Marktplatz Memmingen, 2. Mai 2020. Bild: Wald-Burger8/CC BY-SA 4.0

Die politischen Gefahren der Corona-Krise. Wie steht es mit der "Tendenz zur Diktatur"?

Was kommt nach der aktuell fortdauernden Corona-Krise, auf die nach allgemeiner Erwartung wirtschaftliche Verwerfungen folgen werden - und welche politischen Gefahren drohen dabei?

Ein Risiko wurde dabei in diesen Spalten bereits benannt, in Gestalt dieser Fragestellung:

"Werden wir also (…) in den Regionen, die am stärksten von der Pandemie hinsichtlich der Opferzahlen betroffen wurden, einen Gang ins ausländerfeindliche Rechtsextreme erleben? Oder insgesamt einen Drift zum Rechtsextremen oder Völkisch-Nationalem?" (Hat die Spanische Grippe Deutschland in den Faschismus geführt? [1])

Vorbemerkung: Ein sehr spezifisch deutsches Partikularphänomen

In den folgenden Ausführungen soll dabei vor allem den Positionen und Strategien der zur extremen Rechten zählenden Kräfte selbst nachgegangen werden und dies in mehreren Ländern zugleich. Keine, jedenfalls abschließende Antwort kann dadurch auf die Frage gegeben werden, wie andere gesellschaftliche Akteure nun ihrerseits damit umzugehen haben - und vor allem, wie sich Linke und andere Kräfte zu Protesten verhalten sollen, an denen auch, aber nicht ausschließlich faschistische, verschwörungtheoretisch argumentierende und andere feindliche Kräfte teilnehmen.

Man denkt dabei unwillkürlich an die so genannten "Corona-Demonstrationen", die in der Form, wie sie derzeit in unterschiedlichen Städten in Deutschland stattfinden, tatsächlich ein sehr spezifisch deutsches Partikularphänomen darstellen - da liegt die bürgerliche [2] Presse [3] völlig richtig.

In Frankreich, Italien oder Spanien oder im Vereinigten Königreich gibt es jedenfalls keinerlei Äquivalent dazu; vielleicht fällt es in Deutschland auch deswegen ungleich leichter, genau gegen diese Maßnahmen auf die Straße zu gehen, weil dieses Land im Unterschied zu den vorgenannten Staaten (mit ihren weitaus höheren Totenzahlen) bislang relativ glimpflich durch die sanitäre Krise kam.

Auf einem anderen Blatt steht dabei, ob dies auch dann der Fall war, hätte man die Regierungsmaßnahmen gegen die Ausbreitung von Covid-19 unterlassen.

Dieses Phänomen ruft, wie sich auch aus den vorausgegangenen wochenlangen Diskussionen bei Telepolis ablesen lässt, auch innerhalb der - im weitesten Sinne gefasst - politischen Linken offensichtlich konträre Standpunkte hervor.

Der Autor dieser Zeilen hat eine Auffassung zu der Sache, jedoch kein Patentrezept zur Auflösung des Problems aufzubieten. Denn gäbe es eine Wunderlösung dafür, dann würde diese wahrscheinlich bereits Anwendung finden. Ein Axiom (d.h. als richtig vorausgesetzte Ausgangsbehauptung) soll dabei dennoch festgehalten werden.

So einfach wie manche Autoren, die sich das Problem gerne klein- oder schönzureden versuchen, um etwa als langjähriger Bewegungsmanager mal wieder an eine - vermeintliche - soziale Bewegungsdynamik andocken zu dürfen, darf man es sich nicht machen.

Wenn man etwa die gemeinhin als Corona-Demonstrationen bezeichneten Versammlungen im öffentlichen Raum einfach mal zu "Grundrechtsprotesten" und "Grundrechtsdemos" [4] deklariert und darüber eine ziemlich eindeutige und nahezu widerspruchsfreie Definitionsmacht für sich beansprucht, dann kann es nur schief gehen.

Jedenfalls wird über eine solche begriffliche und definitorische Vereinheitlichung jeglicher analytische Anspruch von vornherein aufgegeben, zugunsten einer Bewegungshuberei, die nach Einfluss unter den vermeintlichen Massen auf den Versammlungen - um die sich die Rede dreht - strebt.

Was aber, wenn ein als solcher bezeichneter "Grundrechtsprotest" im Konkreten unter anderem beinhaltet, wenngleich ohne sich darin zu erschöpfen, dass buchstäblich bekennende Nationalsozialisten Grundgesetze verteilen wie hier [5]?

Das Anliegen

Nein, das hat es übrigens in der Anti-AKW-Bewegung der 1970er oder der Friedensbewegung der 1980er Jahre in solcher Form überhaupt nicht gegeben, da wären die bekennenden Nazis eher schnell gelaufen. Im zuvor zitierten Beispiel ging es um einen Stadtrat der offen neonazistischen Kleinpartei "Die Rechte" in Dortmund. Dessen Partei zählt im niedersächsischen Braunschweig zu den Anmeldern von Demonstrationen zum Thema [6].

Wie erwähnt: Die Erscheinung dieses heterogenen und diffus daherkommenden Protests beschränkt sich nicht allein auf das Einwirken solcher Kräfte, auch wenn Rechtsextreme unter ihnen immer wieder manifest sichtbar werden (vgl. Photo Nummer 4 [7]).

Die Frage wird jedoch sein, wie es um das Anliegen solches Protests bestellt ist, wenn es genau solche Kräfte anzieht?

(Übrigens, dass Nazis sich als Hüter von Verfassungsrechten aufspielen - ohne in Wirklichkeit welche zu sein -, ist nicht neu. Sofern es ihren politischen Interessen dient, sind sie natürlich dazu in der Lage. Dies traf selbst auf Adolf Hitler zu: Als die Brüning-Regierung vor der Reichspräsidentenwahl 1932 die Direktwahl des Präsidenten durch das Stimmvolk abschaffen und das Staatsoberhaupt durch die Parlamentarier wählen lassen wollte, spielte sich der NSDAP-Chef kurzzeitig als Verfassungshüter auf.

Hintergrund dafür war einfach, dass die NSDAP bei der letzten Reichtagswahl 1930 noch 18,3 Prozent der Stimmen erhielt, sich zwei Jahre später aber doppelt so viele Stimmen versprechen konnte. Wenn Nazis von Verfassungsrechten sprechen, meinen sie die eigenen, mitunter tun sie dies aber lautstark.)

Erste Abgrenzungen: Verschwörungstheorien, links und rechts

Wir werden uns an dieser Stelle nicht länger damit aufhalten zu versuchen, die Begrifflichkeiten "rechts" (und "links") als solche zu definieren - es mag dahingestellt bleiben, ob es sich um die bestmöglichen Wörter zur Bezeichnung der betreffenden Inhalte handelt, sie weisen jedoch auf eine zweihundert Jahre alte Begriffsgeschichte zurück.

Aus ihr und nicht aus abstrakten Überlegungen ergibt sich, in welchem Begründungszusammenhang welches Ideologieelement steht und wie eine ideologische Strömung einzuordnen ist.

Hingegen weisen Wörter wie "Verschwörungstheorie" und "-theoretiker" bereits einen höheren Definitionsbedarf aus, da sie nicht auf eine langjährige Verwendungsgeschichte zurückblicken und durch diese definiert werden; und auch, weil es die Gefahr zu bannen gilt, dass dieselben als schlichte Totschlagsbegriffe gar willkürlich eingesetzt werden.

Es sei also vorgeschlagen, als "Verschwörungstheorie" ein Gedankengebäude zu bezeichnen, das auf der Vorstellung fußt, gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge basierten im Kern auf einer Form von Geheimwissen, das bei eingeweihten Individuen angesiedelt ist. Und in dem nicht Strukturen von Herrschaft oder Ungleichheit analysiert und benannt werden, sondern in einzelnen Personen verankerte, abgrundartig böse Absichten zur Urquelle aller gesellschaftlichen Übel hochstilisiert werden.

Solche Vorstellungen tragen zur Zerstörung der Vernunft in der Auseinandersetzung mit einer, tatsächlich kritisier- und veränderbaren Gesellschaftsordnung (wie dem bestehenden Wirtschaftssystem) bei und unterminieren dadurch auch die Möglichkeit, zu tatsächlicher Veränderung zu gelangen, da letztere eine rationale Erkenntnis und Erklärung des Ist-Zustands voraussetzt.

Nein, Herrschaft, Ausbeutung und Ungleichheit basieren nicht auf dem irgendwie von Natur aus bösen Willen einzelner Individuen (nehmen wir rein zufällig: Bill Gates); erst recht nicht von Personengruppen, die man etwa über ihre gemeinsame Abstammung definieren könnte (wie in der antisemitischen Variante von Verschwörungsideologie, die zu ihren gefährlichsten Ausformungen zählt).

Herrschaft, Ausbeutung, Ungleichheit und Umweltzerstörung basieren auf gesellschaftlichen Gesetzesmäßigkeiten - etwa dem Zwang zur Selbstreproduktion von Kapital und dem Konkurrenzprinzip - die bestimmte ihnen vorausgehende menschliche Verhaltensweisen aufgriffen, um ein komplexes Gesellschaftssystem herauszubilden.

Dessen Funktionslogik kritisieren zu wollen, dafür gibt es gute Gründe. Dieses Gesellschaftssystem funktioniert jedoch nicht auf der Basis von Geheimwissen einzelner Individuen, dann hätte es nämlich längst zu funktionieren aufgehört. Materielle Fakten über die Verteilung und Wirkung von Macht in dieser Gesellschaft sind jedem und jeder zugänglich, viele davon kann man täglich beispielsweise im Wirtschaftsteil von Zeitungen nachlesen.

