Die Katastrophe in Australien lässt die Unvereinbarkeit von Kapitalismus und Klimaschutz offen zutage treten

13. Januar 2020 Tomasz Konicz

Es scheint angesichts der apokalyptischen Bilder [1] aus Australien unbegreiflich, dass die Rechtsregierung in Canberra weiterhin auf Kohleförderung und fossile Energieträger setzen will. Die größte, keinesfalls bereits ausgestandene Feuerkatastrophe in der modernen Geschichte des Kontinents kann Premier Scott Morrison, ein bekennender Klimawandelskeptiker und Kohlefan, nicht davon abhalten, weiterhin auf den klimaschädlichen Energieträger zu setzen [2].

Eine radikale Abkehr von der Kohle ist in Australien, einem der größten Emittenten von Treibhausgasen, nicht in Sicht. Regierungsmitglieder bezweifeln weiterhin den Zusammenhang zwischen der Feuerkatastrophe und dem Klimawandel, während Morrison Anfang Januar abermals zusätzliche Anstrengungen zur Absenkung der CO2-Emissionen ausschloss [3].

Angesichts dieses starrsinnigen Festhaltens am Klimakiller Kohle - inmitten einer apokalyptisch anmutenden Brandkatastrophe - stellt sich die simple Frage nach den Ursachen für diese absurd anmutende Haltung Canberras. Was treibt Morrison um? Wie viel Land müsse noch abbrennen, bis "Morrison zur Vernunft" komme, fragte etwa die Frankfurter Rundschau [4]. Die Tageszeitung [5] wusste Anfang Januar zu berichten, dass sich Down Under im Würgegriff der "Kohlelobby" befinde, die die Energiepolitik der Regierung Morrison bestimme.

Bei Spiegel-Online [6] hieß es Anfang Januar, dass Morrison einen Verrat an der Bevölkerung seines Landes begangen habe, indem er ihren Schutz den "Interessen der fossilen Industrie" geopfert habe. Es sei "eine kleine Gruppe in den Führungsetagen der Kohle-, Öl- und Gaskonzerne", die sich an der "fortwährenden Zerstörung des Planeten" bereichere, so SPON, "während die Mehrheit der Menschen die Folgen zu ertragen" habe.

Selbstverständlich sind diese Schilderungen partiell zutreffend, doch geben sie nicht die ganze bittere Wahrheit über den Widerspruch zwischen Kapital und Umwelt wieder. Dass Morrison ein "Kohle-Mann" ist, der nur dank der massiven Schützenhilfe mächtiger Kapitalfraktionen sich an der Macht halten konnte, wussten Telepolis-Leser schon Mitte Dezember (Verbrannte Erde im Murdoch-Land [7]). Doch erklärt dies nicht den unzweifelhaft gegebenen Massenzuspruch, den seine reaktionäre Politik erfuhr. Die massive Propagandakampagne, die Morrison im vergangenen Wahlkampf seitens des reaktionären Medienmoguls Rupert Murdoch erhielt, muss ja tatsächlich eine Mehrheit der Wähler dazu gebracht haben, für den Klimaleugner freiwillig zu stimmen - noch werden die Wähler nicht dazu gezwungen, ihr Kreuz an der "richtigen" Stelle zu machen.

Klimaschutz als Wirtschaftskiller?

Einen ersten Ansatzpunkt hierfür liefert das Argumentationsmuster, wonach der konsequente Klimaschutz, den Morrisons sozialdemokratischer Herausforderer propagierte, zu einer heftigen Wirtschaftskrise führen würde. Die Bergbauindustrie bildet einen zentralen Pfeiler der australischen Volkswirtschaft - ähnlich der deutschen Autoindustrie -, der massive Exporteinnahmen generiert und an dem Hunderttausende von Arbeitsplätzen hängen. Es ist nicht bloß eine "kleine Gruppe in den Führungsetagen", die ein ökonomisches Interesse an der Beibehaltung der "fossilen Industrie" hat, es sind hunderttausende Wähler, die dieser verhängnisvollen fossilen Logik der Leugnung des Klimawandels folgen können - wobei dieses reaktionäre Narrativ auch auf andere Wirtschaftssektoren wie Dienstleistungen oder die Bauwirtschaft, die von einem Verschwinden des Bergbaus betroffen wären, ausstrahlen kann.

Wieso konnte sich der Klimaleugner und Kohle-Mann Morrison bei den letzten Wahlen durchsetzen? Laut jüngsten Schätzungen der australischen Regierung [8] beschäftigt der Bergbau rund 250.000 Lohnabhängige, bei einer jährlichen Wachstumsrate der Beschäftigung von mehr als zehn Prozent. Nach dem öffentlichen Dienst ist der Bergbau die größte "Jobmaschine" des Landes, die dem Rohstoffexporteur einen Großteil seiner Exporteinnahmen beschert.

Die zumeist nach Süd- und Südostasien exportierte Kohle stellt dabei den "schmutzigen Goldesel" Australiens [9] dar. Das Wachstum der Beschäftigung im öffentlichen Sektor des Kontinents wäre kaum möglich ohne die 60 Milliarden australischen Dollar, die der Verkauf des fossilen Energieträgers allein 2018 dem Land einbrachte. 2017 bildeten Kohlebriketts [10] - knapp hinter Eisenerz - das zweitwichtigste Exportgut Australiens. Die Parallele zwischen Australiens Bergbau und der deutschen Autoindustrie als zentralen Pfeilern der Exportwirtschaft ist somit durchaus angebracht.

Diese Argumentation war im Wahlkampf erfolgreich - und der australische Premier bleibt seiner Linie treu. Während vor wenigen Tagen lokale Brände sich zu einem gigantischen "Mega-Feuer" [11] unweit des Mount Kosciuszko vereinten, erklärte Morrison ausdrücklich, dass er es ablehne, Emissionsziele zu formulieren, die "Arbeitsplätze kosteten und die Wirtschaft in Gefahr bringen könnten", wie es die FAZ formulierte.

Die Absurdität der Lage tritt offen zutage: stabiles Klima oder Arbeitsplätze? Sie haben die Wahl! Das ist auch keine australische Besonderheit. Ähnlich argumentiert man beispielsweise auch in Sachsen-Anhalt [12], wo man Angst hat vor Arbeitsplatzverlust in der Braunkohleindustrie. Ein "Grüner" Ministerpräsident kann dann sehr schnell zum Automann [13] werden, wenn es um Arbeitsplätze geht.

Die Befürworter eines "grünen" Kapitalismus sind in solchen Fällen immer schnell mit der Propagierung des Green New Deals [14] zur Stelle, bei dem ein infrastruktureller Umbau des Kapitalismus mit dem Aufstieg der "Ökobranche" zum neuen ökonomischen Leitsektor einhergehen solle. Solarmodule, und Elektroautos statt Kohle, Gas und Erdöl - eine ökologische Transformation des Systems soll die Wirtschaft beleben und gleichzeitig das Klima schützen.

Grenzen des Green New Deal

Das Problem dabei ist, dass der Kapitalismus inzwischen zu produktiv für eine ökologische Transformation ist. Klimaschutz kann nur jenseits des an seinen inneren Widersprüchen scheiternden Kapitals realisiert werden. Die bisherigen Erfahrungen, etwa bei der ökonomisch und ökologisch gescheiterten Energiewende [15] in der Bundesrepublik, deuten eher darauf hin, dass ein Green New Deal ökonomisch, innerhalb des kapitalistischen Verwertungszwanges, nicht aufgeht, obwohl er technisch ohne weiteres möglich wäre. Es ist ja nicht so, als ob es noch nie - vor allem unter Rot-Grün - versucht worden wäre, der Ökobranche zum Durchbruch zu verhelfen. Die Pleite von Solarworld [16] ist ein Symbol für dieses Scheitern der Energiewende an den krisenbedingt sich zuspitzenden "Sachzwängen" des Spätkapitalismus.

