Im Einsatzbericht der Polizei steht, der Schwarze Block habe mit Steinen und Flaschen geworfen. Auf dem Video ist davon nichts zu sehen. (Foto: Michael Probst/AP)

  • Nach den Ausschreitungen während des G-20-Gipfels Anfang Juli in Hamburg ist deren Aufarbeitung noch nicht abgeschlossen.
  • Politik, Demonstranten und Polizei schieben sich gegenseitig die Verantwortung für die Krawalle zu.
  • Ein Polizeivideo von einem Zusammenstoß zwischen Demonstranten und Polizei am Rondenbarg legt nahe, dass die Sicherheitsbehörden den Vorfall im Nachhinein anders darstellten als er tatsächlich war.
Von Ronen Steinke

Es ist die größte Festnahme-Aktion während der gesamten G-20-Tage Anfang Juli in Hamburg: 73 Demonstranten werden im Morgengrauen des Gipfel-Freitags "zu Boden gebracht", so notiert es die Polizei. Viele werden mit dem Gesicht auf den Asphalt gedrückt in einer Straße im Stadtteil Altona. Gleichzeitig ist dies auch der größte einzelne Gewalt-Vorwurf an die Demonstranten: Sie hätten die Polizei bei Tagesanbruch dort geradezu überfallen. Die Beamten hätten sich gegen einen "massiven Bewurf" mit Flaschen und Steinen zur Wehr setzen müssen, aus einem geschlossenen schwarzen Block von 200 Personen.

Wegen der gesamten G-20-Krawalle laufen etwa 160 Ermittlungsverfahren, 32 Verdächtige sitzen in Untersuchungshaft. Aber diese eine Auseinandersetzung an der Straße Rondenbarg in Altona sticht heraus. Mindestens 59 Ermittlungsverfahren beziehen sich allein hierauf, 13 Demonstranten von dort kamen in Untersuchungshaft. Mindestens vier von ihnen sitzen noch heute, drei Männer und eine Frau aus Italien. Ein Polizeivideo des Einsatzes allerdings, das bislang unter Verschluss blieb und nun von der Süddeutschen Zeitung und dem NDR-Magazin Panorama eingesehen werden konnte, weckt Zweifel an der bisherigen öffentlichen Darstellung der Behörden.

Um 6.28 Uhr wird die erste Fackel geworfen. Sie landet auf der leeren Straße

Man sieht durch die Augen der Polizei, die Kamera ist auf dem Dach eines Mannschaftsbusses montiert. Es ist 6.27 Uhr, die Sicht ist gut, die Straße frei. Ein Demonstrationszug kommt die Straße entlang. Links ein Fabrikgebäude der Firma Transthermos, rechts ein dichtes Brombeergebüsch. Zumindest von vorne sieht die Menschengruppe, die da herannaht, vollkommen schwarz aus, nur eine einsame rote Fahne ragt aus dem Pulk heraus. Die vordersten Demonstranten tragen ein weißes Transparent vor sich her, "Gegenmacht aufbauen", steht darauf. Sie bewegen sich "gehenderweise", wie eine Analystin des Landeskriminalamts (LKA) es später auf der Grundlage dieses und dreier weiterer Polizeivideos beschreibt, also langsam. Ebenso langsam bewegen sich die Beamten auf sie zu, behelmt und gerüstet. Als beide Seiten fast zum Stehen kommen, sind sie noch fünfzig Meter auseinander. Die beiden Blöcke sehen sich an.

Was dann passiert, analysieren sie im LKA intern sehr nüchtern.

6.28:05 Uhr: Eine bengalische Fackel fliegt aus dem Pulk heraus in Richtung der Polizei, notiert die LKA-Ermittlerin. Der Bengalo landet auf leerer Straße, etwas rosafarbener Rauch steigt auf. 6.28:10 Uhr: Ein zweiter Bengalo fliegt, wiederum auf die weithin leere Straße. 6.28:18 Uhr: Ein dritter Bengalo landet auf der Straße, wieder zu weit entfernt von den Beamten, um als eine versuchte Körperverletzung gelten zu können. Irgendwo knallt ein Böller. Ein Polizeiführer hat jetzt genug, wie man im Video hören kann: "Bleib stehen", befiehlt er dem Fahrer eines Polizeibusses, der noch im Schritttempo voranrollt, "steigt aus, mir reicht das aus". Auf das Kommando hin stürmen die Polizisten los, die Demonstranten drehen sich um und rennen fort. 6.28:36 Uhr: Wasserwerfer beschießen von hinten die Demonstranten, die also eingekesselt worden sind.