Diese Fakten werden den Mitgliedern der Gesellschaft nicht etwa vorenthalten, die den herrschenden Verhältnissen verpflichteten Medien verschleiern lediglich manche Gesamtzusammenhänge oder legen falsche Schlüsse aus den einzelnen Informationen nahe.

Rechter Protest und Sozialproteste

"Rechter Protest" ist im Unterschied etwa zu vom Solidaritätsprinzip getragenen Sozialprotesten ein solcher, der nicht möglichst universelle gesellschaftliche Interessen formuliert und mit möglichst vielen anderen menschlichen Interessen auszuhandeln versucht - sondern entweder brutal Partikularinteressen (auf dem Rücken anderer Menschen) durchzusetzen versucht und/oder diesen Versuch durch das Einsetzen verschleiernder Ideologen vernebelt.

Dabei kann eine soziale Basis für "rechte" Bewegungen durch ein Verknüpfen von Wahnvorstellungen, politisch instrumentierten Vorurteilen und Ressentiments einerseits und dem Appell an Partikularinteressen andererseits mobilisiert werden. Dies gilt für unterschiedliche Formen "rechter" Bewegungsdynamik und "rechten" Protests, die selbstverständlich nicht alle miteinander gleichzusetzen sind, sei es für den "Poujadismus" (eine vorwiegend mittelständische und gegen Steuern gerichtete, aber auch antisemitisch grundierte Protestformation in Frankreich), sei es für rassistische Proteste; sei es im Extremfall auch für eine Partei wie die NSDAP.

Letztere war eine Organisation, die eine klare ideologische Grundlage hatte - von der ein Gutteil in den Bereich der Wahnvorstellungen gehört -, die aber im Laufe ihrer Existenz unter anderem auch Anhänger und Anhänger mit vorwiegend wirtschaftlich motivierten "Protestwahlmotiven" anzog und dadurch erfolgreich wurde.

Im Gegensatz zu den "Arbeiterparteien" in der Weimarer Republik zog die NSDAP jedoch viel verzweifelte Kleinbürger an, denen nicht beispielsweise am Erreichen sozialer Grundrechte für alle gelegen war, sondern an ihrer eigenen Rettung in Zeiten wirtschaftlich bedrohter Existenz - was immer es für andere kosten möge.

Um einem leicht zu formulierenden Einwand gleich vorzubeugen: Nein, nicht jede "rechte" Bewegung ist mit der NSDAP gleichzusetzen. Und auch die derzeit erfolgreichen rechtsextremen Wahlparteien in Europa weisen zwar manchmal historische Bezüge auch zur letztgenannten auf (die FPÖ in Österreich hatte einen ersten Parteivorsitzenden nach ihrer Gründung, Anton Reinthaller, der von 1939 bis 1945 Staatssekretär unter Adolf Hitler und Abgeordneter im gleichgeschalteten Reichstag war), funktionieren jedoch in ihrem Alltag sicherlich nicht wie die NSDAP.

Und dies aus einem einfachen Grund, weil die historische Periode nicht mit den 1930er Jahren gleichzusetzen ist und eine genau wie die damalige NSDAP auftretende Partei in historischen Kostümen heute notorisch erfolglos bliebe (wie die oben genannte Kleinpartei "Die Rechte").

Strukturelle Gemeinsamkeiten zu benennen, ist wichtig, bedeutet jedoch auf keinen Fall Gleichsetzung: Es gibt heutzutage nichts, was mit der NSDAP wesensgleich wäre. Aber es gibt neofaschistische Parteien und Kräfte, die unter den Bedingungen des Jahres 2020 (nicht denen von 1922 oder 1933) um den ihnen heute möglichen Einfluss ringen. Solche Kräfte mischen aus ebendiesem Grunde mitunter in "rechten" Protesten mit.

Nicht jeglicher Protest gegen die Maßnahmen, die keineswegs nur in Deutschland, sondern in der Mehrzahl der Staaten der Welt in Konfrontation mit der Covid-19-Pandemie ergriffen wurden, ist in diesem Sinne "rechts".

Dies hängt auch damit zusammen, dass die vorgenannten Maßnahmen als solche ebenfalls nicht alle über einen Kamm zu scheren sind; unter anderem auch deswegen, weil sie eben nicht von einer gigantischen Verschwörerzentrale mit eindeutigen (abgrundtief bösen) Absichten gesteuert wurden, sondern weil in vielen Staaten die Exekutive wochenlang zwischen unterschiedlichen Optionen hin- und herschwankte.

Bis Anfang März 2020 glaubten viele Regierungen in Europa noch an eine mögliche "Herdenimmunität", was auch den Wirtschaftsverbänden sehr gelegen kam - dies trifft bekanntlich für die schwedische Regierung zu, auf fragwürdigen wissenschaftlichen Grundlagen [8] und um den Preis von vielen Toten [9] - anfänglich auch für die französische und die deutsche bis zu ihrem Umschwenken in der ersten und vor allem zweiten Märzwoche, die britische unter Boris Johnson brauchte dafür etwas länger.

Dann aber fürchteten sie einen nahenden Zusammenbruch der Krankenhausversorgung, während Donald Trump in Washington D.C. und Jair Messias Bolsonaro in Brasilia ohne Rücksicht auf Verluste den vorherigen Kurs weiterfuhren.

In der Mehrzahl der Fälle weisen die Corona-Maßnahmenpakete, möchte man vereinfachende Oberbegriffe auswählen, je einen "sozialen" und einen "repressiven" oder "polizeilichen" Maßnahmenzug auf.

Zum Erstgenannten zählen die Gewährleistung, dass Lohnabhängige sich in der Periode unmittelbarer Kontaminationsgefahr dem Arbeitszwang entziehen konnten und für die Dauer der akuten Krise eine Form von Erwerbsarbeit entkoppelten Einkommens (etwa durch Kurzarbeitergeld, das in Deutschland im Krisenverlauf von 60 auf 87 % des Vergleichslohns hochgesetzt wurde, in Frankreich beträgt es 84 %) ausbezahlt bekamen.

Die repressive Seite des Corona-Gesamtpakets

Zum Letztgenannten zählen hingegen polizeilich überwachte Ausgehverbote wie u.a. in Frankreich - in keinem deutschen Bundesland herrschten dabei vergleichbare strenge Regelungen wie im Nachbarland - und die, leider zu erwartenden und dann auch eintreffenden, diskriminatorischen oder rassistischen Begleiterscheinungen des Ganzen. Diese existierten etwa (jedoch nicht nur) in den Trabantenstädten [10], wie auch selbst die französische Regierungssprecherin einräumte [11].

Diese "repressive" Seite des Corona-Gesamtpakets der Exekutive war im Übrigen in der Bundesrepublik, wo individuelle Ausgänge im Unterschied zu Frankreich nie verboten waren, wesentlich weniger ausgeprägt als in vielen vergleichbaren Ländern (auch außerhalb Europas wie etwa Indien). Und das ursprüngliche Maßnahmenbündel war seit Anfang Mai längst einem Wettbewerb unter Bundesländern (etwa Bayern und NRW [12], Stichwort "Öffnungsdiskussionsorgien") über Öffnungsbeschlüsse gewichen, just zu einem Zeitpunkt, als die Protestdemonstrationen erst richtig in Fahrt kamen.

Linke, die sich gar zu gerne an einen solchen Protest "anhängen" würden in dem Glauben, gerade an dieser Front eine vermeintliche Tendenz zur Diktatur zu bekämpfen, sollten eine gute Erklärung dafür parat haben - vor allem sollten sie aufhören zu übersehen, dass zwar nicht der "repressive", jedoch sehr wohl der "soziale" Aspekt des Corona- Maßnahmenpakets gerade auch gegen massive Widerstände der mächtigsten gesellschaftlichen Kraft durchgesetzt werden musste, nämlich gegen die (organisierten) Kapitalinhaber. Von Letzteren ging ja auch ein Teil des Drucks auf eine schnellstmögliche "Öffnung" aus.

Eine Diktatur, die derart kurzfristig ausgerichtet ist und überdies noch konträr zu wesentlichen Interessen des Kapitals (dem ungehinderten Fortgang der Mehrwertproduktion!) steht, ist eine seltsame Diktatur.

Dies festzustellen, bedeutet nicht, dass nicht die massive Drohung im Raum stünde, in naher Zukunft Elemente der "polizeilichen" Seiten der Corona-Maßnahmen in den "Normalzustand" überführt zu sehen: Selbstverständlich trifft dies zu, und selbstverständlich werden die staatliche Exekutive und ihr Apparat dazu tendieren, manche nun in der Krise erprobten Instrumente auch für andere Zwecke in ihren Händen zu behalten (Überwachung, Versammlungsverbote…).

Dies gilt es aktiv zu bekämpfen. Das bedeutet aber nicht, alle Formen von Sondermaßnahmen zur Bekämpfung der Seuchenausbreitung abzulehnen; vielmehr gilt es bei ihren sozialen Schutzaspekten, den Druck des Kapitals zu ihrer Abschaffung zu kontern.

Notwendiges Unterscheidungsvermögen

Auf dem Solidaritätsprinzip aufbauende Sozialproteste oder Handlungen von Gewerkschaften im Namen der abhängig Beschäftigten oder auch von fortschrittlichen Juristinnen und Juristen, richteten sich in diesem Zusammenhang in vielen Ländern gegen den "repressiven" Aspekt des jeweiligen Maßnahmenbündels - und gegen ihn allein.

In Frankreich klagten bspw. zwei NGOs erfolgreich gegen die Drohnenüberwachung von Ausgangsbeschränkungen [13], die Anwaltskammer klagte gegen andere repressive Bestandteile des Regierungspakets. Als mehr oder minder fortschrittlich einzustufender Sozialprotest richtete sich jedoch nie gegen die Idee einer sanitären Notsituation als solche oder gegen jegliche Form von Sondermaßnahmen vor dem Hintergrund einer solchen Ausnahmesituation.