In a nutshell: Das global erreichte Produktivitätsniveau führt dazu, dass in der Ökobranche, sobald sie nicht mehr durch staatliche Zuschüsse aufgepäppelt wird, kaum die Massen neuer "Jobs" entstehen können, die notwendig wären, um die infrastrukturelle Transformation des Kapitalismus zu finanzieren. Das Kalkül des Green New Deals beruht ja gerade darauf, dass der Staat Milliarden an Subventionen und Investitionen tätigt - die nicht im Rahmen von Marktprozessen geleistet werden können -, um die infrastrukturellen "Rahmenbedingungen" für einen "Öko-Kapitalismus" zu schaffen. Das erhöhte Steuernaufkommen durch Massenbeschäftigung in den neuen, "grünen" Wirtschaftszweigen würde dazu führen, dass diese staatlichen Aufwendungen sich amortisierten. Aufgrund des hohen Produktivitätsniveaus geht gerade diese Logik nicht mehr auf. Der Green New Deal ist, gesamtwirtschaftlich betrachtet, ein "Verlustgeschäft". Deswegen sprechen auch in Deutschland alle von den Kosten der Energiewende - und nicht von den Chancen der neuen Ökomärkte.

Um es mal konkret zu machen: Könnte Australien tatsächlich so viele Solarpanels, Windkrafträder oder Batterien exportieren, um den Arbeitsplatzverlust und vor allem den Einnahmeverlust aus dem Bergbausektor zu kompensieren - angesichts der großen Konkurrenz etwa chinesischer Solar- und deutscher Windkrafthersteller? Die Einnahmen aus dem Rohstoffexport dienen ja auch dazu, das Wachstum der Beschäftigung im öffentlichen Sektor Australiens zu finanzieren.

Im Kapitalismus befindet sich die gesamte "Arbeitsgesellschaft" am Tropf gelingender Verwertung von Kapital. Nur wenn in der warenproduzierenden "Wirtschaft" im ausreichenden Maße aus Geld mehr Geld gemacht werden kann, gibt es Arbeitsplätze, genügend Steueraufkommen für den öffentlichen Sektor, für Kultur, Sozialleistungen, etc. Aus diesem Verwertungszwang des Kapitals resultiert der volkswirtschaftlich wahrnehmbare Wachstumszwang des Systems, der die menschliche Zivilisation akut bedroht. Gesamtgesellschaftlich dient dieser amoklaufenden Verwertungsbewegung des Kapitals die Welt als bloßes konkretes "Material", als notwendiges Durchgangsstadium, um vermittels Lohnarbeit aus Geld mehr Geld zu machen. Die gesamte kapitalistische Gesellschaft ist dieser Welt-vernichtenden Eigendynamik des Kapitals ausgeliefert, die sie unbewusst, weitervermittelt herstellt.

Und auch dies lässt sich am Beispiel Australiens konkret illustrieren. Ein Auskommen als Lohnabhängiger hat man nur, wenn etwa ein Bergbaukonzern diese Arbeitskraft benötigt, um eine Ware, etwa Kohlebriketts, herzustellen, die mit Gewinn veräußert werden kann, etwa in China, wo die Nachfrage nach Kohle aufgrund immer neuer Kohlekraftwerke [17] stark ansteigt. Der Lohnabhängige hat somit nur dann ein Auskommen, wenn sein Konzern profitabel ist. Das ist die übliche Logik, die allgemein als "natürlich" akzeptiert ist. Und es ist gerade dieser - betriebswirtschaftlich scheinbar vernünftige - Zwang zur höchstmöglichen Verwertung des eingesetzten Kapitals, der gesamtgesellschaftlich, global, eben jene zerstörerische Wachstumsdynamik entfacht, die die Welt buchstäblich verbrennt.
Bedingungsloses Grundeinkommen als Einstieg in die Transformation?

Ein Überleben der menschlichen Zivilisation ist folglich nur bei Beseitigung dieser zerstörerischen Kapitaldynamik, bei Überwindung des Kapitalverhältnisses denkbar. Ein erster Schritt hin zu einer schlicht überlebensnotwendigen Systemtransformation könnte darin bestehen, der fossilen Wirtschaft und reaktionären Kräften wie einem Rupert Murdoch, die diese unterstützen, ihren wichtigsten Machthebel zu nehmen - den tatsächlich gegebenen Zusammenhang zwischen Lohnarbeit und sozialem Überleben. Derzeit sind die Lohnabhängigen, etwa in der Autobranche oder im Bergbau, schlicht gezwungen, mit ihrer Hände Arbeit die Klimakrise zu befördern, um kurzfristig die eigene Existenz zu sichern, um prosaisch ihre Rechnungen am Monatsende zahlen zu können. Hier setzt die Propaganda der fossilen Industrie an, indem sie diese absurde Lage, diese furchtbare Aporie der Lohnabhängigen ausnutzt, indem sie "Arbeitsplätze" gegen den notwendigen Klimaschutz ausspielt und hieraus politisches Kapital schlägt.

Die Argumentation Morrisons, der weiterhin nicht von der Kohle lassen will, scheint absurd, doch verhält es sich in Deutschland im Fall der Autobranche, die tatsächlich Millionen von Menschen beschäftigt, kaum anders. Die Bundesrepublik lebt zum guten Teil vom globalen Export von Spritzfressern. Auch Hierzulande lügt man sich gerne etwas vor, indem man etwa an der Chimäre des Elektroautos als einer gangbaren umweltschonenden Technologie festhält - während die Produktion von Elektroautos, die ja auch mit "fossil" hergestelltem Strom betrieben werden können, tatsächlich energieintensiver [18] ist als die von Benzinern und Diesel-Fahrzeugen.

Um diese reaktionäre "Arbeitsplatzideologie" zu entkräften, könnte sich die Einführung eines bedingungslosen Einkommens - aller Problematik zum Trotz - als sinnvoll erweisen. Auch wenn dies binnenkapitalistisch zuerst nur den Charakter einer besseren Stütze annehmen würde, könnte damit endlich der tatsächlich gegebene Zusammenhang zwischen Reproduktion der Arbeitskraft der Lohnabhängigen und der Reproduktion des Kapitals aufgehoben werden. Dem Kapital wären ein zentraler Machthebel und eine wichtige ideologisch Argumentationsfigur genommen.

Hierauf aufbauend, könnte dann im Rahmen einer Transformationsbewegung neue Formen gesellschaftlicher Reproduktion ausgelotet und erkämpft werden, die nicht mehr dem irrationalen Zwang zur tautologischen Verwertung des Werts untergeordnet sind. Anstatt blind als Marktsubjekt und Konkurrenzatom für den "Markt" zu produzieren, immer in der Hoffnung, das eingesetzte Kapital möglichst stark zu vermehren und somit die destruktive Kapitaldynamik anzuheizen, könnten die Formen und der Inhalt der gesellschaftlichen Reproduktion auch in einem gesellschaftlichen Diskurs, in einem Verständigungsprozess, festgelegt werden. Die unbewusste Reproduktion der Gesellschaft, die derzeit ohnmächtig der fetischistischen Verwertungsbewegung ausgesetzt ist, würde der bewussten, rational organisierten Produktion und Distribution von Bedarfsgütern weichen, die nicht mehr Waren wären.

Außerhalb der absurden kapitalistischen "Sachzwänge" verliert der Klimaschutz plötzlich all seinen ökonomischen Schrecken: Es muss ja nicht weniger Nahrung oder Kleidung hergestellt werden, wenn die Gesellschaft plötzlich aufhört, sprithungrige Autos zu produzieren oder Kohle zu fördern. Die eingesparte Arbeitszeit manifestiert sich im Postkapitalismus nicht mehr in dem Höllenzustand der Arbeitslosigkeit, sondern in einer Freizeit, die beispielsweise für den Kampf gegen die Folgen der kapitalistischen Klimakrise genutzt werden könnte.

Von Tomasz Konicz erscheint demnächst das Buch "Klimakiller Kapital [19]. Wie ein Wirtschaftssystem unsere Lebensgrundlagen zerstört.