Was man in dem Video nicht sieht: ein einziger Steinwurf. Oder eine einzige Flasche. Unmittelbar angegriffen wurde - zumindest vor dem Sturm der Polizei - kein Beamter. Man würde es sehen.

Brandenburger Polizeibeamter ist in den Akten der einzige Zeuge

"Als sich die Menschenmasse circa 50 Meter vor uns befand, wurden wir aus ihr massiv und gezielt mit Flaschen, Böllern und Bengalos beworfen", schrieb hingegen der stellvertretende Einsatzführer der Brandenburger Bundespolizei-Einheit unmittelbar nach diesem Einsatz, in einer "zeugenschaftlichen Darstellung des Sachverhalts", die der SZ vorliegt. "Steine trafen die Beamten und die Fahrzeuge." Nur auf Grund der "Schutzausstattung" sei kein Polizist verletzt worden. "Um die gegenwärtigen Angriffe abzuwehren, lief die Hundertschaft in Richtung der Menschenmenge an, wobei der massive Bewurf mit Steinen weiter anhielt," heißt es in dem polizeilichen Bericht weiter.

Diese Darstellung ist Grundlage der erwähnten Strafverfahren und Haftbefehle. Sie ist in den verschiedensten offiziellen Papieren weitergetragen worden, stets mit dem Brandenburger Bundespolizei-Mann als einzigem Zeugen. Sie findet sich in allen späteren Justiz-Entscheidungen fast wortgleich wieder. Aber wenn man das Polizeivideo gesehen hat, das insgesamt zwölf Minuten und 23 Sekunden dauert, ist klar: Sie stimmt nicht.

Das heißt nicht, dass es nicht noch zu solcher Demonstranten-Gewalt hätte kommen können. Die Beamten haben hinterher diverse Gegenstände von der Straße aufgesammelt: drei Stahlseile, zwei Hammer, eine Zwille, drei Signalraketen. Es heißt auch nicht, dass dieser Polizeieinsatz nicht zur Gefahrenabwehr rechtens gewesen sein kann. Aber seit Wochen steht der Vorwurf von Straftaten im Raum, von schwerem Landfriedensbruch und gefährlichen Körperverletzungen durch Steinwürfe. Von einem "Angriff" von Gewalttätern, der "abgewehrt" werden muss, ist auf den Aufnahmen der Polizei nichts zu sehen.

Das LKA hat die Einsatz-Videos noch am Abend desselben Tages ausgewertet, dem 7.Juli, wie ein interner Bericht aus der Dienststelle 42 zeigt, schon um 21.37 Uhr hat sich die LKA-Analystin an ihre Arbeit gemacht. Schon am nächsten Tag, am Gipfel-Samstag, hat sie ihren Vorgesetzten berichtet, wie wenig Demonstranten-Gewalt auf den Aufnahmen in Wahrheit zu sehen sei - dass also an der Aussage des stellvertretenden Bundespolizei-Einsatzführers Zweifel angebracht seien.

Trotzdem erklärte Normen Großmann, Leiter der Bundespolizei-Inspektion Hamburg, noch am 19. Juli im Hamburger Innenausschuss, am Rondenbarg "setzte sofort ein massiver Bewurf ein, als eine Distanz von circa fünfzig Metern erreicht war, erneut mit Steinen, mit Flaschen, mit Pyrotechnik". Die Beamten hätten den Auftrag gehabt, die Demonstranten "zunächst einmal aufzustoppen und die weitere Absicht zu klären und die Gruppe zu überprüfen". Sie hätten dann aber stürmen und Menschen festnehmen müssen.

Ob Beamte verletzt wurden bei diesem Einsatz, konnte ein Sprecher der Polizei auf Nachfrage nicht beantworten, die Auswertung durch die Ermittler der Soko "Schwarzer Block" dauere an. Auch zum Video wollte er sich nicht äußern. "Der Angriff der Polizei kam aus dem Nichts", sagt dagegen ein Demonstrant, Nils Jansen, 22, der als Mitglied im Vorstand der Verdi-Jugend aus Köln angereist war.