Völlig im Gegenteil wurde bei solchen Protesten mit sozialer Basis und/oder gewerkschaftlichen Aktivitäten stets gefordert, das sanitäre Risiko ernstzunehmen und deswegen noch mehr Menschen aus dem Arbeitszwang zeitweilig herauszuholen (vgl. zu Frankreich hier [14] und zum dort gefällten Amazon-Urteil [15] und zu Italien [16]).

Und die Regierung wurde etwa dafür kritisiert, dass sie sich wochen-, ja monatelang als völlig unfähig erwies, eine Versorgung der Bevölkerung mit einer ausreichenden Zahl von Mundschutz-Masken zu gewährleisten, was bis heute bleischwer auf Emmanuel Macrons Bilanz lastet und zum echten Legitimitätsdefizit wurde [17].

Ja, sanitäre Sondermaßnahmen hätte es im Übrigen mit einiger Wahrscheinlichkeit im fraglichen Zeitraum in, sagen wir, einer Räterepublik mit einer Wirtschaftsgrundlage des Selbstverwaltungssozialismus ebenfalls gegeben. (Andere als die real durch die bestehende Regierung, ergriffenen, einverstanden.) Denn auch radikale Linke hätten in einem solchen Fall, also in einem aus ihrer Sicht optimalen Gesellschaftssystem, mit dem objektiven äußeren Problem umgehen müssen.

(Auch wenn es neben anderen Menschen ebenfalls manche Linke geben mag, die das sanitäre Risiko gern sträflich verharmlosten oder unterschätzten. Ein Linksradikaler in älteren Jahren in Frankreich war nicht schlecht erstaunt und dann empört, als er junge Leute, die sich als Anarchisten ausgaben, zu Anfang der Corona-Krise im Pariser Raum unter dem aus dem Spanischen entlehnten Motto "Viva la muerte!" durch die Straße streifen sah. Wohl in der Annahme, einen selbst werde es aufgrund des jungen Lebensalters ja schon nicht treffen. Dies mag zweifellos mit Dummheit mehr zu tun haben als mit Anarchismus.)

Wie aber verhält es sich in diesem Zusammenhang mit den "Corona-Demonstrationen" in Deutschland?

Keineswegs wird, jedenfalls in der Mehrzahl der Fälle, eine vergleichbare Unterscheidung etwa zwischen Maßnahmen zum echten Schutz der Bevölkerungsmehrheit und rein repressiven oder aber bestehende Ungleichheiten - etwa für Obdachlose - verschärfenden Aspekten getroffen.

Im Gegenteil wird vielfach Wert darauf gelegt, just solche Maßnahmen zu attackieren, die wirklich zum Gesundheitsschutz beitragen wie das Verteilen von Mundschutz-Masken und die Verpflichtung zu ihrem Tragen (von der selbstverständlich Menschen mit Hautallergien oder anderen medizinischen Gegenindikationen auszunehmen wären).

Wenn das "Protestmotiv" darauf basiert, dass man sich selbst zu fein ist zum Anlegen eines Mundschutzes, diesen als "Maulkorb" [18]abtut, ja, wenn andere Menschen für sein Tragen aggressiv angemacht werden [19], dann ist die Sache definitiv sehr weit vom Solidaritätsprinzip entfernt.

Auch in einer von Antiautoritären regierten Selbstverwaltungsrepublik würden hier, mit Verlaub, in manchen Fällen die Handschellen klicken. Und Drittgefährdung ist kein Spaß.

Völlig zu schweigen von schlichtweg irren Äußerungen wie der öffentlich vorgetragenen Behauptung: "Das Virus existiert nicht!" [20] oder wahnwitzigen historischen Vergleichen mitsamt NS-Relativierung [21], selbst dann, wenn Letztere nicht die Hauptintention gebildet haben mag.

Textauszug aus diesem Essay (hier vollständig und mit den Anmerkungen)

Bernhard Schmid (48) ist hauptberuflich Rechtsanwalt in Frankreich und ansonsten seit über dreißig Jahren in antifaschistische Aktivitäten involviert. Mehrere seiner insgesamt circa zehn Bücher behandeln die extreme Rechte:

Die Rechten in Frankreich: Von der Französischen Revolution zum Front National (Deutsch)
Die Neue Rechte in Frankreich [80]

Distanzieren, leugnen, drohen. Die europäische extreme Rechte nach Oslo [81]

 

 

Datum: 22.04.2020  -  aus: https://www.kontextwochenzeitung.de/debatte/473/die-argumente-der-coronaleugner-6673.html

 Die Debatte über die Corona-Pandemie wird in linken Kreisen kontrovers, oft auch verbissen geführt. Die Gefahren des Virus werden relativiert oder bestritten oder in einen großen Plan gebettet. Unser Autor unterzieht ihre Argumente einer ernsthaften Prüfung.

 1. Das Virus an sich.

 Als sich die Corona-Epidemie immer stärker in Europa auszubreiten begann, im Februar und in den ersten zwei Märzwochen, wurde das Virus in linken Kreisen noch vielfach mit einer "etwas heftigeren Grippe" verglichen. Das hat sich inzwischen aufgrund des drastischen Anstiegs der Todesfälle erledigt und ist von einer anderen Rhetorik abgelöst worden. In der Partei Die Linke wurde die Debatte um demokratische Rechte jüngst mit dem Schlenker eingeleitet: "Unabhängig von der Gefährlichkeit des Corona-Virus, sehe ich die Gefahr ..." Auf "Rubikon" schrieb Jens Wernicke: "Solange alle an den Killervirus glauben und alles mitmachen, sieht es übel aus..." Doch was genau die "Gefährlichkeit" beziehungsweise den Charakter des Killervirus ausmacht – das geht in derlei Debattenbeiträgen, die so auch im wissenschaftlichen Beirat von Attac laufen, meist unter.

Zum Stand 21. April 2020 starben weltweit 175.000 Menschen im Zusammenhang mit einer Corona-Infektion. Wie schnell sich das Virus ausbreiten kann, haben Virologen dutzendfach erklärt. Die Bundesregierung ließ bereits 2012/2013 in einer Risikoanalyse, die das Robert Koch-Institut (RKI) erstellte, vorrechnen, dass beim Auftreten eines solchen Corona-Virus – dort als "Modi-SARS-Virus" bezeichnet – "im gesamten zu Grunde gelegten Zeitraum von drei Jahren mit mindestens 7,5 Millionen Toten als direkte Folge der Infektion zu rechnen" sei (Bundestagsdrucksache 17/12.051, S. 64). Dabei ist logisch, dass die Grundannahmen eines theoretischen Virus' – Sterblichkeitsrate, Verbreitungsgrad, Inkubationszeit – nicht völlig identisch sein können mit dem nun tatsächlich auftretenden. Ein engagierter linker Journalismus müsste dennoch fragen, warum die Bundesregierung seither nochmals 120 Krankenhäuser geschlossen, Personal ausgedünnt und das RKI dazu die Klappe gehalten hat.

2. Von Vorerkrankungen und dem Alter der Toten.

Bei einem zweiten Topos in dieser Debatte wird direkt oder indirekt die Todesursache in Frage gestellt oder auf fatale Weise auf "das Alter" der Corona-Toten verwiesen. Die Plattform "Rubikon" hat dafür Fulvio Grimaldi aufgetrieben, der kritisiert, es werde nicht "zwischen Todesfällen mit COVID-19 und Todesfällen durch COVID-19 unterschieden". Der Autor konstatiert, dass es bei vielen der im Zusammenhang mit Corona Gestorbenen "bis zu drei schon vorher vorhandene schwere, ja sogar tödliche Krankheiten, neben einem Durchschnittsalter von über achtzig Jahren" gegeben habe: "Sie starben an Lungenentzündung, Diabetes oder Herz-Kreislauf-Kollaps, zu denen dann die Grippe noch hinzukam." Aber haben nicht 95 Prozent der Menschen im höheren Alter "Vorerkrankungen"? Kritisieren wir nicht, dass in der Statistik der Straßenverkehrstoten solche nur dann aufgeführt werden, wenn diese binnen 30 Tagen nach einem Straßenverkehrsunfall aus dem Leben schieden? Danach sind es Tote in Folge von Herzinfarkt, Grippe, Diabetes.

Und wie kann es sein, dass ernsthaft das ALTER als eine Todesursache genannt wird – im obigen Zitat direkt, in anderen Fällen indirekt? Dazu schrieb der Schweizer Arzt Prof. Dr. Paul Robert Vogt in seinem bemerkenswerten, humanistisch argumentierenden Beitrag in der "Mittelländischen Zeitung" vom 7. April 2020: "Mit guter Lebensqualität ein hohes, selbstbestimmtes Alter zu erreichen, ist ein hohes Gut. […] Und es ist das Resultat der Medizin, dass man auch nach drei Nebendiagnosen bei guter Lebensqualität ein hohes Alter erreichen kann. Diese positiven Errungenschaften unserer Gesellschaft sind nun plötzlich […] nur noch eine Last. […] Gewisse Kommentare haben den üblichen Geruch der Eugenik."