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http://www.heise.de/-4633699
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.technologyreview.com/s/615035/australias-fires-have-pumped-out-more-emissions-than-100-nations-combined/
[2] https://www.vox.com/world/2020/1/8/21051756/australia-fires-climate-change-coal-politics
[3] https://www.reuters.com/article/us-australia-bushfires-climatechange/australias-leaders-unmoved-on-climate-action-after-devastating-bushfires-idUSKBN1Z60IB
[4] https://www.fr.de/meinung/australien-buschfeuer-fuehren-nicht-einem-umdenken-kohlelobby-einflussreich-13419861.html
[5] https://taz.de/Klimaexpertin-zu-Feuern-in-Australien/!5651270/
[6] https://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/klimakrise-in-australien-verrat-an-der-bevoelkerung-a-1303669.html
[7] https://www.heise.de/tp/features/Verbrannte-Erde-im-Murdoch-Land-4621769.html
[8] https://www.aph.gov.au/About_Parliament/Parliamentary_Departments/Parliamentary_Library/FlagPost/2019/April/Employment-by-industry-2019
[9] https://www.luzernerzeitung.ch/wirtschaft/das-kohlegeschaeft-ist-australiens-schmutziger-goldesel-ld.1143241
[10] https://oec.world/en/profile/country/aus/
[11] https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/australien-buschbraende-verbinden-sich-zu-mega-feuer-16574830.html
[12] https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/reiner-haseloff-sieht-kohlekompromiss-in-gefahr-16574916.html
[13] https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/wirtschaftsstandort-deutschland-kretschmann-muessen-alles-dafuer-tun-dass-wir-autoland-bleiben/25372678.html
[14] https://www.nytimes.com/2019/02/21/climate/green-new-deal-questions-answers.html
[15] http://www.konicz.info/?p=2398
[16] https://www.pv-magazine.de/2019/02/11/investorensuche-fuer-solarworld-gescheitert-modulfabrik-wird-versteigert/
[17] https://www.handelsblatt.com/unternehmen/energie/global-energy-monitor-chinas-kohleplaene-bringen-die-weltweiten-klimaziele-in-gefahr/25250284.html
[18] https://www.sozonline.de/2019/05/winfried-wolf-mit-dem-elektroauto-in-die-sackgasse-warum-e-mobilitaet-den-klimawandel-beschleunigt/
[19] https://www.mandelbaum.at/buch.php?id=962

 

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XR wird in der Klimabewegung derzeit heiß diskutiert. Aus der radikalen Linken kommt viel Kritik, teils auch pauschale Ablehnung. Wir als iL freuen uns über den Mobilisierungserfolg der Rebellionswoche und arbeiten mit XR zusammen. Dennoch sehen auch wir manches kritisch. Unsere Einwände haben wir nun in Form eines offenen Briefes an XR etwas ausführlicher begründet. Wir hoffen auf eine spannende Debatte.

 

Liebe Rebell*innen,

 

beeindruckende Massenblockaden in vielen Metropolen der Welt liegen hinter uns. Nachdem am 20. September 1,4 Mio. Klimastreikende allein in Deutschland Geschichte schrieben, beteiligten sich vom 7.-13. Oktober Tausende an euren Aktionen in Berlin. Viele wagten zum ersten Mal den Schritt in den zivilen Ungehorsam. Selbst bei Regen und Kälte habt ihr euch an Brücken gekettet und zentrale Plätze der Stadt über Tage hinweg besetzt gehalten. Eure markante Symbolik und eure oft sehr persönliche Sprache waren medial überaus sichtbar. Sie drückten ein Verlangen nach Wahrhaftigkeit und radikalem Wandel aus. In euren und vielen weiteren Aktionen verdichtet sich, was Greta Thunberg beim UN-Gipfel in New York am 23. September den Regierungen der Welt entgegenschleuderte: »Right here, right now, is where we draw the line!«.
Dieses Momentum eines sich ausbreitenden Willens zum Aufstand für das Leben müssen wir nutzen und weitertreiben. Die Verantwortung ist groß, denn die Zeit läuft uns davon. Nur gemeinsam können wir eine machtvolle, weil plurale, miteinander streitende und doch solidarisch zusammenstehende Klimagerechtigkeitsbewegung aufbauen. Aus dieser Überzeugung heraus stellen wir uns entschieden gegen die Spaltungsdynamik, die in den letzten Wochen auch von Teilen der (radikalen) Linken angeheizt wurde. Dem vielfach überzogenen und selbstgerechten Shitstorm gegen Extinction Rebellion (XR) wollen wir eine hoffentlich konstruktive Rückmeldung unserer Wahrnehmungen entgegensetzen. Ihr habt uns und andere Gruppen wiederholt um Kritik gebeten und erkennbar versucht, aus Fehlern, wie sie gerade für eine junge Bewegung nicht überraschend sind, zu lernen. Wir sind insofern zuversichtlich, dass ihr unsere Anregungen ernst nehmt und wir die Diskussion und Zusammenarbeit fortsetzen und intensivieren können.
Ermutigend ist aus unserer Sicht, dass ein solcher Verständigungs- und Kooperationsprozess in Großbritannien, dem Mutterland von XR, bereits weiter vorangeschritten ist. Wir haben den Eindruck, dass dies in Deutschland bisher noch zu wenig wahrgenommen wird. Daher wollen wir auch einige Schlaglichter auf die dortige Debatte werfen und hoffen, eine ähnliche Entwicklung in Deutschland anzustoßen. Dazu gehört natürlich auch, der Frage nachzugehen, was die Klimagerechtigkeitsbewegung und die radikale Linke von XR lernen können. Dem können wir an dieser Stelle bestenfalls in Ansätzen gerecht werden. Wir wollen die selbstkritische Reflexion aber an anderer Stelle weiter vertiefen.
Unsere Kritik an XR betrifft unterschiedliche Aspekte der Strategie und ihrer praktischen Umsetzung – und wir sind uns, jenseits des hier festgehaltenen, keineswegs in allem einig. Wir sind uns bewusst, dass XR derzeit ein sehr heterogenes, schnell wachsendes und unübersichtliches Spektrum lokaler Gruppen umfasst. Vieles sortiert und entwickelt sich noch und vieles, was wir im Folgenden ansprechen, wird sicherlich auch innerhalb von XR längst diskutiert. Wir greifen lediglich bestimmte Tendenzen heraus, die uns problematisch erscheinen – oder die uns umgekehrt inspirieren und in denen wir euch bestärken möchten.

 

1. »Beyond Politics«?! Es braucht eine klare Herrschaftskritik und bewusste Bündnisarbeit

 

