten Generation sowie die Befähigung des Eurofighters zur elektronischen Kampfführung. In der vergangenen Woche sind zudem die Verträge für den Bau der Eurodrohne unterzeichnet worden; an dem Projekt beteiligt sind Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien. Ausgeliefert werden soll die Drohne ab 2028.[5]

Mehr Atomwaffen für Europa

Darüber hinaus werden die Forderungen lauter, die Wehrpflicht wieder einzuführen. Sie sind nicht neu, kamen bislang aber weitestgehend aus der AfD. Jetzt verlangt der Präsident des Reservistenverbandes, Patrick Sensburg (CDU), man müsse „in Deutschland dringend über die Sinnhaftigkeit der Aussetzung der Wehrpflicht diskutieren“.[6] Darüber hinaus preschen Kommentatoren mit der Forderung nach nuklearer Aufrüstung Europas vor. Die NATO müsse „ihre Fähigkeit zu militärischer Abschreckung in Europa stärken“, und dazu gehöre „auch die Abschreckung mit Nuklearwaffen“, hieß es in der vergangenen Woche etwa in der einflussreichen Frankfurter Allgemeinen Zeitung.[7] Auf dem Onlineportal der Wochenzeitung Die Zeit sprach sich der emeritierte Berliner Politikprofessor und einstige Regierungsberater Herfried Münkler ausdrücklich für „eine eigenständige nukleare Abschreckungsfähigkeit der Europäer“ aus. „Eine Europäisierung der nuklearen Fähigkeiten“ könne „bedeuten, dass man auf der force de frappe der Franzosen aufbaut, diese dann aber deutlich ausweitet“, erklärte Münkler, Forderungen aufgreifend, die in Berlin schon seit Jahren vorgetragen werden.[8] „In den Bereich von europäischen Raketen“ kommen solle letztlich „das gesamte Russland“.[9]

Kampftruppen-Bataillone

Bereits eingeleitet worden ist die Entsendung zusätzlicher NATO-Einheiten nach Ost- und Südosteuropa. Schon am Donnerstag hatte der Militärpakt fünf geheime Verteidigungspläne aktiviert, die sich auf Territorien vom Schwarzen Meer bis zum Hohen Norden beziehen – in einem Halbkreis ungefähr parallel zur russischen Westgrenze.[10] In diesem Kontext sind inzwischen tausende Soldaten aus der NATO Response Force (NRF) in Richtung Osteuropa geschickt worden; an der NRF ist die Bundeswehr aktuell mit rund 13.700 Soldaten beteiligt. Berichten zufolge wird eine deutsche Kompanie in die Slowakei verlegt, wo sie bis April zu einem „gemischten Kampftruppen-Bataillon“ aufgestockt werden soll.[11] Auch heißt es, deutsche „Patriot“-Luftabwehrbatterien sollten in die Slowakei verlegt werden. Zudem wird sich die Bundeswehr vermutlich mit 150 Soldaten am Aufbau einer NATO-Battlegroup in Rumänien beteiligen, die unter französischer Führung stehen soll. Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki verlangt darüber hinaus „allein für Polen ... 20.000 bis 30.000 zusätzliche Nato-Soldaten“; weitere Einheiten sollten in Estland, in Lettland und in Litauen stationiert werden. Auch solle die EU ihre Wehrausgaben steigern – „von jetzt rund 300 Milliarden Euro auf 500 bis 600 Milliarden Euro“.[12]

„Friedensförderung“ à la EU

Ebenfalls eingeleitet haben Deutschland, weitere EU-Staaten und die EU selbst zusätzliche Waffenlieferungen an die Ukraine. Berlin wird 1.000 Panzerabwehrwaffen („Panzerfaust 3“) und 500 tragbare Luftabwehrraketen („Stinger“) bereitstellen. Vor allem die Stinger-Raketen haben nicht nur militärischen, sondern auch symbolischen Wert: Sie wurden in den 1980er Jahren an die afghanischen Mujahedin geliefert und trugen dazu bei, die Verluste der sowjetischen Streitkräfte in die Höhe zu treiben. Weitere EU-Staaten wollen Kiew Waffen liefern, etwa die Niederlande (200 Stinger-Raketen) und Belgien (2.000 Maschinengewehre). Insgesamt beteiligen sich an den Lieferungen mehr als 25 westliche Staaten, darunter etwa das offiziell neutrale Schweden und Großbritannien. Die EU wiederum hat zum ersten Mal in ihrer Geschichte beschlossen, wie der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell erläuterte, „die Lieferung tödlicher Ausrüstung an die heroische ukrainische Armee zu finanzieren“; es geht, wie es heißt, um Panzer- und Flugabwehrwaffen sowie Munition.[13] Das Programm, aus dem die Mittel kommen, heißt „Europäische Friedensfazilität“. Die britische Regierung wiederum hat zugesagt, Bürger ihres Landes zu unterstützen, die in einer neuen ukrainischen Fremdenlegion am Krieg gegen Moskau teilnehmen wollen. Aktivisten, die vor Jahren einen Beitrag zum Kampf gegen den IS in Syrien leisten wollten, mussten mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen.[14]

 

[1] Scholz erklärt sich nach Kurswechsel in der Ukraine-Krise. zeit.de 27.02.2022.

[2] „Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe“. Frankfurter Allgemeine Zeitung 28.02.2022.

[3] Mehr als 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr – für unsere Sicherheit. bmvg.de 27.02.2022.

[4] Scholz verspricht 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr. spiegel.de 27.02.2022.

[5] Nations sign Eurodrone contract. janes.com 24.02.2022.

[6] Lydia Rosenfelder, Burkhard Uhlenbroich: “Wir müssen wieder über die Wehrpflicht sprechen“. bild.de 27.02.2022.

[7] Berthold Kohler: Auf Kriegskurs. Frankfurter Allgemeine Zeitung 22.02.2022.

[8] S. dazu Griff nach der BombeDie deutsche Bombe und Griff nach der Bombe (III).

[9] Nils Markwardt: „Die Ukraine ist verloren“. zeit.de 24.02.2022.

[10] NATO aktiviert erstmals ihre Verteidigungspläne im Osten. Frankfurter Allgemeine Zeitung 25.02.2022.

[11] NATO schickt Tausende Soldaten nach Osten. tagesschau.de 25.02.2022.

[12] Polen fordert mehr Nato-Truppen und höhere Verteidigungsausgaben in der EU. stern.de 27.02.2022.

[13] Borrell: Ein weiteres Tabu fällt. Frankfurter Allgemeine Zeitung 28.02.2022.

[14] Ukraine appeals for foreign volunteers to join fight against Russia. theguardian.com 27.02.2022.

 

von Winfried Wolf (aus Lunapark 02.01.22)

Es war ein Paukenschlag, als Ende November verkündet wurde, der neue Bundesverkehrsminister sei der FDP-Mann Volker Wissing. Wissing hatte sich in seiner gut 20jährigen Karriere als Politiker – zuletzt als FDP-Generalsekretär – nie in größerem Maß mit Verkehr beschäftigt. Als Hobby nennt der Mann „Weinbau – auch im familieneigenen Weingut“. Fachlich hatte er – im Gegensatz zum neuen FDP-Bundesfinanzminister Christian Lindner – viel mit Finanzen zu tun und war 2009 bis 2013 Vorsitzender des Finanzausschusses des Bundestags.

Dabei galt ein grüner Verkehrsminister als gesetzt – entweder Anton Hofreiter oder Cem Özdemir. Beide verfügen über viel Erfahrung im Bereich Verkehr. Damit stellen sich zwei Fragen: Ist da etwas falsch gelaufen? Ließen sich die Grünen etwas „wegverhandeln“? Antwort auf Frage Eins: Nein – das sollte genau so laufen. Antwort auf Frage Zwei: Da gab es nichts zu verhandeln; die Auto-Alpha-Männer Scholz und Lindner hatten sich vorab geeinigt. Das liest sich im „Spiegel“ wie folgt: „Die FDP hatte im Ringen um das Verkehrsressort einen mächtigen Verbündeten: Die SPD hatte aus industriepolitischen Gründen kein Interesse, […] den Grünen dieses Schlüsselressort zu überlassen.“1

Entsprechend sehen die Passagen zur Mobilität im Koalitionsvertrag aus: Vage wird von einer Priorität Schiene gesprochen; präzise heißt es dann: „Unser Ziel sind mindestens 15 Millionen vollelektrische Pkw bis 2030.“ Zu den Themen Zufußgehen und Radfahren gibt es peinliche fünf Zeilen mit Nichtssagendem. Unmissverständlich ist die Absage an jede Art Tempolimit.