Die Menschen flohen vor der Polizei und brachen sich dabei reihenweise die Knochen

Er spricht auch von Knüppelschlägen der stürmenden Polizei. Die politische Aufarbeitung des G-20-Gipfels hat für Hamburgs Behörden gerade erst begonnen. "G 20 geht erst los", sagt ein Sicherheitsexperte. Was den Vorwurf eines "bewaffneten Hinterhalts" auf den Dächern des Schanzenviertels betrifft, haben die Behörden sich inzwischen vorsichtig korrigieren müssen. Im Schanzenviertel waren Beamten mit Maschinenpistolen angerückt, um den vermeintlichen Hinterhalt auszuheben. Aber Beweise fanden sie nirgends, und das Video eines Molotow-Cocktails, der vom Dach herunter geworfen wird, ist im Nachhinein auch nicht mehr so eindeutig. Vielleicht war es nur ein Böller.

Am Rondenbarg wird die Aufarbeitung möglicherweise noch unangenehmer für die Polizei. Auch weil dort 14 Demonstranten verletzt wurden, manche von ihnen schwer. Sie stürzten über ein Geländer, als sie vor der stürmenden Polizei davonliefen. Hinter der Absperrung ging es zwei Meter tief hinab. Mit dem Funkspruch "Massenanfall von Verletzten" wurde die Feuerwehr gerufen, elf Demonstranten kamen mit Knochenbrüchen ins Krankenhaus.

In Hamburgs Parlament soll am 31. August erstmals der Sonderausschuss "Gewalttätige Ausschreitungen rund um den G-20-Gipfel" tagen. Politiker der Oppositionsparteien CDU und Linke sind damit aber nicht zufrieden: Sie wollen einen Ausschuss, der nicht nur Fragen stellen, sondern auch in Akten sehen darf.


Justiz nach G-20-Gipfel Sonderkommission "Schwarzer Block

  • Während der Krawalle um den G-20-Gipfel wurden Hunderte Polizisten und Demonstranten verletzt.
  • 186 Verdächtige wurden festgenommen, die Bilanz: Nur 51 Haftbefehle. Notrichter arbeiteten im Schichtbetrieb.
  • Die Sonderkommission "Schwarzer Block" soll jetzt weitere Verdächtige finden.
Von Ronen Steinke

Ein grünes Schimmern. Figuren leuchten im Dunkeln, man sieht sie nur durch eine Wärmekamera. Diese Bilder sind die einzigen, welche die Polizei vom Dach des Hauses Schulterblatt 1 im Schanzenviertel gemacht hat, als dort das Chaos überhandnahm am vorvergangenen Freitagabend. 36 Menschen wollen die Beamten zeitweise auf dem Dach gezählt haben. Von dort sei der gefährlichste Angriff der ganzen G-20-Krawalle ausgegangen, ein "bewaffneter Hinterhalt", sagt Hamburgs Innensenator Andy Grote. Der Grund, weshalb Maschinenpistolen ausgepackt wurden. "Bei Vorrücken der Polizei muss mit schwersten Verletzungen gerechnet werden", notierten die Beamten.

Doch als sie das Gebäude stürmen, sind es statt der 36 nur 13. Ob sie Steine geworfen haben, ist ungewiss, als die 13 Menschen um 23.26 Uhr gefesselt auf dem Boden liegen. Es seien viele Gaffer auf dem Haus gewesen, sagt später der Einsatzleiter des Sondereinsatzkommandos (SEK), Sven Mewes. Die Beamten finden keine Waffen, auch nirgends einen Molotowcocktail, wie sich aus ihren Aufzeichnungen ergibt. Bei keinem der 13 also können Hamburgs Richter einen konkreten Tatverdacht erkennen. "Bloße Anwesenheit ist keine Straftat", sagt Gerichtssprecher Kai Wantzen, und das heißt: Keiner der 13 bekommt einen Haftbefehl.

Hätte man gegen die 13 vom Dach etwas in der Hand, säßen sie noch

Ist der Rechtsstaat hilflos? Kapituliert er vor Leuten, die zeitweise ungehindert marodierten und zündelten? Der Fall hat Entrüstung ausgelöst, die Verunsicherung teils noch vertieft. Man habe nicht anders gekonnt, als die 13 laufen zu lassen, hat die Polizei sich seither erklärt. Schon am Samstag um 24 Uhr sei eine Höchstdauer für deren Haft abgelaufen.