Die Botschaft von XR ist universalistisch: von der Klimakatastrophe und der Zerstörung der Artenvielfalt sind – letztlich – alle betroffen. Dementsprechend sind auch alle aufgerufen, mit der »toxischen« Logik des Systems zu brechen. Zugleich ist aber klar, dass Menschen je nach Region und sozialer Lage hochgradig zeitversetzt und in extrem ungleichem Maße von den Auswirkungen des Klimawandels betroffen sind. Eine Massenrebellion lässt sich deshalb nach unserer Überzeugung nur entlang der tiefen Kluft zwischen Hauptverursacher*innen und Leittragenden der Krise entfesseln. An vielen Orten der Welt ist diese Rebellion längst im Gange. Denn auch der »Notstand« ist für viele Menschen schon lange bittere Alltagsrealität. Indigene, People of Colour, Frauen und andere von Ausgrenzung und Armut besonders betroffene Gruppen stehen in diesem Kampf an vorderster Front. Das bleibt für die meisten Menschen in Europa bisher aber unsichtbar. Es gehört zu unseren zentralen Aufgaben, dies zu ändern – und zwar gerade, weil die Mehrheit der hierzulande bei XR, Fridays for Future oder linken Gruppen aktiven Menschen aus (noch) vergleichsweise gesicherten Lagen heraus spricht und leichter Gehör findet.
Die Rhetorik von XR, wonach wir »alle in einem Boot« sitzen, ist aus unserer Sicht aber wenig hilfreich, um den Anspruch auf Klimagerechtigkeit mit Leben zu füllen. Gegner*innen und Verbündete, Herrschaftsstrukturen und Handlungsperspektiven müssen im Kampf gegen den Klimawandel deutlicher benannt werden. Unternehmen und Regierungen, die im Wissen um die tödlichen Folgen ihrer Politik seit Jahrzehnten eine Nachhaltigkeitswende aktiv verhindern, müssen von unserem Protest klar adressiert und angegriffen werden. Ein »jenseits von Politik« kann es nicht geben. Gerade die Klimakrise ist hoch politisch, weil es um die Verteilung von knapper werdenden Ressourcen, Zufluchtsorten und Gestaltungschancen geht. Diese Überlegungen haben in den USA dazu geführt, dass XR eine 4. Forderung nach gerechter Transformation aufgestellt hat. Der Fokus liegt dabei auf den verletzlichsten sozialen Gruppen sowie indigenen und ökologische Rechten.
Dabei sehen wir durchaus, dass sich ein Teil des Erfolges von XR aus Zurückhaltung bei der politischen Positionierung erklärt: Durch die Forderung nach einer Bürger*innenversammlung, die alles weitere zu entscheiden habe, entlastet ihr euch bisher weitgehend von Debatten um Ursachen und Lösungsvorschläge. Und solche Debatten bergen Zersplitterungspotential (die Linke kann davon ein Lied singen). Als reiner Mobilisierungshebel für die Aktivierung von Menschen jenseits traditionell links sozialisierter Kreise mag das zurzeit als geschickter Schachzug erscheinen. Versteift ihr euch aber auf Dauer auf die Illusion der Überparteilichkeit, dann blockiert das notwendige Debatten. Und es wirkt zahnlos, weil selbst Offensichtliches, wie das Profitmotiv hinter der Lobbymacht der fossilen Energiewirtschaft oder dem globalen Raubbau der Agrarindustrie, nicht klar benannt wird.
Auch läuft XR so Gefahr, sich von den weit zurückreichenden Erfahrungen und Wissensbeständen bestehender Emanzipationsbewegungen abzukoppeln. Ungewollt verstärkt das die Tendenz, soziale und ökologische Kämpfe gegeneinander auszuspielen. Begriffe wie ›Kapitalismus‹, ›Ausbeutung‹, ›(Post-)Kolonialismus‹ oder ›Patriachat‹ vermeiden viele Menschen bei XR, um niemanden zu verschrecken. Sie sind aber keineswegs nur Schlagworte einer auf Abgrenzung bedachten radikalen Linken. Es sind auch analytische Kategorien, die wir brauchen, um zu verstehen, wogegen wir kämpfen.
Wir können nachvollziehen, dass am Anfang das Bedürfnis besteht, sich nicht in ein politisches Schema einordnen zu lassen. Auch »Occupy« in den USA und die »Indignados« in Spanien haben das zunächst getan. Als Absetzungs- und Neugründungsversuch kann dies im besten Fall eine das Feld öffnende Wirkung entfalten. Damit entsteht aber ein Raum der Auseinandersetzung, der neue Organisationen und Strömungen hervorbringt. Und all das spielt sich nicht jenseits der bereits existierenden Gruppen und Strukturen ab. XR kann auch nicht als allumfassende Klammer verstanden werden. Ihr steht für einen strategischen Ansatz neben anderen. Es ist entscheidend, dass wir alle versuchen, die Konsequenzen unseres Handelns auch für andere Gruppen in der Bewegung mitzudenken. Dafür braucht es eine kontinuierliche Kooperations- und Bündnisarbeit, Streit und Verständigung, wie sie in Großbritannien bereits in Gang gesetzt wurde. Wir wünschen uns dabei, dass sich XR sehr deutlich nach rechts (und auch gegenüber verschwörungstheoretisch-esoterischen Kreisen) abgrenzt und der Zusammenarbeit mit Nazis und anderen autoritären Akteuren eine klare Absage erteilt. Nach irritierenden Aussagen einzelner XR-Aktivist*innen, scheint sich inzwischen eine klarere Linie durchzusetzen. Dies folgt in unseren Augen auch logisch aus den Grundprinzipien von XR, in denen es (neuerdings) erfreulich deutlich heißt:

 

»Sprache und Verhalten, das rassische Dominanz, Sexismus, Antisemitismus, Islamophobie, Homophobie, Behindertenfeindlichkeit, Klassendiskriminierung, Altersvorurteil und alle anderen Formen der Unterdrückung, einschließlich beleidigender Sprache, aufweist, werden weder in Aktionen noch anderswo und weder persönlich noch online akzeptiert.«

 

Die Solidaritätsbekundungen gegenüber den Opfern des Nazi-Terrors in Halle und dem kurdischen Widerstand gegen den brutalen Angriffskrieg der Türkei während der Rebellionswoche haben uns sehr gefreut. Wir hoffen, dass XR diese progressive Grundorientierung auch in Zukunft beibehält.

 

2. Ungewollte Ausschlüsse wahrnehmen und Repression nicht verharmlosen

 

Für die Verständigungs- und Orientierungsprozesse von XR-GB war ein offener Brief der britischen Klimagerechtigkeitsbewegung wichtig. Er wurde von »The Wretched of the Earth« (einer von People of Colour und Migrant*innen geprägten Grassrootsinitiative) zusammen mit vielen anderen linken Gruppen (u.a. auch »Ende Gelände«) veröffentlicht. Der Brief mahnte einen sensibleren Umgang mit Fragen von Klassenungleichheit oder rassistischer und sexistischer Ausgrenzung und Repression an. Wir nehmen wahr, dass XR-GB darauf reagiert hat und in der öffentlichen Repräsentation der Proteste inzwischen deutlich differenzierter auf diese Themen eingeht. In Deutschland hat u.a. Carola Rackete diese Perspektive innerhalb von XR durch eine Verknüpfung mit Fragen von Flucht und Migration prominent vertreten, so etwa bei ihre Rede auf der Blockade am großen Stern.
Die Blockaden in London wurden diesmal von zehntausenden Menschen aus ganz unterschiedlichen Milieus und politischen Gruppen getragenen. Der »Environmental Justice Block« (EJB), zu dem neben »The Wretched of the Earth« auch »Black Lives Matter« gehörten, trat offensiv für eine Skandalisierung der Tatsache ein, dass diejenigen, die am wenigsten zur Verursachung der Klimakatastrophe beigetragen haben, am härtesten von ihren Folgen getroffen sind. Diese Sichtbarkeit von »frontline communities« ist ein entscheidender Fortschritt für eine Klimagerechtigkeitsbewegung, die der globalen sozialen Ungleichheit in der Bekämpfung des Klimawandels Rechnung trägt. Wir wünschen uns auch von XR Deutschland, gezielt auf eine solche Öffnung der Bewegung hinzuarbeiten. Und das nicht nur, um dem Vorwurf zu begegnen, es handele sich bei XR bloß um ein paar weiße Mittelschichtshippies, die durch ihre Straßenpartys hart arbeitende Menschen davon abhalten, ihre Kinder von der Kita abzuholen. Wir glauben grundsätzlich, dass nur eine Bewegung, die die verleugneten Erfahrungen der Unterdrückten ins Zentrum rückt, darauf hoffen kann, jene umfassende Veränderung, die wir für eine lebenswerte Zukunft auf diesem Planeten brauchen, tatsächlich durchzusetzen.
Kofi Mawuli Klu, Koordinator des internationalen Solidaritätsnetzwerkes von XR in GB (und ein vor politischer Verfolgung aus Ghana nach Brixton geflüchteter Aktivist), benennt in diesem Zusammenhang ein Problem der XR-Strategie:

 

»Anders als andere, die die Bewegung von außen kritisieren, haben wir auf dem Versuch beharrt, Extinction Rebellion stärker für Menschen jenseits weißer Mittelschichten zu öffnen – aber es war schwierig. […] Rassifizierte, schwarze und migrantische Communities können es sich nicht leisten, verhaftet zu werden.«

 

Im oben erwähnten offenen Brief von »The Wretched of the Earth« wird dementsprechend zurecht unterstrichen:

 

»XR-Aktive sollten in der Lage sein, ihr Privileg, eine Verhaftung zu riskieren, zu nutzen, um zugleich auf den rassistischen Charakter von polizeilicher Überwachung und Kontrolle hinzuweisen. Obwohl einige solcher Analysen begonnen haben: Bis sie für die Organisierungsprozesse von XR zentral sind, reichen sie nicht aus.«

 