Ähnlich wie bei der rot-grünen Bundesregierung der Jahre 1998 bis 2005, als unter dem Autokanzler Gerhard Schröder mit „Biosprit“ ein Greenwashing des Autoverkehrs erfolgte, soll es unter einem Autokanzler Scholz ein Greenwashing mit Elektroautos geben. Der Verweis auf „industriepolitische Gründe“ im „Spiegel“-Zitat lässt sich übersetzen mit „Einflussnahme der Autolobby“.

 

Krise der Autoindustrie

In den Jahren 2018 bis 2021 erlebt die weltweite Autoindustrie eine Dreifach-Krise: Erstens: Die Glaubwürdigkeit der Branche war durch den Skandal mit manipulierten Motoren erschüttert. Zweitens: Im Klimanotstand und in der Krise der Städte steht das Auto als entscheidender Sünder da. Drittens: Der Pkw-Absatz ist seit 2017 massiv rückläufig.

Motorenmanipulation: Die im September 2015 als „Diesel-Skandal“ oder „VW-Skandal“ falsch bezeichnete Angelegenheit kostete VW bislang mehr als 30 Milliarden Euro Strafgelder. Motorenabgasmanipulation gibt es bei allen internationalen Auto-Konzernen. Und es gibt kein Ende in dieser Sache. Aktuell läuft eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof, ausgehend von einem österreichischen Gericht, in Sachen „Thermofenster“, die dazu führen kann, dass Millionen betroffene Pkw stillgelegt oder auf Kosten der Autokonzerne nachgerüstet werden müssen.2

Klimasünder Auto: Das Auto wird immer mehr als Klima- und Umweltsünder und als stadtzerstörerisch identifiziert. Das wird meist auf die Emissionen reduziert. Lärm und Flächenfraß und die wachsende Zahl von Amok-Fahrten beziehungsweise Autorennen spielen jedoch auch eine beachtliche Rolle. Und wenn die Bürgermeisterin von Paris, Anne Hidalgo, im Sommer 2021 in der französischen Metropole flächendeckend Tempo 30 verordnete und dafür eine deutliche Mehrheit in der Bevölkerung findet, dann wird das in der Autobranche durchaus als Alarmzeichen registriert. Nach einer neuen Studie, verfasst von dem Berliner Verkehrsprofessor Christian Böttger, deckt der Autoverkehr nur ein gutes Drittel seiner Kosten. Er ist für die Gesellschaft ein teures Zuschussgeschäft.3

Weltautoproduktion: Und dann gibt es seit nunmehr vier Jahren in Folge einen Rückgang der Autoproduktion weltweit. 2017 wurden 73,4 Millionen Pkw – einschließlich Lkw und Bussen 97,3 Millionen Kraftfahrzeuge – hergestellt. 2021 waren es noch rund 55 Millionen Pkw und 77 Millionen Kfz. Das ist bei den Pkw ein Rückgang um ein Viertel. In Deutschland – das in Europa führende Autoland und zugleich der weltweit größte Autoexporteur – sieht es nochmals dramatischer aus. 2017 wurden 5,6 Millionen Pkw produziert; 2021 sind es 2,7 Millionen – ein Rückgang um 55 Prozent. Bei der Weltautofertigung liegt das Produktionsniveau nun auf dem Level von 2007. In Deutschland entspricht das 2021er Niveau demjenigen des westdeutschen im Jahr 1975.

Dieses Gesamtbild verdüstert sich noch bei einem Blick nach China, wo es erstmals seit Jahrzehnten Rückgänge im Autoverkauf gibt und wo das 2021er Niveau des Autoabsatzes unter dem von 2019 liegt. China ist nicht nur der größte Automarkt der Welt. Es gibt für die deutsche Autoindustrie auch laut Handelsblatt das „Klumpenrisiko China“: VW (als Marke) setzt inzwischen 49 Prozent aller seiner weltweit gebauten Autos in China ab. Bei der VW-Tochter Audi sind es 42,7 Prozent, bei Mercedes 37,9 Prozent und bei BMW 34,8 Prozent.4

Das VW-Stammwerk in Wolfsburg ist 2021 zu weniger als 50 Prozent ausgelastet. Die Jahreskapazität liegt bei einer Million Pkw; 2021 haben nur rund 450.000 Autos das Werk verlassen. Im Pandemiejahr 2020 wurde so gut wie geräuschlos die gewaltige Fusion von PSA und Fiat-Chrysler durchgezogen; ein Vorgang, der erheblich zur weiteren Deindustrialisierung Italiens beiträgt.

Indem in dem fusionierten, faktisch rein französischen Konzern die Marken Fiat, Chrysler, Opel, Peugeot, Citroen, Alfa Romeo und Lancia zusammengeschlossen sind – überwiegend Autos, die in direkter Konkurrenz zueinander stehen – dürfte es zu einer Kannibalisierung unter den bislang unabhängigen Marken, zu umfassenden Rationalisierungen, zu Fabrikschließungen und zu einem massenhaften Belegschaftsabbau kommen. Dies wird auch die Belegschaft bei Opel in Eisenach treffen. Der PSA-Chef Carlos Tavares – nunmehr Stellantis-Boss – ist Garant für eine Brutalo-Sanierung.

Zur Einordnung des weltweiten Umbruchs drei Anmerkungen: Es gibt einige Sonderfaktoren wie die Chip-Zulieferkrise, die die Branchenkrise konjunkturell verschärfen. Gleichzeitig setzt sich die Pandemie fort, was auch 2022 zu einem Absatzrückgang beitragen könnte.

Am Umsatz gemessen sind die Einbrüche, vor allem bei den deutschen Konzernen, nicht ganz so groß, da der Durchschnitts-Pkw – auch aufgrund der E-Pkw – sich deutlich verteuerte. Auch gibt es weiter bei fast allen internationalen Autokonzernen hohe Profite. Absatzrückgang muss nicht Verlust bedeuten; Belegschaftsabbau und hohe Profite passen nämlich gut zusammen. Der Weltautobestand wächst trotz des Produktionsrückgangs weiter von Jahr zu Jahr. Das trifft sogar auf Deutschland zu, wo wir selbst im Corona-Krisen-Jahr 2020 einen Zuwachs beim Pkw-Bestand von 600.000 Einheiten haben. In den vorausgegangenen Jahren war der Zuwachs deutlich höher, teilweise bei einer Million und mehr.

Rettung naht:Elektromobilität

In allen Krisenzeiten der Branche gab es Vergleichbares wie Greenwashing – auch wenn dieser Begriff jüngeren Datums ist. Mitte der 1970er Jahre, nach der „Ölkrise“ von 1973, war es der „Kat“, der das Auto umweltfreundlich machen sollte. In den 1990er Jahren hieß es, ein „Swatch Car“ (später der „Smart“) werde das Auto stadttauglich machen. In den Nuller Jahren erlebten wir den Hype um den Biosprit, mit dessen Hilfe dem Klimasünder Auto die Absolution erteilt werden würde.

Die Branche war ebenso erfindungsreich, wie die Öffentlichkeit sich gutgläubig gab. Das Ergebnis war immer dasselbe: Die Weltautoproduktion wurde aufs Neue gesteigert, die zerstörerischen Tendenzen dieser Mobilitätsform verallgemeinerten und vergrößerten sich.5

Und jetzt ist es das Elektroauto, das die Krise des Fahrzeugbaus beheben soll. Bis 2019 argumentierten alle großen Autohersteller, man werde Schritt für Schritt E-Pkw einführen, aber bis auf Weiteres an einem Mix von Verbrennern und E-Pkw festhalten. Mit den beiden Pandemie-Jahren – zugleich Jahre der vertieften Branchenkrise – hat sich das deutlich verändert. Jetzt wollen alle relevanten Autohersteller zu E-Pkw-Massenherstellern werden. Der VW-Boss Herbert Diess, der noch 2018 eine massenhafte E-Pkw-Motorisierung abgelehnt hatte, outet sich als Bewunderer des Tesla-Chefs Elon Musk. Diess will VW binnen weniger Jahre zum weltweit größten E-Pkw-Hersteller machen. Der Daimler-Chef Ola Källenius erklärt: „Die Zukunft des Autos wird elektrisch sein, daran gibt es gar keinen Zweifel.“6

Und so kam es in den vergangenen vier Jahren zu einem dramatischen Umbau der Weltautoproduktion mit den drei Komponenten: Rückgang der Produktion, drastischer Anstieg der Elektro-Auto-Fertigung und Aufstieg von Tesla vom Nischenhersteller zum Pkw-Massenproduzenten. Die Tabelle auf der nächsten Seite oben illustriert diesen Vorgang.