3. Aber Schweden!

Die Zahl der Länder, die eine andere Strategie zur Bekämpfung der Corona-Pandemie wählten, betrug bis vor kurzem noch ein Dutzend. Aktuell sind es nur noch wenige. Weißrussland und Brasilien zählen dazu. Doch damit will man sich als fortschrittlicher Mensch dann doch lieber nicht identifizieren. Auch wenn das Geschwätz, das es in diesem Zusammenhang gibt ("eine kleine Grippe" – Jair Bolsonaro; "eine Psychose", Alexander Lukaschenko) und die Strategie, die zur Anwendung kommt ("Herdenimmunität") einige Parallelen mit der hiesigen Debatte aufweisen. Es bleibt das "schwedische Modell" – das immerhin von einer sozialdemokratisch-grünen Regierung zu verantworten ist. Jetzt aber mal ernsthaft! Sind 1.765 Corona-Tote, Stand 21. April, ein Erfolg? Bei 10,3 Millionen Einwohnern? Was würden wir sagen, wenn es hierzulande – korrekt umgerechnet – 14.000 Corona-Tote geben würde (statt, Stand 21. April, 5.024)? Und wie kann es sein, dass in den Nachbarländern Norwegen und Dänemark, deren Bevölkerung jeweils nur ein Drittel so groß wie die schwedische ist, die Zahl der im Zusammenhang mit Corona Gestorbenen nur bei einem Fünftel (Dänemark; 364 Corona-Tote) beziehungsweise ein Zehntel (Norwegen; 181 Corona-Tote) liegt? Wobei diese Länder vergleichbar verfahren wie Deutschland. Doch so genau will man es dann doch nicht wissen.

4. Schuld ist der Gesundheitssektor.

Auf diese Aussage kann man sich als Linker leicht verständigen. Die Krankenhäuser wurden bekanntermaßen kaputtgespart. Dennoch ist das nur eine Teilerklärung. In einem Leserbrief auf den "Nachdenkseiten" wird zu Recht darauf hingewiesen, dass eine "ungehinderte Ausbreitung bis zur Herdenimmunität von 60-70 % (der Bevölkerung) jedes Gesundheitssystem überfordern und in Monaten Millionen Covid-19-Tote weltweit fordern" würde. Just solche Zahlen finden sich auch, siehe oben, in der Robert Koch-Institut-Studie aus dem Jahr 2013. Das deutsche Gesundheitssystem sieht aktuell noch stabil aus – doch warum? Vor allem deshalb, weil die Restriktionen, die von den Corona-Relativierern so wortreich beklagt werden, ein nicht zu bestreitendes Resultat hatten: Der Anstieg der Zahl der Infizierten wurde drastisch reduziert.

5. Was ist mit dem Straßenverkehr? Und Geflüchteten?

Verweise dieser Art sind äußerst problematisch. Ja, es gibt diese krasse Ungerechtigkeit der extrem unterschiedlichen Lebenswelten auf dem Planeten. Und ja, es muss das Ziel jeglichen von Humanismus geprägten Handelns sein, sich gegen diese Ungleichheiten aufzulehnen, einen Beitrag zu deren Abbau zu leisten oder zumindest über diese Zustände aufzuklären. Doch ein Aufrechnen, wie es in der aktuellen Debatte bei der Relativierung der Corona-Pandemie stattfindet, ist unsauber. Wir würden auch denjenigen kritisieren, der die tödlichen Folgen des Waffenbesitzes in den USA damit relativiert, dass er auf die nochmals brutaleren Folgen von Waffenbesitz in den brasilianischen Favelas verweist. Und wir würden denjenigen zusammenstauchen, der die 25.000 Straßenverkehrstoten pro Jahr in der EU relativiert, weil es weltweit Jahr für Jahr 400.000 Malaria-Tote gibt. Im Übrigen droht doch die folgende Kombination: In den Flüchtlingscamps auf den griechischen Inseln kann die Corona-Epidemie ausbrechen. Verweisen die Corona-Relativierer dann auch auf Vorerkrankungen? Auf das Alter von Corona-Toten? Darauf, dass das griechische Gesundheitssystem schuld sei?

6. Schutz der demokratischen Rechte.

Dieses Argument ist gewiss gut abzuwägen. Falsch ist jedoch, hier ein Entweder-Oder zu konstruieren, zu behaupten, es gelte konsequent die Grundrechte zu verteidigen. Punkt. Jede Einschränkung der Bewegungsfreiheit sei eine Einschränkung zu viel. Ein elementares Menschenrecht – wohl: das erste Menschenrecht – ist das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Das Recht auf Leben. Dieses Recht wird durch die Pandemie für Millionen Menschen gefährdet. Und der aktuell einzig erhältliche, wirksame Schutz des Lebens dieser Menschen besteht in Einschränkungen bestehender demokratischer Rechte wie dem der Bewegungsfreiheit. Anstatt grundsätzlich die Monstranz demokratische Rechte vor sich herzutragen, muss ein humanistisch geprägter Journalismus darauf abzielen, aufzudecken, wie einseitig die demokratischen Rechte abgebaut werden, welche kapitalen Interessen da durchscheinen: Autohäuser wurden geöffnet, Kitas bleiben geschlossen. Im öffentlichen Leben gilt die 1,50-Meter-Distanz. Am Arbeitsplatz muss oft Schulter an Schulter gearbeitet werden.

7. Es droht das Böse – mindestens Orwell.

In der aktuellen Pandemie erhalten Verschwörungstheoretiker neuen Zulauf. Hinter all dem stecke ein großer Plan. Die WHO werde von Bill Gates finanziert. Das böse Virus stamme aus dem Reich des Bösen schlechthin, aus China. Amazon, Pharma und KI wären am Ende die Sieger.

Das ist platt und falsch. Es waren auch hierzulande die Herrschenden und die Mächtigen, die ein Laissez-faire praktizierten. Viel zu lange. Als die VR China, als Südkorea, als Singapur, als Taiwan mit rigiden Maßnahmen Erfolg hatten, befanden sie, einschließlich des RKI, das sei hier nicht nötig. Sprich, sie erkannten sechs Wochen lang nicht ihre Chance auf Demokratieabbau. Im Gegenteil: Am 15. März mussten diese Ignoranten noch unbedingt relativ demokratische Virenschleuder-Kommunalwahlen in Bayern und in ganz Frankreich durchführen.

Es war dann die schnell ansteigende Zahl der Corona-Toten, die dazu führte, dass endlich die restriktiven Maßnahmen ergriffen wurden. Wer verteidigt denn noch die Bewegungsfreiheit? Es sind Jair Bolsonaro, Donald Trump, Boris Johnson, Mark Rutte und Jörg Meuthen, also rechte Politiker. Sie tun dies nicht aus Verbohrtheit, sondern weil sie die Interessen der Wirtschaft, und zwar der kapitalistischen Wirtschaft, vertreten. In Italien war es der Industriellenverband Confindustria, der sich massiv gegen die Restriktionen wandte und für "Freizügigkeit" eintrat – und dagegen gab es Streiks der Beschäftigten, die zu Recht, mit Rücksicht auf ihr eigenes Leben und auf das Leben ihrer Familien, die bestehenden Restriktionen verteidigten.

Man schaue sich die Zahlen und Fakten an. Weltweit mussten bislang acht Billionen US-Dollar zur Stützung der Ökonomie ausgegeben werden. Weltweit wurden bisher mehr als 20 Prozent der Werte der an den Weltbörsen gehandelten Konzerne vernichtet. IWF und Weltbank rechnen mit einem Welt-BIP-Einbruch von mehr als vier Prozent, mit einem Rückgang der Wirtschaft in der EU um bis zu zehn Prozent. Die Lufthansa und der Autozulieferer Leoni (mit 100.000 Beschäftigten): beide fast pleite. Boeing: fast pleite. Das soll "Orwell" oder Finanzdiktatur oder ein "großer Plan" sein?

Der Knacks als Chance

Die Lage ist zunächst mal die, dass das System der Herrschenden einen massiven Knacks bekam. Dass im Oberstübchen der Gesellschaft massive Verluste entstehen und Kapital vernichtet wird. Dass die Eliten immer neue Rettungspakete schnüren müssen und doch erkennbar kopflos handeln. Dass sie sogar für Arbeitende, für sozial Schwache, für Mieter, für Kleingewerbetreibende Geld ausspucken, das wir vorher in diesen Dimensionen nicht für denkbar gehalten hätten. Klar: Das ist zu wenig! Klar: Sie reichen die fettesten Beträge an die fettesten Kapitalisten weiter. Dennoch: Sie versuchen, den Laden ruhig zu halten, da sie selbst Angst vor sozialen Bewegungen haben, die sich gegen sie richten könnten.

Wie diese Krise enden wird, weiß niemand. Doch in dieser Krise steckt auch eine Chance: Millionen Menschen erkennen, dass die bestehende Wirtschaftsweise fehlgesteuert ist. Dass ein großer Teil des Wirtschaftens (Rüstung, Auto, Flugzeugbau, Luftfahrt, Werbung) unnötig, wenn nicht zerstörerisch ist. Dass ein Umbau ("Konversion") von großen Teilen der Wirtschaft notwendig ist. Dass damit gewaltige Kapazitäten an gesellschaftlicher Arbeit frei würden – für Arbeitszeitverkürzung, höhere Einkommen der durchschnittlichen Bevölkerung, für sinnvolle Investitionen in Energiewende, Verkehrswende, Kultur und Bildung. Dass Solidarität neu entwickelt und eine neue solidarische Gesellschaft, in der Mensch, dessen Gesundheit, der Schutz von Umwelt und Klima im Zentrum stehen, anzustreben sind. Um ein solches Denken zu beflügeln, sollten wir gehörig Gehirnschmalz investieren.