Die Philosophie der Gewaltlosigkeit und das strategisch begründete Bemühen von XR um konsequente Deeskalation sind völlig legitime Ansätze. Sie sollten aber nicht umschlagen in eine Verharmlosung der Repressionsapparate des Staates – nach dem Motto: »die machen auch nur ihren Job«. Lobeshymnen auf die »geliebte« Polizei konnten wir bei zahlreichen XR-Aktionen beobachten. Sie müssen all jenen bitter aufstoßen, die aufgrund ihrer sozialen Position oder ihres politischen Engagements regelmäßig staatlicher Gewalt ausgesetzt sind – und die in der Regel keine so relativ freundliche Behandlung erwarten können, wie viele XR-Aktive sie derzeit (noch) erfahren. Einzelne Polizist*innen als von der Klimakrise betroffene Menschen anzusprechen, kann sicher sinnvoll sein. Aber das sollte nicht über den Charakter des staatlichen Gewaltapparates hinwegtäuschen. Seine Hauptfunktion besteht darin, die herrschenden Macht- und Eigentumsverhältnisse abzusichern. Und umso erfolgreicher wir als Bewegung sind, umso mehr müssen wir damit rechnen, verschärfter Repression ausgesetzt zu sein. Es gibt unterschiedliche Arten, darauf zu reagieren. Es kann, abhängig von den Bedingungen, auch legitim sein, sich gegen Angriffe zu wehren. Auch denjenigen, die militantere Formen des Widerstands wählen, gilt unsere Solidarität, insoweit uns das Ziel eint, die gewalttätigen Verhältnisse zu überwinden.
Die verspielt-kuschelige Protestkultur trägt für einige sicher zur Attraktivität von XR bei. Sie birgt aber die Gefahr einer (wenn auch ungewollten) Ausgrenzung derjenigen, die sich diese Naivität buchstäblich nicht leisten können. Die »wir-haben-uns-alle-lieb«-Rhetorik wirkt auf viele Menschen aufgesetzt. Eine breite Bewegung kann nicht von allseitiger persönlicher Sympathie getragen sein. Die Vorstellung, wir müssten einander nur unsere Herzen öffnen, um aus dem Kreislauf des gegeneinander auszubrechen, erscheint eher als Ausblendung der faktischen Brutalität der sozialen Wirklichkeit. Jene, die diese Härten jeden Tag spüren, dürften davon befremdet sein und sich nicht repräsentiert fühlen.

 

3. Aufklärung und politische Gestaltung statt Beschwörung der Apokalypse

 

Entscheidend für das aktuelle Momentum von XR und Fridays for Future ist die massenhafte Realisierung der eigenen existenziellen Betroffenheit durch die Klimakatastrophe. Seit Gretas Aufforderung, in Panik zu geraten, greift auch in den westlichen Industrieländern und in materiell relativ gut gestellten sozialen Lagen die Erkenntnis um sich, dass noch zu unserer Lebzeit, spätestens aber in der unserer Kinder, kaum vorstellbare Verwüstungen drohen. Die Stärke von XR besteht nach unserem Eindruck vor allem darin, nach Formen zu suchen, diesem Schock einen gemeinschaftlichen, öffentlichen Ausdruck zu verleihen. Gefühle von Angst, Wut und Trauer werden in kollektive Aktion gewendet und so auch individuell bewältigt. Das abstrakte Wissen um die zukünftige Gefahr und die schon gegenwärtigen Katastrophen im globalen Süden genügt eben nicht. Die Bewegung muss das schwer fassbare Ausmaß der Bedrohung auch dauerhaft fühlbar machen, um die in der herrschenden Kultur »normale« Verdrängungsleistung des »weiter so« aufzubrechen.
Das erfordert viel Sensibilität und Achtsamkeit. Gerade weil die Befunde der Wissenschaft so erschütternd sind, muss genau und differenziert mit ihnen umgegangen werden. So richtungweisend die XR-Praxis von Aufklärungsvorträgen zur Ansprache und Mobilisierung von Menschen (gerade auch jenseits der Großstädte und der jungen Bewegungsmilieus) ist: Die XR-Erzählung eines mehr oder weniger unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruchs auch der westlichen Gesellschaften, ist ein Spiel mit dem Feuer. Die Lage ist zweifellos mehr als ernst. Wir werden voraussichtlich schon in naher Zukunft Kippunkte überschreiten und Teile des Planeten dürften unbewohnbar werden. Es stimmt: »Wir sind am Arsch« und die XR-Slogans vom Ende der Hoffnung sind eine vielleicht notwendige Provokation gegenüber den klassischen Befreiungserzählungen der Linken, die immer unglaubwürdiger werden. Aber die Szenarien sind so unsicher, wie die Zeithorizonte, in denen wir handeln können. Roger Hallam etwa behauptet, ein radikaler struktureller Umbau der globalen Wirtschafts- und Sozialsysteme müsse in den kommenden 12 Monaten erfolgen (eine offensichtlich unrealistische Vorstellung), sonst drohe der Kollaps. Bei einer solchen Erwartungshaltung dürfte der Grat zwischen Aktivierung aus dem Mut der Verzweiflung heraus und fatalistischer Resignation äußerst schmal sein. Die bei XR ständig wiederholten Bilder von Hunger, Krieg und Faschismus und die Warnung vor der Ausrottung allen menschlichen Lebens machen vor allem Angst. Und Angst ist eine Emotion, die eher dazu verleitet, die eigenen Privilegien noch härter gegen andere zu verteidigen. Das nutzt in der Regel rechten, autoritären Kräften. Euch als XR-Aktiven mag es zwar gelingen, gerade aus der Anerkennung der kommenden Katastrophen heraus Kraft für Aufrichtigkeit und Widerstand zu gewinnen. Aber in der Breite könnte diese Botschaft ganz andere Wirkungen entfalten.
Dagegen käme es darauf an, die Debatte über Transformationsstrategien zu vertiefen. Das ist auf Basis des XR-Grundkonsenses nach unserer Einschätzung vor allem möglich, indem die 3. Forderung nach einer Bürger*innenversammlung konkretisiert und weiterentwickelt wird. Hier überzeugt uns manches bisher überhaupt nicht: Ein Plan zum radikalen Umbau aller Bereiche von Wirtschaft und Gesellschaft zur Erreichung von Netto-Null-Emissionen kann kaum von einer einzelnen nationalen Bürger*innenversammlung ausgearbeitet werden (auch nicht mit Unterstützung von Expert*innen). Sie wäre heillos überfordert, weil die sozial-ökologische Wende eben nicht vergleichbar ist mit einer speziellen Streitfrage wie etwa der Liberalisierung des Abtreibungsrechtes in Irland (ein von XR oft genanntes Beispiel für eine erfolgreiche Bürger*innenversammlung). Auch die Vorstellung, dass die Umsetzung an die nationale Regierung zurückdelegiert werden soll, ist wenig plausibel. Schließlich wird auch bei XR wahrgenommen, dass unser politisches System korrumpiert ist. Es erschließt sich nicht, weshalb eine von Lobbyinteressen des Kapitals geprägte Regierung einen solchen Plan mit der nötigen Entschlossenheit umsetzten sollte.
Um den radikal-demokratischen Geist der 3. Forderung aus der Flasche zu lassen, müsste aus unserer Sicht klargemacht werden, dass nur eine Vielzahl solcher Versammlungen in allen Bereichen des öffentlichen Lebens Chancen auf tiefgreifenden Wandel eröffnet. Es muss um eine Verlagerung konkreter Gestaltungsmacht an die jeweils besonders betroffenen Bevölkerungsgruppen gehen. Wir diskutieren das in der iL auch unter dem Stichwort »Vergesellschaftung«: In allen Institutionen, Unternehmen und Handlungsfeldern sollen demokratische Mitbestimmungsrechte ausgebaut und Macht dezentralisiert werden. An die Stelle das Wachstumszwangs und der strukturell maßlosen Profitorientierung soll damit eine gesellschaftliche Steuerung der Wirtschaft treten: eine Ausrichtung an den Grundbedürfnissen aller Menschen sowie an sozialen und ökologischen Zielsetzungen. Eine konsequente Rückverlagerung von Macht an die Bürger*innen bedeutet in der Konsequenz aber nichts anderes als die Überwindung von Kapital, Staat und Patriarchat als den dominanten Herrschaftsformen bei der Regelung der gesellschaftlichen Naturverhältnisse. Und auf diesen Weg müssen wir uns hier und heute begeben.