Zwar liegt auch 2021 der Anteil von reinen E-Pkw an der gesamten weltweiten Pkw-Fertigung mit 7,6 Prozent eher niedrig. Die Dynamik ist jedoch deutlich. Und da die Steuergelder für Elektromobilität sprudeln, wird die Konversion beschleunigt. Wenn es im zitierten Koalitionsvertrag heißt, man strebe 15 Millionen Batterie-Pkw bis 2030 an, dann müssten selbst im Fall einer auf 4500 Euro halbierten staatlichen Prämie beim Kauf eines E-Pkw rund 65 Milliarden Euro eingesetzt werden. Wobei die Kosten für die Ladeinfrastruktur und neue Kraftwerke und Überlandleitungen hinzukommen. Von solchen Summen staatlicher Förderung kann die Ökostrom-Branche nur träumen.

Tesla als Rammbock

Alle Autokonzerne nutzen in Zukunft Tesla als Rammbock, um die gesamte Autoindustrie neu zu strukturieren, die Belegschaften massiv zu reduzieren und die Profite zu steigern. Beispiel VW: Neben dem Stammwerk in Wolfsburg zieht der Konzern auf der grünen Wiese ein neues Werk mit der Bezeichnung „Trinity“ für eine Nur-Elektro-Pkw-Produktion hoch. Nach Aussage des VW-Markenchefs Ralf Brandstätter soll dieses Werk „binnen fünf Jahren zum Leuchtturm für modernste und effizienteste Fahrzeugproduktion“ werden.7

Vorbild ist die Tesla-Fabrik in Grünheide. Die Fertigungszeit je Auto soll dann auf zehn Stunden sinken – im E-Auto-VW-Werk in Zwickau sind es aktuell dreimal so viel. Alles spricht dafür, dass VW im Zusammenhang mit dem neuen Werk auch die Arbeitsstandards senken, die Arbeit verdichten und Sozialabbau betreiben wird. Voraussichtlich wird auch ein neues Unternehmen gegründet, um die Sozialabbau-Ziele formell abzusichern.

Dient die soziale Schweinerei einem höheren Ziel, dem Klimaschutz? Mitnichten. Elektromobilität wird den Autowahn steigern – auch die das Klima belastenden Emissionen. Elektroautos gibt es, seit es Autos gibt, also seit mehr als 120 Jahren. Die strukturellen Nachteile von E-Pkw waren im Jahr 1900 dieselben wie 2021: Diese haben im Vergleich zu Verbrennern deutlich mehr Gewicht, deutlich weniger Reichweite und benötigen deutlich mehr Zeit fürs „Tanken“. Hinzu kommen die klassischen Nachteile, die für sämtliche Autos, gleichgültig, welchen Antriebsstrang sie haben, gelten: Im Vergleich zum nichtmotorisierten Verkehr und zum öffentlichen Verkehr gibt es beim Pkw-Verkehr den viermal größeren Flächenverbrauch, mehr als zehn Mal so viele Verkehrstote und bei hoher Pkw-Dichte im Stadtverkehr eine Geschwindigkeit, die der eines Fahrradfahrers entspricht. Eine große E-Pkw-Flotte hat im Vergleich zu einer Flotte mit Verbrenner-Pkw auch keine geringe ren CO2-Emissionen. Das diesen Autos aufgeklebte Zero-Emission-Vehicle-Etikett ist purer Schwindel.8

Gefragt, ob die neue Ampel-Regierung gegenüber China auf Partnerschaft oder auf Konfrontation setze, gab die neue Außenministerin Annalena Baerbock eine Antwort, die auch die Frage nach dem „Warum Elektromobilität?“ beantwortet: „Um globale Probleme zu lösen, müssen wir miteinander kooperieren. Etwas bei […] der Bekämpfung der Corona-Pandemie […] In anderen Bereichen sind wir Wettbewerber, gerade wenn es um die Frage von zukünftigen Technologieführerschaften geht. Als […] Teil eines transatlantischen demokratischen Bündnisses stehen wir in einem Systemwettbewerb mit einem autoritär geführten Regime wie China. Diesbezüglich gilt es, […] unsere […] Interessen zu verteidigen.“9

Von Winfried Wolf erschien zuletzt: Tempowahn – Vom Fetisch der Geschwindigkeit zur Notwendigkeit der Entschleunigung, Wien 2021, Promedia.

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Anmerkungen:

1 Spiegel 48/2021 vom 27.11.2021. Hervorgehoben von mir.

2 Marcus Jung und Tobias Piller, Gutachter: VW-Thermofenster ist rechtswidrig, in: FAZ vom 23.9.2021. Es geht um die „temperaturabhängige Abgasrückführung in Dieselmotoren“, die dazu führt, dass die zugesagte Abgasreduktion nur bei Temperaturen zwischen 15 und 33 Grad Celsius und nur bis zu einer Höhe von 1000 Metern funktioniert – ansonsten gibt es massiv höhere Abgas-Emissionen.

3 Hier nach: Thiemo Heeg, Straßen sind ein Zuschussgeschäft, in: FAZ vom 20.9.2021.

4 Klumpenrisiko China, in: Handelsblatt vom 1.10.2021.

5 Ausführlich siehe: Winfried Wolf, Mit dem Elektroauto in die Sackgasse, Wien, 3. Auflage 2020, Seite 41ff.

6 Interview in Bild am Sonntag vom 28.11.2021.

7 Tagesschau vom 10. November 2021.

8 Die maximale CO2-Reduktion, die mit einem E-Pkw über den Lebenszyklus hinweg im Vergleich zu einem gleich großen Verbrenner-Pkw erreicht wird, wird vom Umweltbundesamt mit 40 Prozent angegeben. Möglicherweise sind es im Jahr 2030 50 Prozent. Berücksichtigt man, dass bis zu 50 Prozent der E-Pkw Zweitwagen sind, dass auch 2030 der Strom zu einem erheblichen Teil aus fossilen Quellen kommt, dass die Herstellung der Batteriezellen mit einem enormen Ressourcenverbrauch (und Energieeinsatz) verbunden ist, dass bei der Entsorgung und bei der Bereitstellung der Ladeinfrastruktur erneut Energie eingesetzt werden muss, dann bleibt von der CO2-Reduktion nichts übrig. Bedenkt man schließlich, dass die aktuelle Verbrenner-Flotte rund 7,5 Liter auf 100 Kilometer verbraucht, dass es jedoch vor 20 Jahren Pkw-Modelle mit einem Spritverbrauch von 3 Litern gab (VW Lupo, VW Fox), dann schrumpft die gesamte E-Pkw-Saga zur Schmierenkomödie zusammen.

9 Interview, geführt von Jasmin Kalarickal, Felix Lee und Tobias Schulze, in: Taz vom 2.12.2021.

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Wichtige Links:
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Ein paar so interessante wie herausfordernde Artikel zur neuen Koalition:

 

Finanzpolitik unter Christian Lindner: Koalitionsvertrag ohne Preisschild

Die Ampel wird sich ums Geld streiten, denn da bleibt das Bündnis vage. Und FDP-Chef Lindner ist als Finanzminister eine komplette Fehlbesetzung.   taz,   29. 11. 2021 - Essay von Ulrike Herrmann

Wie lange hält die Ampel? Diese Frage beschäftigt nicht nur das Publikum, sondern auch die Koalitionäre. Der künftige Kanzler Scholz und FDP-Chef Lindner betonen stets, dass sie auf mehrere Amtszeiten zielen. Die Ampel soll kein Experiment sein, sondern eine strategische Option auf Dauer.

Das ist vernünftig. In den nächsten Landtagswahlen würden die Ampelparteien abgestraft, wenn die Bundesregierung wie eine chaotische Notlösung wirkte. Bleibt nur ein Problem: der Koalitionsvertrag. Er wird für sehr viel Ampelärger sorgen, obwohl es zunächst so scheint, als würde er halten, was der Titel „Mehr Fortschritt wagen“ verspricht. Unter anderem soll es mehr Ökostrom, mehr Bahn, mehr E-Autos, mehr Wohnungen, mehr Bafög und eine Grundsicherung für Kinder geben.

Doch leider fehlen die Preisschilder. Nirgends wird erwähnt, wie viel die einzelnen Maßnahmen kosten sollen. Das muss noch ausgefochten werden. In Wahrheit hat sich die Ampel gar nicht auf ein endgültiges Programm geeinigt – sondern den Streit nur verschoben. Im Text stehen Ziele, aber keine Wege. Unklar ist auch, wo das nötige Geld herkommen soll. Natürlich finden sich Andeutungen im Text, aber sie sind zwischen den Zeilen versteckt und meist allein für Finanzexperten verständlich. Die Ampel verkündet permanent, dass sie miteinander „auf Augenhöhe“ regieren will, aber die WählerInnen sind von diesem Versprechen ausgeschlossen.

Da Preisschilder fehlen, ist es einfach, Unwahrheiten zu verbreiten. Eine erste Kostprobe gab Lindner gleich beim Start ab, als er bei der Präsentation des Koalitionsvertrags seine Sicht darlegte: Ziel sei es, „die breite Mitte zu entlasten“. Das ist Unsinn. Die „Mitte“ kommt in dem Papier nirgends vor und wird auch nicht profitieren. Stattdessen werden vor allem die Unternehmer entlastet, die ihre Steuerlast drücken können und damit Milliarden geschenkt bekommen.