Winfried Wolf ist Chefredakteur der linken Wirtschaftszeitung "Lunapark" und legt zum 1. Mai die neue Publikation "Faktencheck: CORONA – Die Solidarität in den Zeiten der Pandemie" vor. Unterstützt wird sie u. a. von Sabine Leidig, Heike Hänsel, Tom Adler, Werner Sauerborn und Volker Lösch. Sie kann jetzt schon bestellt werden unter Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!. Mehr zum Inhalt hier.



siehe auch diesen Zeitungsartikel, ein offener Brief eines Klinikleiters aus der Schweiz:

COVID-19 - eine Zwischenbilanz oder eine Analyse der Moral, der medizinischen Fakten, sowie der aktuellen und zukünftigen politischen Entscheidungen
GASTKOMMENTAR von Prof. Dr. med. Dr. h.c. Paul Robert Vogt

 

 

Über Postwachstum und Corona:  Nico Paech (59) ist Volkswirt und der bekannteste Wachstumskritiker Deutschlands. Paech ist außerplanmäßiger Professor im Bereich Plurale Ökonomie an der Universität Siegen. Mitte März ist sein Buch „All you need is less“ über eine „Kultur des Genug aus ökonomischer und buddhistischer Sicht“ im Oekom Verlag erschienen.

In der Zwangspause vom Leistungsstress erkennen viele Menschen die Vorteile einer entschleunigten Gesellschaft, sagt Wachstumskritiker Niko Paech (27.04.20 - taz)

taz: Herr Paech, ist die Coronakrise eine Gelegenheit, das Wirtschaftswachstum und die damit einhergehende Umweltzerstörung dauerhaft zu bremsen?

Niko Paech: Ja, die Coronakrise ist eine Chance. Krisen decken Fehlentwicklungen auf: Die Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern wie Atemschutzmasken oder Beatmungsgeräten erscheint plötzlich gefährdet. Unser Wohlstandsmodell entpuppt sich als verletzlich. Darauf können wir angemessen nur mit einer Postwachstumsstrategie reagieren.

Was bedeutet das?

Wir müssen auf Wirtschaftswachstum verzichten. Die deutsche Wirtschaft beispielsweise müsste weniger komplex und autonomer werden, damit im Krisenfall alle substanziellen Güter vor Ort hergestellt werden können. Eine Deglobalisierung mindert zwar die Kostenvorteile der entgrenzten Arbeitsteilung, stärkt aber die Stabilität. Das hat ökologische und soziale Wirkungen.

Welche?

Kürzere Wertschöpfungsketten lassen sich demokratischer und ökologischer gestalten, weil wir leichter auf sie einwirken können. Gleichwohl kann dies die Arbeitsproduktivität senken. Also steigen die Preise, während die Auswahl und die Produktionsmengen sinken, tendenziell auch die Löhne. Einfach weil Unternehmen dann die Produktion nicht mehr so leicht in spezialisierte Teilprozesse zerlegen und sie an die jeweils kostenoptimalen Standorte verschieben können. Dann werden die Menschen sich nicht mehr so viel leisten können. Die bessere Welt kriegen Sie nicht zum Nulltarif. Aber das bringt Krisenstabilität und neue Arbeitsplätze, wenngleich weniger im akademisierten als im handwerklichen Bereich.

Das werden Regierungen nur machen, wenn die Wähler zustimmen. Ist das zu erwarten?

Noch gibt es dafür keine Mehrheit. Aber die Coronakrise deckt für mehr Menschen auch Sinnkrisen auf. Viele Menschen leben nicht nur materiell, sondern auch psychisch über ihre Verhältnisse. Durch die Zwangspause vom Leistungsstress spüren sie, was ihnen zuvor verborgen blieb: Ein stressfreieres und verantwortbares Leben zum Preis von weniger Konsum- und Reisemöglichkeiten ist vielleicht gar kein schlechter Deal, zumal sich die Balance zwischen beidem austarieren lässt. Manche werden gar nicht mehr zurück ins Hamsterrad wollen, sondern möchten etwas von dem, was sie jetzt als Entlastung erleben, in die Post-Corona-Zeit hinüberretten.

Warum sind Sie eigentlich da so optimistisch?

Es mehren sich Erlebnisberichte darüber, wie Menschen die freigestellte Zeit genießen. Viele räumen auf, reparieren, arbeiten im Garten, lesen viel oder wenden sich Familienmitgliedern zu.

Ist es nicht wahrscheinlicher, dass viele Leute ihre jetzt unterdrückten Konsumwünsche nach der Krise erst recht ausleben?

Kann gut sein, dass sich manche in „Wohlstandstrotz“ üben werden. Aber von Krise zu Krise wächst der Anteil der Menschen, die sich dem Steigerungswahn verweigern und ökologischen Vandalismus missbilligen. Das kann neue gesellschaftliche Konflikte verursachen – aber ohne die wird es keinen Wandel geben.

Viele Eltern haben in der Corona­krise sogar mehr Stress, weil die Kinderbetreuung fehlt. Zahlreiche Menschen entwickeln Zukunftsängste. Kann daraus wirklich etwas Positives entstehen?

Früher oder später wird die Angst um die Überlebensfähigkeit unserer Zivilisation größer sein als die Angst vor dem Wohlstandsverlust, der sich zudem begrenzen und ertragen ließe. Aber je weniger Konsequenzen Richtung Postwachstumsökonomie gezogen werden, desto mehr gilt: Nach der Krise ist vor der Krise.

Heißt das: Je häufiger Krisen kommen, desto schneller gibt es eine Mehrheit für Degrowth?

Ja. Die Lehman-Brothers-Krise 2009 galt als schwerster Einbruch seit dem Schwarzen Freitag 1929. Jetzt sind gerade kaum mehr als zehn Jahre vergangen und eine noch schlimmere Krise breitet sich aus. Die Einschläge rücken näher. Lehman, Corona und die absehbar nächsten Krisen haben dieselbe Ursache: eine Lebensform, die auf blindwütiger Digitalisierung, Entgrenzung und Wohlstandsmehrung beruht. Weil diese Entwicklung weitergeht, sind die Ursachen der nächsten Krise bereits angelegt.

Inwiefern?

Im Wettbewerb um die Wählergunst überbieten sich Parteien darin, kurzfristig Symptome zu lindern, also alles, was nicht bei fünf auf den Bäumen ist, mit viel und billigem Geld zu übergießen, statt Strukturen so zu verändern, dass langfristig das Krisenrisiko sinkt. Insoweit dies auf Schulden basiert, steigt die Wahrscheinlichkeit einer Finanzkrise. Es fehlt der Mut, eine Vermögensabgabe oder einen Lastenausgleich in Gang zu bringen, um diese Kosten durch Umverteilung zu finanzieren. Die Angst davor, dass dies Wählerstimmen kostet, ist noch zu groß.

Microsoft-Gründer Bill Gates sagt: Es wird zum Beispiel weniger Geschäftsreisen geben und dafür mehr Videokonferenzen. Gibt das Hoffnung?

Wenn Bill Gates das sagt, verbirgt sich dahinter die Hoffnung auf den Durchmarsch der Digitalisierung. Aber die Coronakrise ist gerade eine Krise der Digitalisierung.

Das Virus ist doch nicht über das Internet übertragen worden.

Ohne hinreichende Globalisierung des Personen- und Güterverkehrs wäre aus einer Epidemie keine Pandemie geworden. Und die entgrenzte Verflechtung zwischen Ländern beliebiger Entfernung, so auch zwischen China und Europa, ist ein Produkt der Digitalisierung – ganz gleich ob durch erschwingliche Direktflüge von Wuhan nach Italien oder intensive Wertschöpfungsbeziehungen. Nur kraft digitaler Medien konnte der bayerische Autozulieferer, bei dem der erste deutsche Coronafall festgestellt wurde, in China produzieren: Eine chinesische Webasto-Mitarbeiterin trug das Virus nach Deutschland. Die Digitalisierung ist zugleich Basis und Brandbeschleuniger aller Modernisierungskrisen.

In welchen Bereichen sollte die Globalisierung zurückgefahren werden?

Wenn Produkte, für die globale Lieferketten oder Verflechtungen in Kauf genommen werden, eines dieser vier Kriterien erfüllen, sollten sie im Inland erzeugt oder komplett vermieden werden. Erstens: Sie sind purer Luxus. Zweitens: Sie verursachen große ökologische Schäden. Drittens: Ihre Bereitstellung ist von sozialen Verwerfungen begleitet. Oder viertens: Sie sind so essenziell, dass ihre auswärtige Produktion zu kritischen Abhängigkeiten führt.

Konkret: Auf welche Produkte sollten wir verzichten?

Ein Leben ohne Mango, Kiwi, Avocado und Futterimporte für die Fleisch­industrie zum Beispiel ist erträglich. Das gilt auch für Kreuzfahrten und Urlaubsflüge.

Warum nennen Sie Lebensmittel zuerst?

Es handelt sich um das substanziellste Grundbedürfnis. Außerdem verursacht die konventionelle Landwirtschaft aufgrund ihres globalen Verflechtungsgrades soziale und ökologische Verwerfungen: Landgrabbing, die Urwaldzerstörung für den Futtermittelanbau, die Überschwemmung afrikanischer Märkte mit Hähnchenteilen und vieles mehr. Weiterhin leisten wir uns den Luxus einer quasi Sklavenhalterwirtschaft, indem Fremdarbeiter aus Rumänien sogar eingeflogen werden, weil es unter der Würde junger Menschen in Deutschland ist, die für den Wohlstand nötige Arbeit selbst zu verrichten. Landwirtschaftliche Arbeit müsste wieder attraktiver werden – als Alternative zu Work and Travel und Akademisierungswahn.

Eine umweltfreundlichere Landwirtschaft setzt zum Beispiel weniger Pestizide ein. Deshalb werden mehr Arbeitskräfte etwa zum Unkrautjäten benötigt. Wie wollen Sie Leute motivieren, auf den Höfen zu arbeiten?