 

4. Ein selbstkritisches Schlusswort

 

Keiner der von uns genannten Kritikpunkte trifft auf XR insgesamt zu. Es lassen sich immer Gegenbeispiele in den verschiedenen XR Ortsgruppen finden. Grundsätzlich sind wir sehr froh, dass mit XR eine neue, schnell wachsende Gruppe entstanden ist, die auf massenhaften zivilen Ungehorsam setzt – und die dabei offensichtlich viele Menschen erreicht, die wir in den letzten Jahren mit unserer Praxis nicht erreichen konnten. Auch wir müssen uns der Kritik stellen und fragen lassen, warum das so ist und was wir aus euren Erfolgen für unsere eigene Arbeit lernen können. Für die Suche nach Antworten ist hier zwar nicht der passende Raum. Aber wir möchten doch mit ein paar selbstkritischen Gedanken enden.
Die radikale Linke hat ein gewaltiges Problem mit ihrem rationalistischen Überschuss. Aus Erfahrungen des historischen Scheiterns heraus, stehen wir einer Politik des Affekts und des Pathos häufig misstrauisch gegenüber. Dabei vergessen wir aber manchmal, dass politischer Aktivismus nicht nur sachlich richtigen Argumenten folgt, sondern auch eine starke Gefühls-Ebene beinhaltet. Oft dominiert bei uns eine harte Debattenkultur, bei der ein Wort das andere gibt. Abgebrühte Coolness und völlige Verausgabung für die nächste Kampagne sind nicht selten stilprägende Verhaltensweisen. Nachhaltigen Aktivismus und einen achtsamen Umgang miteinander schreiben wir uns zwar auf die Fahnen, sehen in unserer Praxis aber viele Defizite.
XR rückt dagegen die Emotionalität ins Zentrum und das ist gut so. Darin liegt ein wichtiger Impuls gegen die patriarchale Kultur der Unterdrückung von Gefühlen, Intuition und körperlicher Sensibilität. Wir müssen neue, empathische »Beziehungsweisen« (vgl. Bini Adamczak) aufbauen, um – trotz allem – utopische Ausstrahlungskraft zu entwickeln, auch inmitten einer Welt, in der Verbitterung und Abgrenzung um sich greifen. Und wir müssen in unserer politischen Praxis mehr Raum für unvermeidliche Schmerz- und Verlusterfahrungen schaffen, mehr Wahrhaftigkeit wagen. Klimawandel macht Angst, Klimapolitik macht wütend und Klima-Aktivismus führt oft zu Verzweiflung und Ausbrennen. Darüber müssen wir alle mehr reden und sorgsamer miteinander umgehen, denn wir haben noch einen langen Kampf vor uns. Wir brauchen auch vielfältigere sinnliche Ausdrucksformen für all diese Gefühle. Die besten Analysen bewirken wenig, wenn es uns nicht gelingt, politische Leidenschaften jenseits unserer eigenen Szenekreise zu entfachen. Wie Greta und auch viele Repräsentant*innen von XR zeigen, müssen wir dafür als empfindsame Einzelne öffentlich stärker sichtbar werden. Dann wirken wir auch offener auf Menschen, die aus ganz anderen Zusammenhängen kommen.
Hoffnungsvolle Geschichten des Gelingens im Kleinen zu erzählen, bleibt dabei zwar wichtig. Aber sie reichen so wenig, wie vage Bilder einer ganz anderen Welt, die die Linke oft nur als Phrase aufruft und dadurch umso ferner erscheinen lässt. Die Vorstellung, dass wir besser nicht über die reale Klima-Katastrophe und die sich verdüsternden Zukunftsaussichten sprechen, dass wir bloß nicht den Teufel an die Wand malen sollen, weil das lähmt und demobilisiert, das war ein Fehler der »alten« Klimabewegung. Wenn XR fordert: »Sagt die Wahrheit!«, dann sollten wir uns das zu Herzen nehmen.

Insofern: Toll, dass es euch gibt und ihr uns herausfordert, neu nachzudenken. Dieser Text ist nur als Aufschlag für weitere Diskussionen gedacht. Wir möchten dazu gerne auf euren Vorschlag für einen runden Tisch zur Reflexion der Rebellionswoche und weiterer Perspektiven zurückkommen. Und wir hoffen, dass auch viele weitere klimapolitisch aktive Gruppen sich daran beteiligen werden.

 

 

Klimawandel und Wirtschaftswachstum

Alle wollen Klimaschutz – trotzdem setzen Politik und Zentralbank auf Wachstum. Wie kann der Ausstieg aus dieser Spirale gelingen?
Ulrike Herrmann, Sept. 2019, taz
Wer vorher Autos gebaut hat, könnte in Sozialberufen arbeiten? Diese Rechnung geht nicht ganz auf Foto: dpa

Es ist Zufall, aber trotzdem symbolisch: In Frankfurt bündeln sich derzeit die Dilemmata unserer Zeit. Am Donnerstag beschloss die Europäische Zentralbank, dass sie demnächst wieder Anleihen aufkaufen will – um das Wachstum anzukurbeln. Zeitgleich schlenderte Kanzlerin Merkel über die Automobilmesse und sagte nichts Konkretes zum Thema Klimaschutz – um das Wachstum der Branche nicht zu gefährden. Derweil entrollte Greenpeace beim VW-Stand ein Transparent mit der Aufschrift „Klimakiller“.

Für Samstag und Sonntag sind in Frankfurt weitere große Protestaktionen ­gegen die Automesse geplant. Denn klar ist: Die Klimaziele werden garantiert nicht erreicht, wenn weiterhin SUVs umherfahren.

Es ist zwar neu, dass auf der Automesse protestiert wird. Aber die Fronten sind altbekannt: Ökonomie steht gegen Ökologie – und im Zweifel siegt der Wunsch nach Wachstum. Viele Deutsche sind zwar schockiert, dass nun schon der zweite Dürresommer zu Ende geht und die Wälder vertrocknen. Auch der Streik der Schüler hat beeindruckt. Doch substanziell ändert sich nichts.

Derzeit verbraucht die westdeutsche Wirtschaft so viele Ressourcen, als ob sie drei Planeten zur Verfügung hätte – es gibt aber nur die eine Erde. Warum wird nicht umgesteuert?

Es gibt immer wieder Krisen – aber sie werden nur überwunden, solange es Aussicht auf neues Wachstum gibt

Der Verzicht auf Wachstum ist nicht so einfach, wie viele Klimaaktivisten glauben. Sie meinen häufig, dass es reichen würde, das Volkseinkommen ein bisschen umzuverteilen. Sehr plastisch hat es Tina Velo auf den Punkt gebracht, die die Protestaktion „Sand im Getriebe“ an diesem Sonntag in Frankfurt organisiert. Sie schlägt vor, die heutigen Mitarbeiter der Automobilkonzerne umzuschulen. „Wir werden Busfahrerinnen und Busfahrer brauchen, Pflegerinnen und Pfleger, Erzieherinnen“.

Keine Frage: Deutschland könnte deutlich mehr Personal in Altersheimen und Kitas gebrauchen. Trotzdem geht Velos Aussage am eigentlichen Problem vorbei, weil sie statisch denkt und den Prozess des Umbaus ignoriert. Bei ihr gibt es nur ein Vorher und ein Nachher: Jetzt arbeiten Hunderttausende in der Automobilindustrie – und dereinst sind viele von ihnen in Sozialberufen tätig.

Kapitalismus benötigt Wachstum

Das Problem taucht jedoch beim Übergang auf, und damit ist nicht gemeint, dass sich vermutlich viele Autobauer schwer damit tun dürften, plötzlich in einen Sozialberuf zu wechseln. Die Schwierigkeiten sind fundamentaler. Der Kapitalismus benötigt Wachstum, um stabil zu bleiben. Zwar gibt es immer wieder Krisen – aber sie werden nur überwunden, solange es Aussicht auf neues Wachstum gibt.