Für die Firmen gibt es 2022 und 2023 eine „Superabschreibung“, wenn sie in „Klimaschutz“ oder „digitale Wirtschaftsgüter“ investieren. Beide Begriffe sind so dehnbar, dass es den Betrieben nicht schwerfallen wird, fast alle Anschaffungen abzusetzen.

Für die Liberalen kann das Finanzministerium noch gefährlich werden

Die FDP hat also „geliefert“ und ihre Klientel bedient. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) schätzt, dass dieses Geschenk bis zu 40 Milliarden Euro kosten könnte.

Eine Gegenfinanzierung gibt es nicht. Die FDP hat Steuererhöhungen strikt ausgeschlossen und dies auch durchgesetzt. SPD und Grüne wollten eigentlich eine Vermögenssteuer von 1 Prozent einführen sowie die Spitzensätze bei der Einkommenssteuer erhöhen, um die unteren Schichten zu entlasten. Davon ist nichts übrig. Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass Steuererhöhungen sowieso unmöglich gewesen wären, weil der Bundesrat zustimmen muss – wo die Union eine Vetomacht hat.

Wenn aber Steuererhöhungen von vornherein ausgeschlossen sind, ist es von Grünen und SPD erst recht fahrlässig, die Unternehmen mit Milliardengeschenken zu beglücken. Dieses Geld wird für andere Ampelprojekte schmerzhaft fehlen. Zunächst wirkt es kurios, dass die FDP ihre Klientel beschenkt, ohne eine Gegenfinanzierung zu bieten. Denn die Liberalen gerieren sich stets als Hüter der Schuldenbremse, die für eine schwarze Null sorgen. Als der Koalitionsvertrag vorgestellt wurde, pries sich Lindner hemmungslos als „Anwalt solider Finanzen“. Das war die zweite Lüge. Der FDP sind ausgeglichene Haushalte egal, solange die Reichen beschenkt werden.

Während also die Einnahmen durch Steuergeschenke sinken, sollen die Staatsausgaben deutlich steigen. Das geplante „Jahrzehnt der Investitionen“ (Scholz) wird nämlich sehr teuer, wie die Ampel selbst zugibt. Wo das Geld herkommt, wollte Grünen-Chef Habeck lieber nicht erläutern, als das Papier vorgestellt wurde. Knapp sagte er nur: „Wir wissen genau, wie wir es bezahlen.“

Unklare Finanzierung

Zwischen den Zeilen wird deutlich, dass die Ampel vor allem auf vier Tricks setzt, um die nötigen Milliarden herbeizuschaufeln. Erstens: Die Coronaschulden von derzeit 371 Milliarden Euro werden nicht bis 2042 getilgt, wie es die Schuldenbremse bisher vorsah. Stattdessen wird der Zeitraum bis 2058 gestreckt. Pro Jahr muss also deutlich weniger zurückgezahlt werden.

Zweitens: Im Jahr 2021 wurden nicht alle Coronakredite aufgebraucht, sodass die restlichen Milliarden nun in einen „Klima- und Transaktionsfonds“ fließen. Nächstes Jahr soll dieser Trick wiederholt werden – indem die Ampel wegen der Pandemie auch für 2022 eine „außergewöhnliche Notsituation“ ausruft. Diese Milliarden könnten dann erneut zum Teil in den Klimaschutz fließen.

Drittens: Die Kriterien der Schuldenbremse werden verändert, damit der Staat auch im regulären Betrieb mehr Kredite aufnehmen kann. Die Details sind aber zu kompliziert, um sie hier zu erklären.

Viertens: Es entstehen Schattenhaushalte. Nicht der Staat nimmt die Kredite auf, sondern öffentliche Unternehmen verschulden sich, um zu investieren. Ein gutes Beispiel ist die Deutsche Bahn: Bis 2030 soll sie doppelt so viele Personen befördern wie heute und nach einem „Deutschlandtakt“ fahren, was für die wichtigsten Verbindungen einen Zug pro halbe Stunde bedeutet. Gleichzeitig sollen mehr Städte einen ICE-Anschluss erhalten und diverse Strecken neu eröffnet werden. Diese Ziele sind alle richtig – und kosten Milliarden. Also soll sich die Bahn verschulden.

Kredite sind auch nötig, um die geplanten 100.000 öffentlich geförderten Wohnungen pro Jahr zu bauen. Diese Schulden sollen unter anderem bei der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben landen.

Signal an die FDP-Basis

Ähnlich dürfte es bei den Ladestationen für E-Autos laufen. Derzeit gibt es in Deutschland knapp 50.000 Ladesäulen, wie die Bundesnetzagentur meldet. Es werden aber eine Million davon gebraucht, wenn bis 2030 etwa 15 Millionen E-Autos auf den Straßen rollen sollen. Die nötigen Ladesäulen werden jedoch kaum privat entstehen, weil sich ein Henne-Ei-Problem ergibt: Ladesäulen lohnen sich nur, wenn dort E-Autos tanken. E-Autos werden aber nur gekauft, wenn die Ladesäulen schon existieren. Also dürfte mal wieder der Staat einspringen und Ladesäulen errichten – mit einem eigenen Unternehmen.

Diese Schattenhaushalte machen viele Liberale nervös, die dem Staat misstrauen und eine Lizenz zum Gelddrucken wittern. Daher war es folgerichtig, dass Christian Lindner unbedingt Finanzminister werden wollte. Er muss seiner Basis signalisieren, dass er die Ausgaben kontrolliert. Schon vor der Wahl zog er „rote Linien“ und kündigte an, dass er „öfter Nein sagen“ werde, wenn SPD und Grüne mit ihren Wünschen kommen.

Konflikte sind also programmiert – zumal ja die Preisschilder fehlen. Als Finanzminister wäre ein leiser Stratege und Moderator gefragt, doch Lindner hat einen starken Geltungsdrang und neigt zum Autoritären. Außerdem ist er schnell gekränkt, wenn sein Image leidet. Die Persiflage „Alle 11 Sekunden verliebt sich ein Liberaler in sich selbst“ des NDR-Satiremagazins Extra 3 war ja nur deswegen so lustig, weil sie absolut zutrifft. Dieses enorme Selbstbewusstsein ist aber nicht durch irgendeine Regierungserfahrung gestützt. Lindner war noch nie Minister. Damit diese fehlende Kompetenz nicht auffällt, dürfte er noch mehr „rote Linien“ ziehen.

Für die Ampel ist es zudem eine Bürde, dass Lindner aus Nordrhein-Westfalen stammt. Denn die NRW-Liberalen haben allesamt den Eindruck, dass Koalitionen stets so funktionieren, wie sie es unter Armin Laschet erlebt haben, der ab 2017 in Düsseldorf regiert hat und dann 2021 als CDU-Kanzlerkandidat gescheitert ist. In NRW hatte Laschet kaum eigene Pläne, sondern machte gern, was die FDP vorschlug. Laschet wollte nicht so sehr regieren, sondern auch feiern. In der Sendung „Maischberger“ hat er kürzlich erzählt, was er als Ministerpräsident so schön fand: „Man ist Regierungschef eines großen Landes, aber man ist auch Repräsentant dieses Landes, trifft sehr viele Menschen im Ehrenamt, hat viele festliche Ereignisse, wo der Ministerpräsident gefragt ist.“

Lindner macht sich angreifbar

Laschets Gute-Laune-Programm hat bei der FDP den Eindruck hinterlassen, dass Regieren heißt, dass die Liberalen zu 100 Prozent bestimmen – obwohl sie bei der Bundestagswahl nur 11,5 Prozent erzielten. Dieses autoritäre Gehabe erzeugt bei vielen Wählern momentan den Eindruck, dass sich die Liberalen beim Ampelvertrag durchgesetzt hätten.

Für die Liberalen kann es jedoch gefährlich werden, dass Lindner so unbedingt Finanzminister werden wollte. Das Amt ist heikel. Selbst ein gewiefter Politiker wie Olaf Scholz kam mehrfach in Bedrängnis, weil nicht zu überblicken ist, was in den nachgeordneten Behörden schiefläuft. Besonders krisenanfällig ist die Bankenaufsicht Bafin, die unter anderem beim Wirecard-Skandal durchgängig gepennt hat. Schwierig ist auch der Zoll, weil er nebenher für Schwarzarbeit und Geldwäsche zuständig ist. Die Steuerkriminalität ist ebenfalls ein Problem, über das ein Finanzminister eventuell stolpern kann. Es wirkt gewagt, dass sich Regierungsneuling Lindner dieses Amt zumutet.