Die Attraktivität steigern würden angemessene Löhne und eine 20-Stunden-Woche, sodass Freiräume für andere, auch wissensintensive Aktivitäten entstehen. Zudem erhöht der ökologische Landbau die Sinnstiftung und Reputation der Arbeit.

Gerade haben wir kein Wachstum mehr – und die Arbeitslosigkeit steigt. Zeigt das, dass Degrowth schädlich ist für uns?

Auch für einen Bankräuber ist es schädlich, ihm die Beute zu entreißen. Unser Wohlstand resultiert nicht aus eigener Arbeit, sondern technologisch verstärkter Plünderung, bedürfte also ohnehin einer Korrektur. Arbeitslosigkeit kann durch eine verringerte Erwerbsarbeitszeit vermieden werden, sagen wir: 20 Stunden pro Woche. Daran ließe sich die wichtigste Maßnahme knüpfen, um soziale Verwerfungen zu vermeiden: nämlich Menschen unabhängiger von Konsumbedürfnissen werden zu lassen. Dies gelingt erstens durch mehr Genügsamkeit, die keinen Verzicht, sondern eine Befreiung von Reizüberflutung bedeutet: „All you need is less“ nennen mein Co-Autor Manfred Folkers und ich die neue Maxime. Zweitens sollte die Versorgung teilweise in eigenen Händen liegen, indem Produkte erhalten, repariert, mit anderen geteilt und auch selbst produziert werden. Eine Wirtschaft des Teilens und der Nutzungsdauerverlängerung – auch auf Basis neuer Märkte und Unternehmen – ist eine weitere Alternative zur krisenbehafteten Globalisierung.

Freuen Sie sich über den aktuellen Konjunktureinbruch?

Nein. Wachstumskritik sieht keine Schocktherapie vor, sondern eine sozial verträgliche Transformation.

 

Während in Deutschland die meisten Demonstrationsversuche von der Polizei aufgelöst werden, versammelten sich am Sonntagabend (19.April) in Tel Aviv, der größten Stadt Israels, mehrere tausend Menschen zu einer Protestkundgebung gegen die „Aushöhlung der Demokratie“ durch die Regierung von Benjamin Netanjahu.

Aktionen dieser Art, für die (neben der blauweißen Nationalflagge) schwarze Fahnen zum Symbol geworden sind, finden trotz aller sonstigen, durchaus einschneidenden Beschränkungen des Lebens schon seit Wochen statt. Die Teilnahme an Demonstrationen gehört in Israel neben dem Einkaufen und Arztbesuchen zu den lebenswichtigen Tätigkeiten, die von dem allgemeinen „Lockdown“ ausgenommen sind.

Die gestrige Kundgebung auf dem Rabin Square - benannt nach dem sozialdemokratischen Regierungschef, der dort 1995 von einem rechtsextremen Fanatiker ermordet wurde – trug erstmals einen ausgesprochen politischen Charakter. Zu den nach Veranstalterangaben mehr als 5.000 Menschen, die den vorgeschriebenen Sicherheitsabstand einhielten, sprachen die wichtigsten Vertreter der Opposition: Jair Lapid und Mosche Ja’alon, deren Parteien am ehesten mit der FDP zu vergleichen sind, Ayman Odeh von der überwiegend arabischen Gemeinsamen Liste, und der Abgeordnete Jair Golan von der linken Meretz-Partei. Diese Kombination wäre noch vor wenigen Monaten unmöglich gewesen, weil die Gemeinsame Liste von fast allen anderen israelischen Parteien konsequent ausgegrenzt wurde.

Die mit dem Coronavirus begründeten Beschränkungen sind ansonsten in Israel ungewöhnlich streng. So wurde erst vor wenigen Tagen der Umkreis um die eigene Wohnung, in dem man Spazierengehen oder Sport treiben darf, wenigstens von 100 auf 500 Meter erweitert. Die Zahl der Teilnehmer an familiären und religiösen Feierlichkeiten bleibt auch nach den gerade verkündeten Erleichterungen auf 20 beschränkt. Aber man begreift dort offenbar, dass das Demonstrationsrecht nicht Gegenstand von Notverordnungen sein darf.

Ganz anders in Deutschland: Selbst kleinste Kundgebungen von mehr als zwei Personen sind verboten, sofern Gerichte nicht im Einzelfall anders entscheiden. Aber sogar die wenigen Urteile, die von deutschen Politikern der Linken als „ermutigend“ gelobt werden, sind meist mit Formfehlern der Verbote begründet und beinhalten sehr niedrig angesetzte Höchstgrenzen für die Teilnehmerzahl. Das lässt im besten Fall peinliche Karikaturen üblicher Demonstrationen zu.

Wir sollten beginnen, das deutsche Grundgesetz mit anderen, aufmerksameren Augen zu lesen. Alles, was dort solide garantiert erscheint, ist in Wirklichkeit jederzeit aufhebbar. Betrachten wir zum Beispiel den Artikel 8. Dessen erster Absatz lautet: „Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln“. Aber sein zweiter Absatz besagt ohne Erläuterungen: „Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden“.

Gerichtsurteile über die gegenwärtig verhängten Verbote fallen von Stadt zu Stadt, von Bundesland zu Bundesland unberechenbar unterschiedlich aus. Das bestätigt den zynischen Spruch, der jedem deutschen Juristen schon im ersten Semester auf den Weg gegeben wird: „Auf hoher See und vor Gericht ist der Mensch in Gottes Hand“.

Nach Ansicht der Bundesregierung soll es unabsehbar lange so weitergehen. Die Kanzlerin und andere maßgebliche Politiker stimmen die Bevölkerung darauf ein, dass „wir“ mit einigen der verordneten Freiheitsbeschränkungen „noch sehr lange leben müssen“. Zumindest bis zur Entwicklung eines Impfstoffs gegen das „neuartige“ Corona-Virus, sagt Angela Merkel. Das Mittel müsste dann allerdings noch ausreichend getestet, in großen Mengen produziert und vermutlich allgemein verpflichtend durchgeimpft werden.

Wie lange kann das noch dauern? Der Multimilliardär Bill Gates, der oft als „Impfpapst“ bezeichnet wird und an der Materie in höchstem Maß geschäftlich interessiert ist, spricht von mindestens 18 Monaten und hält diese Einschätzung für optimistisch, da dieser Vorgang normalerweise viel länger dauere:

https://www.telegraph.co.uk/global-health/science-and-disease/masks-tests-treatments-vaccines-need-global-approach-fighting/

Es könnte noch schlimmer kommen: Einer der wichtigsten Experten auf diesem Gebiet,  David Nabarro, hat gerade verkündet, die Menschheit werde mit der Bedrohung durch das Corona-Virus „auf absehbare Zukunft leben müssen“. Es sei nämlich überhaupt nicht sicher, dass dagegen jemals ein Impfstoff hergestellt werden kann. Nabarro ist Professor für Globale Gesundheit am Londoner Imperial College und einer der Sonderbeauftragten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für die COVID-19-Erkrankung, die vom Corona-Virus ausgelöst werden kann:

https://www.theguardian.com/world/2020/apr/18/dont-bet-on-vaccine-to-protect-us-from-covid-19-says-world-health-expert#maincontent

Vor diesem Hintergrund wäre es fatal, wenn die deutsche Linke bei ihrer gegenwärtig vorherrschenden Haltung bliebe, die zeitlich unbegrenzte Außerkraftsetzung zentraler Grund- und Menschenrechte als alternativlos notwendig zu akzeptieren und sogar für deren Akzeptanz durch die Bevölkerung zu werben. Es geht nicht um eine „kurze Durststrecke“. Es geht nicht um drei Monate oder ein Jahr. Es geht um unsere Zukunft auf lange Sicht.

20. April 2020

 

Die Corona-Krise legt offen, dass eine andere Gesellschaft möglich ist. Ob sie unter den jetzigen Bedingungen eine bessere wird, ist allerdings zu bezweifeln.
 

 

Von Klaus Dörre  -  17.04.2020 ( Dörre ist Gründungsmitglied des Institut Solidarische Moderne und Mitglied im wissenschaftlichen Beirat von Attac)

 

Die Welt ist im Ausnahmezustand. Ursache ist COVID-19 – ein Virus, für das es derzeit keine Therapie gibt. Dieser Krankheitserreger wirkt antisozial. Der einzige Schutz ist Social Distancing. Hält man Abstand und bleibt zuhause, bedeutet das radikale Entgesellschaftung, ja Entgemeinschaftung menschlichen Lebens. Jede andere Person kann das Virus übertragen. Deshalb müssen soziale Netzwerke und digitalisierte Kommunikation einstweilen ersetzen, was sonst Direktkontakte zwischen Menschen leisten.

 

Steckt in der Corona-Krise dennoch eine Chance? Manche Debatten in den Sozialwissenschaften, aber auch in gesellschaftlichen Öffentlichkeiten legen das nahe. Ich halte von solchen Einschätzungen nichts. Werden sie aus der Bauchnabelperspektive privilegierter Professoren mit hohen Einkommen und schönen Wohnungen geführt, wirken sie bestenfalls peinlich. Nur wer sich selbst dauerhaft auf der sicheren Seite wähnt, kann den Shutdown als günstige Gelegenheit zu Entschleunigung und der Abkehr von Wachstumszwängen interpretieren. Werden die Bauchnabelperspektiven saturierter Milieus generalisiert, können all jene, die unter den Einschränkungen massiv leiden, das wohl nur als zynisch empfinden.

 

Um es klar zu sagen: An der Pandemie und der von ihr verursachten globalen Gesellschaftskrise ist nichts gut. Statt die oft gehörte Phrase von der Krise als Chance einmal mehr zu variieren, macht es Sinn, nach der gesellschaftsverändernden Dynamik der Pandemie zu fragen.