Alle sind sich einig, dass wirksamer Klimaschutz verlangt, dass weniger Autos gebaut werden. Doch damit würde eine Spirale nach unten einsetzen. Etwas vereinfacht: Weniger Umsatz bedeutet, dass die Autofirmen Mitarbeiter entlassen müssten, die dann auch weniger konsumieren könnten. Kneipen und Läden würden Kunden verlieren. Ganze Regio­nen würden verarmen und zugleich die gezahlten Steuern und Sozialbeiträge schrumpfen. Es wäre gar kein Geld mehr da, um die einstigen Autobauer in Kindergärten zu beschäftigen.

Für eine Wirtschaft ohne Wachstum gibt es kein Modell. Zwar wird das Ende der Steinkohle gern als Beispiel zitiert, wie ein Branchenwandel gelingen könnte. Doch dabei wird oft übersehen, dass die Ruhrkumpel nur neue Jobs finden konnten, weil die deutsche Wirtschaft ansonsten wuchs.

Bisher hat niemand systematisch erforscht, wie der Übergang in eine Postwachstumsgesellschaft aus­sehen könnte, die Krisen vermeidet und ein Einkommen für alle garantiert. Es wäre eine Aufgabe für die Volkswirte, die das Thema jedoch bisher ignorieren.

Die Proteste der Klimaaktivisten sind sehr wichtig. Man kann nicht drei Planeten verbrauchen, wenn man nur einen hat. Aber eine ökonomische Lösung fehlt noch, wie der Ausstieg aus dem Wachstum gelingen könnte – und muss dringend erforscht werden.


 

Von Tomasz Konicz   - 21.08.2019

Wer Klima und Menschheit retten will, muss an den Wurzeln ansetzen: Die kapitalistische Weltwirtschaft ist aufgrund der ihr innewohnenden, zunehmenden Widersprüche nicht in der Lage, die drohende Katastrophe abzuwenden. Ein Diskussionsbeitrag.

 

Besonders zu Beginn der Proteste der Fridays-for-Future-Bewegung prangerten deren Kritiker gerne die scheinbare Inkonsequenz der Streikenden an: Es seien größtenteils Mittelklasse-Kids, die von ihren Eltern mit lukrativen Jobs in energiehungrigen Konzernen in spritfressenden SUVs zur Demo chauffiert würden. Das Alltagsverhalten der Protestierenden würde also ihren eigenen Postulaten einer radikalen ökologischen Wende widersprechen. An wenigen Orten tritt dieses absurde Phänomen deutlicher zutage als in den "Autostädten" wie Wolfsburg oder eben Stuttgart, den Zentren der deutschen Exportindustrie, die den Verbrennungsmotor in alle Winkel der globalisierten Welt ausführt. Das Auto scheint den Regionen ihren Wohlstand zu verschaffen – und es ist Träger der drohenden ökologischen Verwerfungen.

Doch diese evidente Widersprüchlichkeit ist gerade keine Frage der subjektiven Heuchelei angeblicher "Gutmenschen", wie es die Neue Rechte in ihrer reaktionären Kritik der Klimaproteste gerne behauptet. Sie ist die Folge der dem Kapitalismus innewohnenden Widersprüche, die sich auch im Handeln der einzelnen Subjekte widerspiegeln. Konkret: Die soziale Existenz unterm Kapital ist gegenwärtig nur um den Preis der eskalierenden Klimakatastrophe möglich. Die kapitalistische Ökonomie ist, wie hier gezeigt werden soll, nicht in der Lage, die ökologische Krise zu lösen.

Wachstumszwang und endliche Ressourcen

Einen ersten Ansatzpunkt, die Unvereinbarkeit von Kapitalismus und Klimaschutz zu erfassen, bietet der Wachstumszwang, der die kapitalistischen Volkswirtschaften charakterisiert – die, sobald die Konjunktur erlahmt, in den Krisenmodus übergehen. Das permanente, uferlose Wachstum des Bruttosozialproduktes ist dabei nur der volkswirtschaftliche Ausdruck der Verwertungsbewegung des Kapitals. Als Kapital fungiert Geld, das durch einen permanenten Investitionskreislauf vermehrt, also "akkumuliert" oder "verwertet" werden soll.

Entscheidend dabei ist: Diese Akkumulationsbewegung ist an eine stoffliche Grundlage in der Warenproduktion gebunden. Der Verwertungsdynamik des Kapitals muss – einem Waldbrand gleich – immer neues "Brennmaterial" zugeführt werden. Spätestens seit dem Ausbruch der Finanzkrise ab 2007 dürfte klar geworden sein, dass der Prozess der Kapitalakkumulation an die Warenproduktion gekoppelt ist – und nicht etwa auf den Finanzmärkten aufgrund reiner Spekulationsprozesse dauerhaft aufrechterhalten werden kann.

Auch die Idee einer Dienstleistungsgesellschaft nach dem Vorbild der USA, die sich von der warenproduzierenden Industrie weitgehend entkoppelt haben, hat sich als Chimäre entpuppt. Ohne nennenswerte warenproduzierende Industrie geht die gesamte kapitalistische Volkswirtschaft langfristig vor die Hunde. Deswegen stellen die gegenwärtigen Handelskonflikte, insbesondere zwischen den USA und China, vor allem Kämpfe um Standorte der Warenproduktion dar.

 

Trump will die USA wieder "groß machen", indem er sie durch Protektionismus reindustrialisiert. Alle größeren Volkswirtschaften und Wirtschaftsräume sind bemüht durch entsprechende Politik, durch Protektionismus oder Exportorientierung, ihre Industrie zu halten oder auf Kosten der Mitbewerber zu sanieren. Der Exportweltmeister BRD ist hier das große Vorbild.

Die aktuellen Handelskriege sind damit eine implizite Bestätigung des Marx'schen Wertbegriffs. Demnach wird Wert hauptsächlich bei der Warenproduktion generiert. Ohne nennenswerten Industriesektor zerfällt die Dienstleistungsbranche in eine Elendsökonomie nach US-Vorbild, die Finanzmärkte gehen in Blasenbildung und Crashs über.

Wie gestaltet sich nun der Kernprozess der Verwertung von Kapital? Auf der bornierten betriebswirtschaftlichen Ebene scheint ja alles rationell abzulaufen: Ein Unternehmen investiert in Lohnarbeit, Rohstoffe, Maschinen, Produktionsstandorte, um die dort hergestellten Waren mit Gewinn zu veräußern – wobei die Lohnarbeit alleinige Quelle des Mehrwerts ist. Es ist die einzige, auf dem Arbeitsmarkt zu erwerbende Ware, die mehr Wert herstellen kann, als sie selbst wert ist. Letztendlich akkumuliert das Kapital immer größere Mengen verausgabter, abstrakter Arbeit. Hiernach wird das nunmehr vergrößerte Kapital reinvestiert – in mehr Rohstoffe, Maschinen etc., um einen neuen Verwertungskreislauf zu starten. Die scheinbare Rationalität kapitalistischer Warenproduktion auf betriebswirtschaftlicher Ebene dient somit gesamtgesellschaftlich einem irrationalen Selbstzweck, einer verselbstständigten und unkontrollierbaren Dynamik: Der uferlosen Vermehrung des eingesetzten Kapitals.

Der konkrete Gebrauchswert einer Ware ist dabei nur als notwendiger Träger des Mehrwerts von Belang. Und genauso sehen auch die Gegenstände aus, die diese kapitalistische Verwertungsmaschine ausspuckt: Sie sollen durch moralischen Verschleiß oder durch geplante Obsoleszenz möglichst schnell veralten, unbrauchbar und ersetzt werden, damit die Nachfrage nie gesättigt ist. Die Autoindustrie muss Jahr um Jahr neue Modelle auf den Markt werfen, Apple-Notebooks mit Unibody können kaum noch repariert werden, und nichts ist peinlicher als das iPhone vom vorletzten Jahr. Der Spätkapitalismus produziert buchstäblich für die Müllhalde, um hierdurch der stockenden Verwertungsmaschine immer wieder neue Nachfrage zu verschaffen. Und dies ist ja für jedes Marktsubjekt nur zu vernünftig.