Für den neuen Finanzminister könnte auch gefährlich werden, dass er ausgerechnet Scholz beerbt, der das Haus fest im Griff hatte. Durch diese langjährigen Kontakte wird Scholz auch als Kanzler bestens informiert sein, was im Finanzministerium passiert – und was schiefläuft. Das macht Lindner angreifbar und erpressbar.

Aber vielleicht lernt Lindner ja dazu und verzichtet künftig darauf, ständig rote Linien zu formulieren. Dann kann die Ampel halten.


 

 

Eine kurze Einschätzung zu wenigen Themen, zu denen wir arbeiten:

 

 

Um es mit Ringelnatz zu sagen: „Sicher ist, dass nichts sicher ist. Selbst das nicht.“
Ein deutliches Zeichen für einen sozial-ökologischen Welthandel und damit gegen die neoliberale Handelsagenda wird verpasst. 
Dennoch bleibt an vielen Stellen Spielraum zu wichtigen Entscheidungen. Vor allem auf die Auslegung und Umsetzung wird es ankommen.

CETA: „Die Entscheidung über die Ratifizierung des (…) CETA treffen wir nach Abschluss der Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht.“
Es hätte schlimmer kommen können. Das haben wir verhindert. Und doch hat sich die Ampel nur Zeit gekauft. Jetzt heißt es: Dran bleiben!

 

ECT: „Wir setzen uns für eine Reform des Energiecharta-Vertrages ein.“ Damit bleibt der Koalitionsvertrag weit hinter unseren Erwartungen zurück. Warum die Modernisierung bereits gescheitert ist, habe ich Anfang des Jahres aufgeschrieben: http://www.umweltinstitut.org/aktuelle-meldungen/meldungen/2021/klima/das-ende-des-anti-klimaschutzvertrags-steht-bevor.html  Gemeinsam beenden wir noch den Energiecharta-Vertrag!

 

EU-MERCOSUR: „Wir setzen uns dann für die Ratifizierung des Mercosur-Abkommens ein, wenn zuvor von Seiten der Partnerländer umsetzbare und überprüfbare, rechtliche verbindliche Verpflichtungen zum Umwelt-, Sozial- und Menschenrechtsschutz eingegangen werden und praktisch durchsetzbare Zusatzvereinbarungen zum Schutz und Erhalt bestehender Waldflächen abgeschlossen worden sind.“ >Damit wird das Abkommen erstmal nicht ratifiziert!

 

Investitionsschutz: „Wir setzen uns für Investitionsabkommen ein, die den Investitionsschutz für Unternehmen im Ausland auf direkte Enteignungen und Diskriminierungen konzentrieren und wollen die missbräuchliche Anwendung des Instruments – auch bei den noch ausstehenden Abkommen – verhindern.“
> Hier wird es im Wesentlichen auf die Umsetzung ankommen. Streng genommen kann z.B. CETA damit nicht ratifiziert werden. Dennoch fordern wir: Es darf überhaupt keine exklusiven Sonderklagerechte für Konzerne geben. Weder wegen direkter, noch indirekter Enteignung!

 

Lieferkettengesetz: „Wir unterstützen ein wirksames EU-Lieferkettengesetz, basierend auf den UN-Leitprinzipien Wirtschaft und Menschenrechte, das kleinere und mittlere Unternehmen nicht überfordert. Das Gesetz über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten in Lieferketten wird unverändert umgesetzt und gegebenenfalls verbessert. Wir unterstützen den Vorschlag der EU-Kommission zum Gesetz für entwaldungsfreie Lieferketten. Wir unterstützen das von der EU vorgeschlagene Importverbot von Produkten aus Zwangsarbeit.​“ >Damit lässt sich arbeiten!

 

Das Kapitel Rohstoffe, Lieferketten und Freihandelist vor allem auch ein Arbeitsauftrag an uns, dranzubleiben. Es hat gezeigt: Gemeinsam können wir einiges erreichen. Wichtige Entscheidungen werden noch ausstehen und erfordern von uns vollen Einsatz!

 

Ludwig, Koordinator "Netzwerk gerechter Welthandel"

 


 

Marktliberale auf dem Vormarsch

 

Mario Candeias kritisiert, dass es den Koalitionären bislang an einem gemeinsamen Projekt fehlt.

 

  • Von Mario Candeias -  nd,

 

Am Dienstag wurde der Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP unterzeichnet. Am Mittwoch wird Olaf Scholz (SPD) aller Wahrscheinlichkeit nach zum Bundeskanzler gewählt. Doch die Ampelkoalitionäre haben ein Problem: Sie haben kein gemeinsames Projekt. Ein Projekt, welches zugleich einen neuen gesellschaftlichen Konsens stiftet und zugleich ausreichend neue Profitaussichten für das Kapital mit sich bringt. Zu widersprüchlich sind die in der Ampel repräsentierten Interessen.

 

Es wird deutlich mehr Klimapolitik geben als unter Angela Merkel, immerhin. Da das alles der auf Wachstum und Profit ausgerichteten Wirtschaft nicht allzu sehr schaden darf, wird der rot-grün-gelbe Klimaschutz sehr moderat bleiben, also notwendig viele Grünen-Wähler*innen vergrätzen.

 

Zur Person: Mario Candeias ist Direktor des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Ähnlich sieht es bei den sozialen Themen aus. Die SPD wird Signalreformen wie die Erhöhung des Mindestlohns umsetzen, aber durch die FDP stets bei weitergehenden Regulierungen gebremst werden. Das sogenannte Bürgergeld, bisher nur ein ideologischer Wortschleier, weil Hartz IV abgenutzt klingt, kommt. Sanktionsfreiheit oder mehr Geld für Langzeitarbeitslose? Fehlanzeige. Höheres Rentenniveau, Mietenmoratorium, Reregulierung der Arbeit, Bürgerversicherung - also zentrale sozialen Punkte, die SPD und Grüne in die Verhandlungen einbringen wollten - sind auf unbestimmt vertagt.

Die FDP hat kaum eigene Punkte; sie tritt vielmehr als Wächterin auf. Die Liberalen sind die eigentliche Verbotspartei: kein Tempolimit, keine Steuererhöhung, kein erneuerter Sozialstaat, nicht zu viel Klimapolitik, keine Einschränkung unternehmerischer Freiheiten. Nein, nein und nochmals nein. Ziele von SPD und Grünen lassen sich mit dieser Partei nur begrenzt umsetzen. Schlimmer noch: Mit der FDP bekommen die Marktliberalen in SPD und Grünen stärkeres Gewicht - nicht nur bei der Klimapolitik, sondern besonders bei der Rückkehr alter Ladenhüter wie der kapitalgedeckten Rente oder verstärktem Wettbewerb bei der Bahn. Auch eine Kapitaloffensive im Gesundheitssystem oder in der Wohnungspolitik steht zu befürchten.

 

Die neue Regierung wird die anstehenden gesellschaftlichen Herausforderungen nur halbherzig anpacken. Anders als in den USA gibt es keine Debatte über massive Investitionsprogramme in den ökologischen Umbau und die Rekonstruktion einer sozialen Infrastruktur. Ohne Aussetzung der Schuldenbremse und vor allem ohne Umverteilung lassen sich die Folgen der Pandemie und die notwendigen Investitionen nicht finanzieren. Es wird also eine verschärfte Zeit der Verteilungskämpfe geben. Dabei werden die Befürworter*innen einer sozial-ökologischen Politik insgesamt geschwächt. Insbesondere für (Industrie-)Gewerkschaften gibt es jetzt einen direkten Ansprechpartner im Kanzleramt und neuerdings bei den Grünen. Sie nutzen die bewährten Kanäle für den Umbau in sozialpartnerschaftlicher Routine mit Konzernen und Regierung. Das gleiche gilt für Teile der Umweltverbände und -bewegungen, die intensives Lobbying bei den Grünen betreiben werden. Gewerkschaften, die weniger profitieren (Sozial- und Erziehungsdienste, Pflege, Bildung, Handel und Lebensmittelindustrie), prekär Beschäftigte, aber auch viele Angestellte in der Industrie und radikalere Teile der Klimabewegung: Sie alle könnten in kurzer Zeit von der Ampel-Koalition enttäuscht werden.

Wenn die SPD keine neue »Agenda 2030« aufsetzt, symbolisiert sie mit ihrem Kanzler und der Signalreform Mindestlohn sowie zwei bis drei weiteren kleinen Verbesserungen den Spatz in der Hand, der vielen lieber ist als die Taube auf dem Dach. Die Grünen werden in der neuen Regierungskonstellation am meisten Verluste verzeichnen, weil ihre Wählerklientel am meisten erwartet. Bei der FDP ist es unklar, ob ihre Rolle als Wächterin ausreichen wird, um ihr dauerhaft Zustimmung zu sichern, wenn es der CDU gelingt sich freizuspielen.