 

Die Seuche ist ein externer Schock, der Gesellschaften jedweden Typs hart trifft. Wir kennen dies aus den Analysen Fernand Braudels. Der Kapitalismus werde nicht »durch endogenen Zerfall zugrunde gehen«, »nur ein äußerer Stoß von extremer Heftigkeit im Verein mit einer glaubwürdigen Alternative« könne »seinen Zusammenbruch bewirken«, lautete die Prognose des bekannten Historikers.

 

Ist die Corona-Pandemie ein solcher Stoß? Wir wissen es nicht. Offensichtlich ist jedoch, dass eine glaubwürdige Alternative zum Kapitalismus derzeit nur in vagen Umrissen existiert. Deshalb ist es grundfalsch, dem Wünschbaren den Rang eines wahrscheinlichen Zukunftsszenarios zu verleihen.

 

Eine humane und materielle Katastrophe

 

Um ein Gespür für die Politische Ökonomie der Krise zu entwickeln, müssen wir uns zunächst vor Augen führen: COVID-19 ist lebensgefährlich. Die Pandemie bedroht Hunderttausende mit dem Tod, macht Millionen erwerbslos und nimmt Milliarden zeitweilig wichtige Grundrechte. Je länger die Pandemie dauert, desto gewaltiger werden sich ihre kulturellen, sozialen und ökonomischen Destruktivkräfte entfalten.

 

Zweifellos steuert die Weltwirtschaft auf eine tiefe Rezession zu, die laut IWF heftiger ausfallen könnte als der globale Crash von 2007-9. Im optimistischsten Fall endet der Shutdown nach wenigen Wochen. Selbst dann müssten Staaten wie Deutschland mit Wachstumseinbrüchen von ca. vier Prozent rechnen. Ein dreimonatiger Shutdown könnte zu einem wirtschaftlichen Einbruch um bis zu 20 Prozent führen. Die Bundesrepublik hätte dann bis zu 5,5 Millionen Menschen in Kurzarbeit. Das geschähe in einem reichen Land, welches trotz aller Einschnitte noch immer über einen wirkmächtigen Wohlfahrtsstaat verfügt.

 

Wo derartige Sicherheitsnetze nicht oder nur rudimentär vorhanden sind, werden die Folgen ungleich heftiger ausfallen. Allein in den USA haben sich binnen einer Woche etwa sechs Millionen Menschen erwerbslos gemeldet. Die Abermillionen informell Tätiger und illegal lebender Migranten, für die Abstandhalten überall auf der Welt unmöglich ist, werden nicht einmal von der Arbeitslosenstatistik erfasst.

 

Absehbar ist, dass jene Staaten am besten durch die Krise kommen werden, die über ein robustes Gesundheitssystem und einen halbwegs krisenfesten Wohlfahrtsstaat verfügen. Damit ist auch klar, wer die Krisenfolgen besonders hart zu spüren bekommt – in Europa die süd- und südosteuropäischen Gesellschaften. Die hohen Todesraten bei Corona-Infizierten in Spanien und Italien hängen zweifellos mit Einsparungen im Gesundheitswesen zusammen, die von der europäischen Austeritätspolitik erzwungenen wurden. Auch in Großbritannien ist ein ausgeblutetes Gesundheitssystem für die hohe Mortalitätsrate mitverantwortlich. In diesen Staaten und selbst in den USA ist die Lage aber noch ungleich besser als in den meisten Ländern des globalen Südens.

 

Am verwundbarsten ist wohl der afrikanische Kontinent. Während das Verhältnis von Ärzten zu Menschen in Europa durchschnittlich bei 1:300 liegt, kommen in Subsahara-Afrika etwa 5.000 Menschen auf einen Arzt. Nur Südafrika verfügt über ein halbwegs ausgebautes Gesundheitswesen mit 3.000 Intensivbetten. Die Millionen, die in Elendsquartieren hausen, teilweise an Unterernährung leiden und Social Distancing nicht einhalten können, haben dem Virus wenig entgegenzusetzen. Sollte sich die Pandemie in den 54 afrikanischen Staaten rasch ausbreiten, könnte sie im schlimmsten Fall bis zu zehn Millionen Menschen das Leben kosten.

 

Zerreißproben auf allen Ebenen

 

Solche Katastrophenszenarien vor Augen wird klar, weshalb Staaten, die es sich leisten können, alles daransetzen, um den Shutdown wirtschaftlich zu überbrücken. Vieles, was lange als unumstößliche ökonomische Wahrheit galt, wird nun über Bord geworfen: Schuldenbremse – passé! Schwarze Null in öffentlichen Haushalten – war gestern, Staatsschulden – absolut angesagt! Die US-Regierung investiert mehr als zwei Billionen Dollar, um ihre Wirtschaft zu stabilisieren. Auch Deutschland und die EU legen Rekordprogramme auf. Doch ist dies bereits ein Indiz für einen nachhaltigen wirtschaftspolitischen Paradigmenwechsel?

 

Ein Blick auf die europäische Realität weckt Zweifel. Zwar fragen sich viele, wie es zu bewerten ist, dass die kapitalistische Weltwirtschaft zum zweiten Mal binnen zehn Jahren mit nicht-marktwirtschaftlichen Mitteln gerettet werden muss. Als »schwarzen Schwan« wird man solche Ereignisse künftig sicher nicht mehr abtun können. Dennoch hoffen politische und Wirtschaftseliten in erster Linie auf einen raschen Wachstumsschub nach der Pandemie. In Deutschland sagen regierungsnahe Ökonomen, die »Wirtschaftsweisen«, in einem von mehreren Risikoszenarien fast fünf Prozent Wachstum für 2021 voraus. 

 

Ob es dazu kommt, ist völlig ungewiss. Für den »Exportweltmeister« Deutschland hängt vieles davon ab, wie rasch sich Länder wie China und die europäischen Nachbarn erholen. Während sich in China bereits ein fragiler ökonomischer Aufwärtstrend abzeichnet, bereitet die europäische Binnenökonomie die größten Sorgen. Eigentlich müsste die Bundesregierung deshalb an raschen Hilfen für die am stärksten gebeutelten Länder der EU hochgradig interessiert sein. Stattdessen blockiert sie im Bündnis mit den Niederlanden Corona-Bonds.

 

Dieses Instrument würde eine gemeinsame Kreditaufnahme der EU-Staaten an den Finanzmärkten als solidarisches Mittel der Krisenbewältigung ermöglichen. Dass sich der italienische Premier Giuseppe Conte in Sachen Corona-Bonds quasi als Bittsteller per TV an die deutsche Bevölkerung wenden musste, während in der Merkel-Regierung vor allem über das Tragen von Mundschutz diskutiert wurde, ist ein Skandal, der seinesgleichen sucht.

 

Contes symbolischer Kniefall zeigt exemplarisch, dass die Bewältigung der Seuche im internationalen Staatensystem längst zum Gegenstand eines Ringens um künftige Vormachtstellungen geworden ist. Chinesische und russische Hilfssendungen für Italien sind nicht in erster Linie Akte internationaler Solidarität. Sie sollen auch dazu beitragen, das – völlig ungenügende – Krisenmanagement der einstigen westlichen Führungsmacht USA bloßzustellen und aus der inneren Zerrissenheit der Europäischen Union politisches Kapital zu schlagen.

 

»In Zeiten der Pandemie ist Rechtsradikalismus im wahrsten Sinne des Wortes lebensgefährlich.«

 

Tatsächlich bieten die Entscheider in der EU in Sachen Krisenmanagement nicht nur bei den Corona-Bonds ein einzigartiges Trauerspiel. Die Migrationspolitik liefert Anschauungsunterricht. Täglich passieren im Durchschnitt gerade einmal 30 (!) Fluchtmigranten die Außengrenzen der EU. In den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln vegetieren dennoch Zehntausende unter hygienisch katastrophalen Bedingungen vor sich hin. In einigen Lagern ist das Virus nachgewiesen. Doch zunächst hatte sich nur der Zwergstaat Luxemburg bereit erklärt, ein Dutzend unbegleiteter Jugendlicher aus den Lagern aufzunehmen. Zeitverzögert hat die Bundesrepublik mit 50 Jugendlichen nachgezogen – wohlgemerkt: 50 von mehreren Tausend! Derweil stehen in Deutschland und anderswo die 2015 geschaffenen Flüchtlingsunterkünfte leer. Der Arbeitsmarkt in den Zentrumsstaaten wird spätestens nach der Pandemie wieder unter Arbeitskräftemangel leiden.

 

Dies vor Augen, gleicht der Umgang mit den Fluchtmigranten einer moralischen Bankrotterklärung der Europäischen Union. Die Abschottungspolitik verdankt sich nicht zuletzt der Angst vor der anhaltenden rechtspopulistischen Revolte. Diese Angst ist nachvollziehbar, letztendlich aber doch politisch völlig dysfunktional, denn sie öffnet der radikalen Rechten ohne Not Handlungsspielräume. Überall dort, wo Rechtspopulisten wie Trump oder Rechtsradikale wie Bolsonaro regieren, versagt das Krisenmanagement. Wegen Trumps zwiespältiger Haltung sind die USA zum Weltzentrum der Pandemie geworden. Die Staaten der EU hätten allen Grund, sich glaubhaft von einem solchen Versagen abzusetzen. Dazu müssten sie allerdings vor der eigenen Haustüre kehren.