Aber stimmt das? Die Frist gilt nur für polizeiliche Präventivhaft. Für Leute also, die keiner Straftat verdächtig sind. So ohnmächtig ist der Rechtsstaat nicht, dass er dringend Tatverdächtige laufen lassen müsste. Hätte man gegen die 13 etwas in der Hand, dann säßen sie noch, sagt der Strafverteidiger Christian Woldmann, der beim G-20-Gipfel im Dauereinsatz war.

So ist es oft gewesen während der Hamburger Protesttage. Geschäfte wurden geplündert, Hunderte Demonstranten und Polizisten verletzt. Aber nur 186 Personen hat die Polizei festgenommen, um sie für Kriminelles verantwortlich zu machen. Bei 85 von ihnen haben Staatsanwälte versucht, einen Haftbefehl zu erlangen. In 51 Fällen ließen sich Richter von der Beweislage überzeugen. Stellt man das den vielen schweren Vorwürfen gegenüber - Landfriedensbruch, Angriffe auf Leib und Leben -, ist das eine mickrige Bilanz.

Die Akten zeichnen ein Bild, mit dem die Polizei nicht zufrieden sein kann

170 Beamte der Sonderkommission "Schwarzer Block" sollen jetzt Verdächtige finden. Einstweilen aber sinkt deren Zahl sogar weiter. Am Mittwoch sind mehrere aus der U-Haft entlassen worden, weil Richter nicht mehr an einen Verdacht glaubten. Im Schanzenviertel und auf St. Pauli wird aufgeräumt, Scheiben werden instand gesetzt. Zugleich überprüfen Juristen all die hastigen Entscheidungen, die während des Gipfels getroffen wurden, von Notrichtern im Schichtbetrieb. Und die Akten zeichnen ein Bild, mit dem die Polizei nicht zufrieden sein kann.

Dabei zeigt sich zum einen, dass die Taktik des schwarzen Blocks aufgeht. Wenn sich alle im gleichen Stil vermummen, kann man sie schwer auseinanderhalten. Dafür können die Ermittler nichts, die Strafjustiz braucht freie Sicht aufs Individuum. Da helfen keine Wärmekameras, auf denen keine Gesichter zu erkennen sind. Über einen 25-jährigen Studenten, der am Freitag um 6.30 Uhr im Rondenbarg verhaftet wurde, einer Straße in Altona, schrieb ein Kommissar: "Einzelne Tathandlungen" konnte man nicht nachweisen. Wie bei fast allen der 73 Demonstranten, die an jenem Morgen "zu Boden gebracht" und gefesselt wurden.

Eine angehende Medizinstudentin - weder vermummt noch schwarz gekleidet

Zu ihnen zählte auch eine angehende Medizinstudentin, sie trug weder Vermummung noch überhaupt Schwarz - noch war sie "im Besitz von Waffen oder gefährlichen Werkzeugen". Die Abiturientin gehörte zur Verdi-Jugend; mit dieser hatte sie am Rondenbarg demonstriert. Der Haftbefehl sei rechtswidrig, entschied das Amtsgericht am Mittwoch. So endeten sechs Tage Untersuchungshaft.

"Die Polizeistrategie war von Beginn an nicht auf die gezielte Festnahme von Straftätern ausgerichtet, sondern auf eine gewaltsame Zerstreuung von Protestgruppen", kritisiert Peer Stolle, Vorsitzender des eher linken Anwaltsvereins RAV. Der schwerste Strafvorwurf jedenfalls, der nun übrig ist, geht gegen einen 27-Jährigen in Altona. Er soll aus seinem Fenster heraus die Piloten eines Polizeihubschraubers mit einem Laser geblendet haben. Versuchter Mord, sagt die Staatsanwaltschaft. Der Mann sitzt in U-Haft. Seine angebliche Tatwaffe indes war ein Disco-Laser, heißt es inzwischen im Landeskriminalamt, TÜV-geprüft für den Hausgebrauch und ungefährlich. In ein paar Tagen ist Haftprüfung.

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