 

Insgesamt bleiben große Spielräume für die einzige Opposition links der Regierung, wenn, ja wenn sie diese Chance zu nutzen weiß. Da gibt es keinen Automatismus, aber eine reale Möglichkeit, wieder auf die Beine zu kommen.

 


 

Das flexible Akkumulationsregime des gegenwärtigen Weltkapitalismus funktioniert über globale Lieferketten. Fällt ein Glied aus, gerät der Prozess der Produktion und Zirkulation ins Stocken.

Marco Schröder, jW, 31.10.2021

Als am 23. März dieses Jahres das gigantische Containerschiff »Ever Given« im Suezkanal auf Grund lief, sich schräg stellte und damit die Schiffahrtsrinne sechs Tage lang blockierte, waren die Folgen für die Weltwirtschaft enorm. Zwölf Prozent des gegenwärtigen internationalen Warenverkehrs passieren den Kanal. Der wirtschaftliche Schaden belief sich täglich auf rund zehn Milliarden Dollar.

Der Vorgang zeigte unmissverständlich an, wie verwundbar das System der internationalen Lieferketten ist, wie sehr deren reibungsloses Funktionieren unter anderem davon abhängt, dass das Nadelöhr Suezkanal nicht verstopft. Ein Verständnis des gegenwärtigen Kapitalismus ist ohne eine Analyse der globalen Lieferketten nicht zu haben. Dabei folgt die internationalisierte Produktion, global integriert und netzwerkartig strukturiert, gar nicht so sehr einem linearen Verlauf, wie es das Bild von der Kette nahelegt.

Mangel an Überfluss

Mitte Oktober lagen weltweit etwa 600 Containerschiffe vor großen Häfen wie Hamburg, Antwerpen, Rotterdam, Shanghai und Shenzhen, da sie aufgrund der Überlastung der Hafenanlagen nicht anlegen und ihre Fracht löschen konnten. Vor dem Hafen von Long Beach beispielsweise, der größten Im- und Exportschnittstelle der USA, bildeten sich lange Schlangen von Lastwagen. Derzeit sieht es danach aus, als könnten die akuten Unterbrechungen der globalen Lieferketten bis ins nächste Jahr andauern, vor allem weil die Delta-Variante des Coronavirus in Asien weiterhin zu Fabrikschließungen führt. So hat die chinesische Regierung, die eine konsequente Zero-Covid-Politik betreibt, den drittgrößten Containerhafen der Welt, den Hafen von Ningbo, im August teilweise stillgelegt, da das Virus bei einem Hafenarbeiter festgestellt worden war.

Die Stockungen im globalen Warenfluss wirken sich weltweit ganz erheblich auf die Preisentwicklung zahlreicher Güter aus. Lebensmittel, Rohstoffe und andere Handelswaren hatten sich zu Beginn des Jahres bereits verteuert. Aktuell steigen die Warenpreise ebenso wie auch die Frachtkosten weiter. Wie die Financial Times Mitte Oktober schrieb, hat sich der Preis für das Verschiffen eines Containers aus Asien nach Europa diesen September im Vergleich zum Mai des vergangenen Jahres verzehnfacht.

Laut dem Vorstand von DP World, einem der größten Containerhafenbetreiber weltweit, ist »die westliche Welt« in zu hohem Maße abhängig von der verarbeitenden Industrie in China. Importabhängige Länder wie die USA und Großbritannien leiden momentan unter einem Mangel an Kraftfahrern und Hafenarbeitern. In den USA sollen unter Dockarbeitern bereits 24-Stunden-Schichten an der Tagesordnung sein. Den größten US-amerikanischen Logistik- und Frachtunternehmen wie UPS und Fedex fehlt es schlicht an Arbeitskräften. Die US-Regierung hat bereits eine Sonderkommission eingerichtet, um das Lieferkettenproblem in den Griff zu bekommen.

Die Lieferausfälle beruhen darauf, dass das System der internationalen Taktung und Synchronisation der Transportwege infolge der Pandemie jäh außer Tritt geraten ist. Die Erklärung von Marktwirtschaftsgläubigen, wonach eine plötzlich steigende Nachfrage (im Westen) der Grund für die jetzige »Lieferkettenkrise« sei, ist, wenn an ihr überhaupt etwas dran sein sollte, zumindest mit Vorsicht zu genießen.

Ähnlich wie in der Finanzindustrie hat die »Diversifikation«, das heißt hier die Verteilung oder Streuung der Lieferketten auf verschiedene globale Regionen und Produktionszweige, zusammen mit der Öffnung der Märkte zu einer Konzentration auf bestimmte Knotenpunkte geführt. Elektronische Halbleiter, Lebensmitteldünger, Autoteile etc. werden über jene Lieferkette transportiert, über die sie am günstigsten – und das heißt auch: am schnellsten – von A nach B verbracht werden. Das bedeutet zwar flexiblere Verfügung über Produktion und Transport, erhöht aber die Anfälligkeit: der Ausfall eines Elements, die Verteuerung von Öl, von Transportcontainern, ein fehlendes Bauteil, gesteigerter Arbeitsaufwand in einer Fertigungsanlage, die Verspätung eines Schiffes etc. können für einen Kurzschluss sorgen, der sich unmittelbar auf die Lieferketten anderer Produktionszweige auswirkt. Sollten bestimmte Kostenfaktoren einer Lieferkette (Treibstoff, Container, Arbeitskräfte) steigen, lohnt sich womöglich die Investition in diesen Handelszweig schlicht nicht mehr. Die Lieferkette muss sich neu zusammensetzen oder entfällt ganz einfach. Die vielbeschworenen Preissignale des Marktes entfalten hier ihr destruktives Potential. Die eng getaktete Just-in-time-Produktion reduziert zwar drastisch die Kosten der Warenlagerung, doch wenn auch nur ein einzelnes Glied in diesem Prozess von Produktion und Transport ausfällt, hat das Rückwirkungen auf alle weiteren Glieder der Kette.

Logistische Revolution

Das, was bisweilen als logistische Revolution bezeichnet wird, zeichnet sich vor allem durch die Entwicklung des Containersystems und der Containerschiffahrt aus, die sich in den 1960er Jahren etablierte. Ähnlich wie die Logistik selbst ihren Ursprung in der militärischen Planung der Napoleonischen Kriege hatte, war die Planung und Organisation des Vietnamkriegs durch die US-Armee ein erstes Testfeld für standardisierte Container. Die Idee, Verladezeit und Löschungskosten mit Hilfe von großen Containern zu reduzieren, geht auf den US-Amerikaner Malcolm P. McLean zurück. Das erste Containerschiff, die »Ideal X«, ein umgebauter Öltanker, wurde von McLeans Reederei 1956 auf die Fahrt von Newark nach Texas geschickt. Obwohl es in Europa bereits vor dem zweiten Weltkrieg standardisierte Transportcontainer gegeben hatte, setzten sie sich erst nach Beginn des Vietnamkriegs durch.

Die internationale Standardisierung der Container ermöglichte den Transport unter Nutzung und Verbindung verschiedener Maschinen – von Schiffen, Kränen und Güterzügen – und setzt der zeitaufwendigen Arbeit des manuellen Verladens einzelner Gütern ein Ende. Die Maße des Standardcontainers – etwa sechs Meter lang und rund zweieinhalb Meter breit wie hoch – wurden unter der Bezeichnung »Twenty Foot Equivalent Unit« (TEU) zur internationalen Maßeinheit für Frachtvolumen. Ein solcher Container fasst ein Gewicht von bis zu 21 Tonnen. Aktuell werden zwischen 80 und 90 Prozent des globalen Warenverkehrs über die Containerschiffahrt abgewickelt.

Der rasante Ausbau der Frachtschiffindustrie in den vergangenen zehn Jahren, der in der Vergrößerung der Häfen weltweit und im irrationalen »Wettrüsten« der Frachtunternehmen, das größte Schiff mit der höchsten Kapazität zu bauen, zum Ausdruck kommt, ist der Grund für erhebliche Überkapazitäten. Symptomatisch drückt sich diese Hybris des Wachstums etwa im »Logistics Performance Index« der Weltbank aus. Dieser profitgetriebene Wettlauf hat nun nicht nur zu wiederkehrenden Transportunfällen geführt, sondern auch dazu, dass die Kolosse ihren Frachtraum häufig gar nicht voll beladen konnten – kurz, es gab mehr Schiffe als zu transportierende Güter. Nach Angaben der US-amerikanischen Politikwissenschaftlerin Charmaine Chua lagen im November 2016 ganze 263 Frachtschiffe mit einem vakanten Frachtvolumen von 934.000 TEU unbeladen vor Anker – zu diesem Zeitpunkt waren das etwa fünf Prozent der globalen Flotte. Im gleichen Jahr meldete Hanjin, das damals größte Frachtcontainerunternehmen Südkoreas, aufgrund von Überkapazitäten seiner Flotte Konkurs an. 90 Schiffe, 540.000 Container und Güter im Wert von 14 Milliarden US-Dollar blieben monatelang unbewegt, 3.000 Seeleute hatten keine Beschäftigung und kein Auskommen.