 

Die Lombardei zum Beispiel ist Hochburg der »Lega Salvini Premier« – einer radikal rechten Organisation, die mit der Privatisierung des Gesundheitssystems und der Verharmlosung von COVID-19 als grippalem Effekt für die hohe Sterberate zumindest mitverantwortlich ist. Als die Pandemie längst ausgebrochen war, drängten führende Lega-Politiker Verantwortliche in Pflege und Altenheimen, die wirklichen Todeszahlen zu verschweigen. Wer Mundschutz für das Personal forderte, wurde wegen angeblicher Panikmache mit Entlassung bedroht. Von den 5.060 gemeldet Intensivbetten stellt der seitens der Lega gehätschelte Privatsektor nicht einmal acht Prozent. Das ist einer der Gründe, weshalb Ärzte entscheiden müssen, welche Notfälle sie nicht behandeln, was bedeutet, Schwerkranke dem sicheren Tod zu überlassen.

 

Das Schicksal der Lombardei zeigt: In Zeiten der Pandemie ist Rechtsradikalismus im wahrsten Sinne des Wortes lebensgefährlich. Trotz mancher Verschwörungstheorien im Netz und dem Beschwören von Sündenböcken à la Trump werden Bevölkerungsmehrheiten das registrieren. Eine glaubwürdige Anti-Krisen-Politik der demokratischen Gegenseite vorausgesetzt, könnte die Seuche daher zu einer schweren Niederlage der radikalen Rechten führen.

 

Es kann auch schlimmer werden 

 

Selbst wenn das einträfe, wäre die Corona-Krise aber noch immer keine Chance. Denn es gibt keine Gewähr, dass es bei COVID-19 als »äußerem Stoß« bleibt. Der vorerst etwas in den Hintergrund gedrängte Klimawandel wird möglicherweise eine Reihe externer Schocks auslösen, die ebenfalls ein groß angelegtes staatliches Krisenmanagement erfordern. Denkbar ist, dass der Ausnahmezustand allmählich zum Normalfall wird. Dergleichen hatte Ulrich Beck bereits vor Jahrzehnten vorausgeahnt. Die Risikogesellschaft sei »eine Katastophengesellschaft«, denn in ihr »drohe der Ausnahme- zum Normalzustand zu werden«. Die Corona-Krise gibt Beck zumindest in diesem Punkt recht. Sie ist auch ökologisch ein Desaster, genauer: sie bewirkt degrowth by disaster. Wie schon 2009 werden klimaschädliche Emissionen und vielleicht auch der Ressourcenverbrauch sinken. Es könnte sogar sein, dass Deutschland und andere europäische Staaten ihr Klimaziele wegen des Kriseneinbruchs doch noch erreichen. Das hat aber nichts mit jener sozialen und ökologischen Nachhaltigkeitsrevolution gemein, die wir weltweit so dringend benötigen.

 

Sichtbar wird immerhin, dass staatliche Politik in Krisenzeiten durchsetzungsfähig ist. Der Staat kann Freiheiten, die Starke auf Kosten von Schwächeren wahrnehmen, durch verbindliche Regeln einschränken – zum Wohle aller oder zumindest großer Mehrheiten. Entscheidend ist immer, dass staatliches Handeln an demokratische Willensbildung rückgebunden bleibt. Demokratie benötigt jedoch öffentlichen Streit, Disput, Versammlungen, Demonstrationen, Streiks. Diese Grundrechte müssen dauerhaft gesichert bleiben trotz Krisen jeglicher Art. Demokratie verkörpert das Gegenteil des Ausnahmezustands. Freiheit, die demokratischen Regeln entspricht, besitzt stets eine verbindliche soziale Dimension – das gilt besonders für unternehmerische Freiheiten.

 

Nur wenn diese Freiheiten künftig strikt an soziale und ökologische Nachhaltigkeitskriterien rückgebunden werden, besteht überhaupt eine Chance, entsprechende Ziele zu verwirklichen. Das heißt konkret: Die Zivilgesellschaften müssen in demokratischer Weise direkt darauf Einfluss nehmen können, was wozu und zu welchem Zweck produziert und reproduziert wird. Es geht um nicht mehr und nicht weniger, als um eine Umverteilung von Entscheidungsmacht zugunsten der gegenwärtig ohnmächtigen Mehrheiten, und es geht um Klimagerechtigkeit nicht nur in der ökologischen, sondern auch in der sozialen Dimension.

 

»Dass nach der Pandemie eine neue Gesellschaftsordnung entstehen könnte, die, gemessen an dem, was hinter uns liegt, keine bessere wäre, ist eine ernstzunehmende Gefahr.«

 

Betrachten wir einige Fakten: Während die reichsten zehn Prozent der Weltbevölkerung mit ihren luxuriösen Lebensstilen 49 Prozent der klimaschädlichen Emissionen verursachen, sind die untersten 50 Prozent gerade einmal für drei Prozent verantwortlich. Die Zunahme von Emissionen wird immer stärker durch die Einkommensungleichheit innerhalb der Staaten verursacht. 1998 erklärten diese Ungleichheiten etwa 30 Prozent des globalen Emissionszuwachses, 2013 waren es bereits 50 Prozent. Das wohlhabendste eine Prozent in den USA, Luxemburg, Singapur und Saudi-Arabien produziert jährlich 200 Tonnen Kohlendioxid pro Kopf und damit zweitausendmal mehr als die untersten Einkommensgruppen in Honduras, Ruanda und Malawi (0,1 Tonnen pro Person jährlich). Im mittleren Bereich mit ca. sechs bis sieben Tonnen Kohlendioxid bewegen sich u.a. das reichste eine Prozent der Tansanier, das siebte chinesische, das zweite französische und das dritte deutsche Einkommensdezil. Durchschnittlich ist jede und jeder Deutsche jährlich für 11,5 Tonnen Treibhausgase verantwortlich; der Weltdurchschnitt liegt bei ca. 7 Tonnen, jener der EU bei 8,5 Tonnen.

 

Im Selbstlauf wird die Corona-Krise an solchen Disparitäten nichts verändern. Wahrscheinlicher ist, dass die Ungleichheiten innerhalb wie zwischen Staaten und damit auch die Klimaungerechtigkeiten zunehmen. Ökologische Risiken münden jedenfalls nicht in »Allbetroffenheit«, wie Ulrich Beck fälschlicherweise annahm. Im Gegenteil: Je dringlicher die Umsetzung von Nachhaltigkeitszielen wird, desto heftiger könnten die gesellschaftlichen Verteilungskämpfe nach der Corona Krise geführt werden.

 

Deshalb benötigen wir am besten schon vor dem Ende der Pandemie eine weltweite Grundsatzdebatte über die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der Zukunft. Öffentliche Sozialwissenschaften könnten dieser Debatte als Medium, Spiegel und Sprachrohr dienen. Sie hätten sich mit den Mitteln ihrer Fachdisziplinen auf jene sozialen Phänomene zu beziehen, die uns Zeiten der Seuche immerhin ein wenig Mut machen können. Dazu gehört sicher die Aufwertung des Sozialen, das Bedürfnis nach sozialen Beziehungsweisen, das in Zeiten der erzwungenen Selbstisolation offen zutage tritt.

 

Während der Pandemie und danach

 

Vielen Menschen sind, das lernen wir aus der Selbstbeschränkung auf digitale Kommunikation, reale Sozialkontakte am Arbeitsplatz und in der Privatsphäre besonders wichtig. Handy, Videokonferenz und Chatroom können solche Kontakte nicht ersetzen. Das gilt für die Arbeitsprozesse insgesamt. Selbst eine schwere, monotone Tätigkeit lässt sich besser ertragen, wenn die Chemie unter den Arbeitenden stimmt. Der Zusammenhalt am Arbeitsplatz fällt in der Corona-Krise weitgehend weg. Allerdings erhalten Busfahrer, Kassiererinnen, Altenpfleger oder Krankenschwestern mehr Anerkennung von Kunden und gesellschaftlicher Öffentlichkeit.

 

Dafür, dass dieser Anerkennungszuwachs nach der Pandemie anhält und sich für die Beschäftigten auch materiell niederschlägt, gibt es indes keine Gewähr. Um so dringlicher wird als integraler Bestandteil der ökologisch-sozialen Nachhaltigkeit eine »Care-Revolution«, die diese unverzichtbare aber überwiegend schlecht bezahlte Tätigkeiten ins Zentrum der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit rückt. Wir alle nehmen gegenwärtig wahr, was tatsächlich lebenswichtig ist: Ohne Profifußball lässt es sich auch für Fußballfans über längere Zeiträume hinweg sehr gut leben, nicht aber ohne Bäckerinnen, Landwirte, Arzthelferinnen, LKW-Fahrer und hilfsbereite Nachbarn. Wir alle brauchen eine gut funktionierende soziale Infrastruktur. Die muss zu einem bevorzugt finanzierten öffentlichen Gut werden. Nicht nur in Deutschland, sondern überall in Europa und auf der Welt. Für eine soziale Infrastruktur, die Basisgüter bereitstellt, zu streiten, wäre ein erster kleiner Schritt, um aus einer verheerenden Katastrophe doch noch Spielraum für Weichenstellungen zugunsten progressiver Gesellschaftsentwicklungen zu gewinnen.

 

Für allzu großen Optimismus gibt es indes keinen Anlass. Die Feministin Silvia Federici hat anhand des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus gezeigt, wie die schwarze Pest – ein externer Schock von entsetzlichen Ausmaßen – zu Arbeitskräfteknappheit führte und deshalb vorübergehend größere Freiheiten für Frauen und subalterne Klassen mit sich brachte. Der Gegenschlag herrschender Klassen folgte prompt. Kapitalismus war das Resultat. Man muss dieser Erzählung nicht folgen. Und wir wissen auch: Dass nach der Pandemie eine neue Gesellschaftsordnung entstehen könnte, die, gemessen an dem, was hinter uns liegt, keine bessere wäre, ist eine ernstzunehmende Gefahr. Wir sollten ihr mit leidenschaftlichem Engagement, aber auch mit dem gebotenen Realitätssinn begegnen.

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