Die Produktivitätsfalle

Auf gesamtgesellschaftlicher Ebene entfaltet diese Logik aber ihr verheerendes Potenzial, da mit erfolgreicher Kapitalakkumulation auch die Aufwendungen für den Produktionsprozess – Rohstoffe und Energie – permanent erhöht werden müssen. Somit gleicht schon das kapitalistische "Business as usual" einem Prozess der Verbrennung von immer mehr Rohstoffen. Die zusehends schwindenden Ressourcen dieser Welt bilden das immer enger werdende Nadelöhr, durch das sich dieser irrationale Prozess der Kapitalverwertung unter immer größeren Friktionen hindurchzwängen muss. Beide ökologischen Krisenprozesse – die Ressourcenkrise wie die Klimakrise – werden durch diesen Verwertungsprozess, der wie ein automatisch nach Maximalprofit strebendes Subjekt agiert, entscheidend befördert.

Das Kapital als verselbstständigte Dynamik (Marx sprach in diesem Zusammenhang vom "Fetischismus") ist aufgrund dieser Notwendigkeit permanenter Expansion das logische Gegenteil einer ressourcenschonenden Wirtschaftsweise, die notwendig wäre, um ein Überleben der Zivilisation zu sichern. Die Menschen sind unterm Kapital einer blindwütigen Verwertungsdynamik ausgeliefert, die sie buchstäblich selber erarbeiten.

 

Befeuert wird dieser Prozess der Weltverbrennung durch das immer höhere Produktivitätsniveau der kapitalistischen Weltwirtschaft. Hier ließe sich von einer regelrechten Produktivitätsfalle sprechen: Es sind gerade die ungeheuren Produktivitätssteigerungen der spätkapitalistischen Warenproduktion, die zur Eskalation der ökologischen Krise maßgeblich beitragen. Mit technologischen Fortschritten müsste es eigentlich möglich sein, Ressourcen immer effizienter zu verwerten – tatsächlich aber steigt ihr Verbrauch in der Gesamtbilanz Jahr für Jahr. Da die Lohnarbeit die Substanz des Kapitals bildet, führen die permanenten Steigerungen der Produktivität dazu, dass die "effiziente" Verschwendung von Ressourcen ins Extrem getrieben wird. Je höher die Steigerung der Produktivität, desto weniger abstrakte Arbeit ist in einem gegebenen Quantum Ware verdinglicht. Mit steigender Produktivität nimmt der Druck zu, immer mehr Waren abzusetzen. Wenn etwa ein Fahrzeughersteller die Produktivität um zehn Prozent bei der Einführung eines neuen Fahrzeugmodells erhöht – was durchaus branchenüblich ist –, dann muss er auch zehn Prozent mehr Autos umsetzen, um bei gleichem Produktpreis die gleiche Wertmasse zu verwerten – oder jeden zehnten Arbeiter entlassen.

Um den Verwertungsprozess des Kapitals aufrechtzuerhalten, müssen daher bei steigender Produktivität entsprechend mehr Waren produziert und abgesetzt werden. Je größer die Produktivität der globalen Industriemaschinerie, desto größer ist also auch ihr Ressourcenhunger, da die Wertmasse pro produzierter Einheit tendenziell abnimmt. Ein Versuch, in der kapitalistischen Weltwirtschaft eine ressourcenschonende Produktionsweise einzuführen, ist somit unmöglich – er käme einer Kapitalvernichtung gleich.

Es scheint absurd: Eine Produktivitätssteigerung, die eigentlich zur Realisierung einer ressourcenschonenden Wirtschaftsweise unabdingbar ist, wirkt im Kapitalismus wie ein Brandbeschleuniger. Denn die funktionalistische Rationalität muss stets dem irrationalen Selbstzweck uferloser Kapitalverwertung dienen. Aus diesem durch Rationalisierungsschübe ins Extrem getriebenen Verwertungszwang ergibt sich die besagte Tendenz zur immer weiter beschleunigten effizienten Ressourcenverschwendung.

Chimäre Green New Deal

Das globale Produktivitätsniveau lässt auch die Vorstellung einer ökologischen Energiewende binnenkapitalistisch zu einer Chimäre verkommen, die im Rahmen des "Green New Deal" gerade diskutiert wird. Die Idee, durch staatliche Investitionsprogramme mit der "Ökobranche" eine neue Leitindustrie zu etablieren, scheitert an der mangelnden Verwertung von Lohnarbeit in der Warenproduktion. Den notwendigen massiven Investitionen in eine entsprechende Infrastruktur stehen keine Massen von Arbeitsplätzen in der Ökobranche gegenüber, deren Besteuerung die Staatsinvestitionen tragen könnte.

Der Vergleich mit dem Fordismus kann hier lehrreich sein. Es ist illusorisch zu glauben, dass bei der Produktion in der "ökologischen" Industrie im 21. Jahrhundert solch hohe Beschäftigungseffekte erzielt werden könnten, wie sie im Zuge der Automobilmachung des Kapitalismus in den 1950er oder 1960er Jahren erreicht wurden. Solarzellen und Windkrafträder werden nicht so produziert wie Autos noch vor wenigen Jahrzehnten, als Tausende ArbeiterInnen an endlosen Montagebändern in genau festgelegten Zeitintervallen stupide Handgriffe tätigten. Bei der heute erreichten Automatisierung gelten auch für die Herstellung alternativer Energieträger ähnliche Probleme der "Überproduktivität", die die deutsche Autoindustrie und der Maschinenbau nur durch Exportoffensiven auf Kosten anderer Volkswirtschaften kompensieren können. Deswegen diskutieren auch alle über die Kosten, und nicht über die Chancen einer "Energiewende".

 

Ein ökologischer Wandel hätte sich allein wegen der krisenbedingt zunehmenden Konkurrenz zwischen Konzernen und Nationalstaaten längst durchgesetzt, wenn er einen Konkurrenzvorteil böte und den nationalen Standorten neue wachstumsstarke Industrien erschließen würde. Aufgrund des sehr ungünstigen Verhältnisses zwischen den gigantischen Kosten und der mageren reellen Verwertung von Arbeitskraft in der »Ökobranche« ist die Energiewende aber eher ein Klotz am Bein der Nationalstaaten im globalen Konkurrenzkampf. Deutschland hat es ja bereits im Rahmen seiner Energiewende versucht – mit bekanntem Ausgang. Inzwischen ist die Bundesrepublik einer der größten Klimasünder Europas. Ein kapitalistischer Green New Deal scheitert somit an den eskalierenden inneren Widersprüchen des hyperproduktiven Kapitalismus.

Zukunft nur jenseits des Kapitals

Dabei sind die materiellen und technischen Bedingungen einer ökologischen Wende längst gegeben. Das enorme Produktivitätspotential, das die Umweltzerstörung aktuell nur weiter beschleunigt, könnte jenseits des Kapitalverhältnisses zur Errichtung einer nachhaltigen Wirtschaftsweise beitragen. Erst wenn die gesellschaftliche Reproduktion nicht mehr dem Selbstzweck der Kapitalverwertung untergeordnet ist, sondern direkt der Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse dient, kann eine ökologisch nachhaltige Wirtschaftsweise umgesetzt werden. Eben dies müsste auch die sich formierende Klimabewegung reflektieren.

Beim Kampf gegen den drohenden ökologischen Kollaps geht es somit nicht um einen reaktionären Antiproduktivismus, um eine Rückkehr zu archaischen Produktionsweisen. Vielmehr müssten die technischen Möglichkeiten, die der Kapitalismus hervorgebracht hat, in einem ungeheuren transformatorischen Akt jenseits des Kapitalverhältnisses zum Aufbau einer nachhaltigen Gesellschaftsformation verwendet werden. Die Produktivitätsfortschritte, die derzeit nur die Verbrennung der globalen Ressourcen beschleunigen, würden dann tatsächlich deren Schonung ermöglichen. Es geht letztendlich, auch im Zusammenhang mit dem Kampf gegen die Klimakrise, um die Befreiung der Produktivkräfte aus den Fesseln der kapitalistischen Produktionsverhältnisse.

Die Überwindung des Kapitals als einer verselbstständigten gesamtgesellschaftlichen Dynamik stellt folglich eine Überlebensfrage der Menschheit dar. Die ökologische Bewegung müsste bei ihrer diesbezüglichen Argumentation somit nicht so sehr an die Moral der Menschen appellieren, sondern an ihren Überlebensinstinkt.