Die gigantische »Ever Given« mit ihrer Transportkapazität von 20.124 TEU, die im März den Suezkanal blockierte, ist in mehrfacher Hinsicht ein Sinnbild für das globale Ausmaß der Lieferketten: Eigentum einer japanischen Leasingfirma, die sich wiederum im Besitz der größten japanischen Werft befindet, registriert in Panama, betrieben von einer taiwanischen Reederei, bereedert von einem deutschen Management und besetzt mit einer indischen Crew. Der Koloss ist das Produkt einer Eigendynamik, immer größere Containerschiffe zu bauen, um, angefacht von der Konkurrenz der Unternehmen, den Umschlag der Waren weiter zu beschleunigen. Seit Beginn der 1970er Jahre sind die Frachtkapazitäten um das Fünfzehnfache gestiegen. 2013 hielt ein »Triple E«-Schiff der Reederei Maersk den Rekord von 18.000 TEU, während das Unternehmen heute Frachtschiffe mit einer Kapazität von 20.000 TEU unterhält. Die französische Schiffahrtsgesellschaft CMA CGM hat bereits Verträge über den Bau von Schiffen mit einer Last von 23.000 TEU abgeschlossen.

Die Erklärung dieser Gigantomanie findet sich in der Spekulation auf fortwährendes Wachstum, das dem Kapitalismus gleichsam als Naturgesetz eingeschrieben ist. Der Warenverkehr muss wachsen, alles andere wäre dem Profit abträglich. Schiffahrtsunternehmen sind Teil von Investitionsstrategien und der internationalen Finanzspekulation; Häfen sind als Infrastrukturinvestitionen genau wie Schiffe und Frachtraten interessante Objekte für den kredit- und schuldenbasierten Finanzmarktkapitalismus geworden. Das eröffnet breite Spekulationsmöglichkeiten auf Lieferzeiten, Transportrouten, Lebensmittelpreise, das Wetter etc.

Auch wenn es angesichts der aktuellen weltweiten Lieferengpässe kontraintuitiv erscheint – das exorbitante Wachstum der Containerschiffahrt und ihrer Kapazitäten war eben keine Reaktion auf eine wachsende Nachfrage, die Triebfeder war vielmehr, die Waren schneller zu befördern. Der Fall der Profitrate im Westen wurde mit den sich bietenden Möglichkeiten der Containerschiffahrt und einer damit gegebenen Verkürzung der Umschlagzeit »geographisch« pariert, wie Liam Campling und Alejandro Colás in ihrem Buch »Capitalism and the Sea: The Maritime Factor in the Making of the Modern World« schreiben. Durch die logistische Organisation und die Vergünstigung im globalen Frachtwesen konnten Firmen ihre Fabriken in den globalen Süden transferieren, schneller Material transportieren, den Lagerbestand drastisch reduzieren und vor allem in kürzerer Zeit den (schuldenbasierten) Konsum im globalen Westen bedienen. Die Erhöhung der Frequenz im globalen Warenhandel ermöglichte neue Wege der Akkumulation und der Just-in-time-Produktion, die im wesentlichen auf logistischen Entwicklungen der Schiffahrt beruhen.

Just in time

Die sogenannte Just-in-time-Produktion wurde bereits in den 1970ern von Toyota als Teil des Toyota Production System (TPS), einer holistischen Managementtheorie, entwickelt und in der Autoherstellung angewandt. Im Westen feierte man die Neuerungen im Produktionsmanagement als revolutionäre neue Praxis und Philosophie und übertrug sie, oftmals in rudimentärer Form, auf die eigenen Produktionsabläufe.

Angestrebt wird mit dem TPS eine effiziente und nach rationalen Kriterien operierende Gestaltung der Produktion. Dabei werden die Fertigungszyklen genau gemessen, um Lagerbestände zu vermeiden, In- und Output einer Fertigungsanlage synchronisiert, Bauteile erst dann bestellt, wenn auch das zu erzeugende Produkt in Auftrag gegeben wurde. Idealerweise kommen Lagerbestände so gar nicht erst auf, die Produktion soll sich möglichst eng mit der Zulieferung verzahnen. Das macht die Just-in-time-Produktion in hohem Grade abhängig von zuverlässigen Lieferketten und zugleich sehr anfällig, wenn letztere unterbrochen werden. Schon 1997 ging Toyota beinahe bankrott, als ein Feuer in der Fertigungsanlage eines Röhrenzulieferers die gesamte Produktion des Autobauers mehrere Tage lahmlegte.

Der US-Publizist Jasper Bernes beschreibt die Abläufe der Just-in-time-Produktion als eine paradox anmutende »Zeitreise«, insofern sie scheinbar dafür sorge, dass nur Produkte hergestellt werden, die bereits vorher an den Endverbraucher verkauft worden sind.¹ Produktions- und Lagermanagement sind über effiziente Informationsverarbeitung direkt mit der Distribution, den Einzelhändlern und deren Angebot verschaltet. Innerhalb dieses Paradigmas werden die Informationen sofort an das Produktionssystems rückübertragen. Die Produktion wird Teil der Zirkulation und umgekehrt.

Mit dem Ende des klassischen Fordismus im Westen und der keynesianistischen Organisation des Kapitalismus bildete sich etwa ab 1973 eine globale Organisation der Produktion heraus, deren Kennzeichen unter anderem eine Dezentralisierung der Produktion (Outsourcing) ist und die den Produzenten, etwa transnationalen Konzernen, ermöglicht, Ressourcen und Produktionskreisläufe so zu konfigurieren, dass sich die Kosten der Produktion verringern. Das liegt zum einen an der technischen Entwicklung auf der Ebene der Produktion, aber auch an den Kommunikationsmedien, die Logistik und Transport entscheidend geprägt haben.

Just-in-time-Produktion verlangte aber neben technischer Infrastruktur und den Transportmitteln noch etwas anderes. Anders als oft dargestellt, ist der sogenannte Neoliberalismus weniger durch ein Verschwinden des Staates geprägt als vielmehr durch eine andere Form staatlicher Lenkung und Durchsetzung des Marktes im In- und Ausland. Staatliche Akteure schaffen erst die rechtlichen Rahmenbedingungen für neue Akkumulationsregime. Die Industriestaaten öffneten so dem international operierenden Kapital mittels Handelsverträgen und internationalen Abkommen die Märkte des globalen Südens. Mit der politischen und ökonomischen Dominanz der Staaten des Nordens gestaltete das so mobilisierte Kapital die Produktion im globalen Süden gemäß den Bedürfnissen ihrer Lieferketten.

Flexibel und gelenkt

Staatlich vereinbarte Freihandelsverträge wiederum erfüllten eine weitere Voraussetzung für das System der internationalen Lieferketten: den weltweiten Zugriff auf Arbeit und deren flexible Organisation und Kontrolle – in den Worten von David Harvey »ein flexibles Akkumulationsregime«, dessen Ziel es ist, den Kapitalertrag mit Hilfe einer geographischen Reorganisation der Produktion zu steigern (»The Condition of Postmodernity«, 1990). Als Beispiel zur Veranschaulichung des neuen Produktionsparadigmas wählte Harvey die Firma United Colors of Benetton. Ein T-Shirt wird in China genäht, um dann in Indien gefärbt zu werden, während das Design in New York entwickelt und die Werbung von einem Büro in London entworfen wird, die Steuern wiederum in Irland abgerechnet werden. Das Beispiel United Colors of Benetton zeigt die Flexibilität moderner Unternehmen indes nicht nur in der Art und Weise der Produktion, sondern auch dahingehend, dass es auf das je spezifische Produkt gar nicht so sehr ankommt. Vermöge der weltweiten Verfügung über Arbeitsmärkte, Technik und Ressourcen kann schnell ein neues Produkt entworfen, können Produktionszweige abgestoßen und neue Absatzmärkte (nicht nur im Westen) erschlossen werden. In Windeseile lässt sich ein komplett neues Geschäftsmodell etablieren, ohne an eine schwerfällige materielle Infrastruktur gebunden zu sein, da die Fabriken und andere Produktionsstätten überhaupt nicht mehr fester Bestandteil des Unternehmens sind.

Welche Waren entlang der Lieferketten befördert werden, ist zweitrangig. Der Vizepräsident von Nike Asia erklärte einmal, dass er und sein Team gar keine Ahnung von Textilherstellung hätten, sie seien Designer und Marketingexperten. Vom Wichtigsten spricht der Manager des Sportartikelherstellers allerdings nicht: günstige Produktionsverträge in Asien, kurz, die Institutionalisierung von Sweatshops.

Man könnte in bezug auf die Lieferketten beinahe von einer globalen Trennung geistiger und körperlicher Arbeit sprechen: Organisiert werden sie oft von einem eigens beauftragten Unternehmen bis hin zur Produktion und Herstellung (»Tangibles«), während die Firma selbst sich vor allem um Marketing, Design und das Brand Development kümmert (»Intangibles«), was für die Wertschöpfung auf den westlichen Märkten eine ungeheure Bedeutung bekommen hat. Die wichtigsten Funktionen innerhalb der Lieferkette sind durch den Käufer bestimmt, während kleinere Firmen und Unternehmen, die Teile von ihr sind, nur begrenzte Möglichkeiten haben »aufzusteigen«. Sie bilden nur einen modularen Bestandteil der Lieferkette, stehen in Konkurrenzdruck zu anderen Firmen und sind dementsprechend auch leicht zu ersetzen.

Ungefähr ein Drittel des Welthandels erfolgt »intra-firm«, d. h. der Handel findet zwischen Firmen und Händlern statt, die einem führenden Unternehmen untergeordnet sind, das die Entscheidungen über materielle, finanzielle und »menschliche« Ressourcen in großen Teilen in der Hand hat. Die Untersuchung der Wertschöpfung entlang internationaler Lieferketten (»Global Value Chains«, GVC) macht daher deutlich, dass die Rede von den freien Märkten bloß strategische und ideologische Funktion hat. Globale Produktion und globaler Handel werden größtenteils von wenigen westlichen Unternehmen gelenkt und organisiert. Der Profit bewegt sich in diesem Gefälle ganz klar in eine Richtung: nach Norden. Das leitende Unternehmen zieht seinen Nutzen aus lokalen Wettbewerbsvorteilen, Produktionsfortschritten und Effizienzsteigerungen seiner Anbieter in den Entwicklungsländern. Die Entwicklung der sogenannten New Industrializing Countries (NIC) vor allem in Asien und Südamerika erklärt sich gewissermaßen umgekehrt proportional zur Deindustrialisierung des Westens.

Schrankenlose Konkurrenz

Wer schafft nun den globalen Reichtum in den Sweatshops der Niedriglohnländer? Im Grunde gilt für das weltumspannende flexible Akkumulationsregime der Lieferketten, was Karl Marx zur »sogenannten ursprünglichen Akkumulation« dargestellt hat: Es bedarf einer »Landnahme«, das Eigentumsverhältnis muss kapitalkonform zugerichtet, die Produktion Teil der Zirkulation und die Arbeiterklasse, Quelle des abstrakten Reichtums, überhaupt erst »gemacht« werden.
Die globale Warenwirtschaft hat mit dem Aufkommen der »Globalisierung« eine Gleichzeitigkeit von historischen Formen der Ausbeutung geschaffen. Ob Manufakturen und Fabrikhallen in Asien, die an den frühen britischen Kapitalismus mit seinen Arbeitshäusern erinnern, die informellen, patriarchalen Formen von Arbeit, etwa wenn Familienmitglieder hierzulande nachts im Kiosk arbeiten, oder auch die Leiharbeit in Deutschland, das Heer prekärer »Soloselbständiger« oder die befristet Beschäftigten: Es besteht ein Nebeneinander aller denkbaren Formen der Ausbeutung, d. h. der Verfügung über Arbeit nach Maßgabe des flexiblen Akkumulationsregimes. Nicht nur im globalen Süden. Auch wenn die rechtlichen und tatsächlichen konkreten Arbeitsbedingungen dort in vieler Hinsicht um einiges desolater sind. Hier gilt, was Marx in der Einleitung zum »Kapital« dem deutschen Arbeiter zuruft, der achselzuckend und optimistisch fragt, was die Zustände der damaligen Arbeiter in England mit ihm zu tun hätten: »De te fabula narratur!« (»Über dich wird hier berichtet!«)

Der Konkurrent ist die weltweite Reservearmee, nicht nur der ungelernte Arbeiter von nebenan. Die neue Mobilität des produktiven Kapitals schafft einen globalen Arbeitsmarkt, der, seit dem Beginn der 1980er Jahre im Westen von der Desintegration gewerkschaftlicher Organisation flankiert, den Druck auf die Löhne erhöht. Auch hier hat der Staat mit neoliberalen Reformen der Beschäftigtenrechte die Grundlage geschaffen, lokale Arbeitsverhältnisse nach den Maßstäben des neuen Akkumulationsregimes zu formieren. Während die globale logistische Infrastruktur das Rückgrat der Lieferketten bildet, sind es die staatlich gesetzten rechtlichen Regelungen und internationale Handelsabkommen, die die globale Durchsetzung neuer Produktionsmodelle ermöglichen. Die logistischen Netzwerke schaffen die Grundlage zur Durchsetzung von kapitalistischen Machtkonfigurationen auf internationalem Niveau, die Staaten den Rechtsrahmen zur Disziplinierung und Kontrolle der Arbeitskräfte.

Das betrifft auch unmittelbar die Organisation der Arbeit in der Produktion, die von Subunternehmen direkt mit den Rhythmen der Lieferketten synchronisiert wird. Ob in einem Amazon-Lager oder in einer chinesischen Fabrik für Halbleitertechnik, die Kontrolle der Arbeit ist den logistischen Gegebenheiten unterworfen. Das in vielen Teilen computerisierte oder algorithmisierte logistische System übt unmittelbare Kontrolle über die Arbeit und ihre Organisation aus.

Internationale Lieferketten bestehen aus kontingenten, informellen und instabilen Arrangements, die zwischen verschiedenen Firmen, Transportunternehmen und Ländern bestehen und die, wie es Anna Tsing ausdrückt, häufig experimentellen und in mehrfacher Hinsicht grenzüberschreitenden Charakter besitzen, da ihre Etablierung auf der Verbindung von Arbeitsregimes in verschiedenen Ländern und Kulturen basiert.² Dazu gehören Arbeitsmigration, Subunternehmertum (Leiharbeit), die gezielte Ausbeutung und Unterdrückung von Frauen oder anderen Minderheiten, ohne dass der Konzern, der sie »regiert«, für diese Unterdrückungsformen selbst zur Verantwortung gezogen wird.

Institutionalisiertes Arbeitsunrecht, patriarchale Strukturen, Rassismus, staatliche Unterdrückung und Kolonialismus sind oft lokale Phänomene und als solche der Lieferkette »äußerlich«. Das Verhältnis von Kapital und Arbeit wird entlang von intersektionalen Ausprägungen der Ausbeutung konfiguriert und reproduziert. Sogenannte kulturelle Diversität ist nicht nur ein Modewort in den Konzernetagen, sondern auch ertragreich durch diversifizierende Formen der Ausbeutung durch Arbeit. Neben quasi »organischen« Formen, beispielsweise in traditionellen und patriarchalen Familienstrukturen, existieren vollkommen losgelöste Formen der Arbeit, etwa auf den Weltmeeren in der Containerschiffahrt, die eigentlich gar keiner kulturellen Vermittlung mehr folgen. Alle können sie gleichzeitig wertzusetzender Teil einer Lieferkette sein.

Und der Widerstand?

Die Dezentralisierung der Produktion entspricht dem Outsourcing und der Dezentralisierung der (organisierten) Arbeit. Waren Minen, Häfen, die Seefahrt und das Transportwesen, historisch gesehen, immer Hotspots für den organisierten Widerstand der Arbeiter, trägt heute die kulturelle Markierung »migrantische Arbeiter« zu einer Entsolidarisierung und Vereinzelung bei. Unter welchen Umständen können die jetzigen Schaltzentren der globalen Warenproduktion und -zirkulation zu lokalen Brennpunkten des internationalen Widerstands der Arbeiterinnen und Arbeiter gegen das Kapital werden? Angesichts der internationalen Organisation der Ausbeutung von Arbeit liegt eine internationale Assoziation der Arbeiterinnen und Arbeiter mehr als nahe. Die existierende grenzüberschreitende Organisation von Beschäftigten in Konzernen wie Amazon könnte dafür beispielgebend sein. Der Kapitalismus hat kein singuläres Zentrum, das sich angreifen ließe. Der Stuhl, auf dem er sitzt, hat viele Beine, an denen es zu sägen gilt.

Anmerkungen

1 Jasper Bernes: Logistics, Counterlogistics and the Communist Perspective. Online: endnotes.org.uk/issues/3/en/jasper-bernes-logistics-counterlogistics-and-the-communist-prospect

2 Anna Tsing: Supply Chains and the Human Condition. In: ­Rethinking Marxism. A Journal of Economics, Culture and ­Society 21 (2009) Nr. 2, 148–176