In der Debatte um den Ukrainekrieg wird oft argumentiert, für eine Verhandlungslösung sei es noch zu früh – und mit Wladimir Putin sei eine solche vielleicht ohnehin unmöglich. Dem widerspricht der Publizist Fabian Scheidler: Angesichts der Bedrohungen durch Klimakrise und Atomkrieg sei ein Dialog mehr geboten denn je.

Die Pentagon-Leaks aus dem Frühjahr dieses Jahres haben gezeigt, dass aus Sicht des US-Militärs die Konfrontation zwischen Russland und der Ukraine in eine Pattsituation geraten ist. Keine der beiden Seiten kann, so die Einschätzung, in absehbarer Zeit siegen. Das hatten bereits zuvor führende Militärs wie etwa General Mark A. Milley, Vorsitzender der Joint Chiefs of Staff, öffentlich gesagt.[1] Damit aber werden Verhandlungen, so schwierig sie auch sein mögen, zur einzig rationalen Handlungsoption. Denn eine Fortsetzung des Krieges unter diesen Bedingungen würde in ein schier endloses Blutvergießen münden, in ein neues Verdun, ohne dass damit das angestrebte Ziel, eine vollständige Wiederherstellung der ukrainischen Souveränität, erreicht werden würde. Zugleich würde eine nukleare Eskalation immer wahrscheinlicher.

Jede ethisch fundierte Position in einem solchen Konflikt muss zwischen den Risiken und Opfern, die für ein Ziel gebracht werden sollen, und dem, was realistisch erreicht werden kann, abwägen. Die russische Führung hat mit dem Einmarsch in die Ukraine ein schweres Verbrechen begangen, gegen die Menschen und gegen das Völkerrecht. Doch wenn die vollständige militärische Rückeroberung der besetzten Gebiete durch die Ukraine nicht realistisch ist und der Kampf darum nur enorme, letztlich sinnlose Opfer kosten wird, dann steht eine Frage im Raum: Wie viele Menschen sollen noch sterben, um den künftigen Grenzverlauf um wie viele Kilometer zu verschieben?

Doch bereits diese Frage gilt bei vielen, die sich lautstark als Freunde der Ukraine in Szene setzen, als zynisch und unsolidarisch mit den Angegriffenen. Aber ist es nicht im Gegenteil zynisch, genau diese Frage nicht zu stellen? Während Generäle, Politiker und Journalisten über Kriegsziele und Prinzipien diskutieren, sterben in der Ukraine täglich Menschen, die nie darüber abstimmen konnten, ob sie für diese Ziele ihr Leben lassen wollen, weder auf russischer noch auf ukrainischer Seite.

Das führt zu der wichtigen, von Max Weber stammenden Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik. Gesinnungsethik begnügt sich damit, abstrakte Prinzipien zu verteidigen, egal was die Folgen sind. Verantwortungsethik denkt vom gewünschten Ergebnis her. In unserem Fall hieße das beispielsweise: Welche Schritte muss man in der realen, oft unschönen Welt unternehmen, um möglichst viele Menschenleben zu retten, der Ukraine eine Zukunft zu ermöglichen und einen Atomkrieg zu verhindern?

Die Entspannungspolitik von Willy Brandt und Egon Bahr etwa gründete in vieler Hinsicht in einer Verantwortungsethik. Ihre Logik lautete: Auch wenn wir die Herrscher im Kreml missbilligen, ja selbst wenn wir meinten, sie seien die Inkarnation des Bösen, so müssen wir doch mit ihnen sprechen und sogar verhandeln. Zum einen, um konkrete Erleichterungen für die Menschen zu erreichen, zum anderen, um zu verhindern, dass wir alle in einem Atomkrieg sterben.

»Die Welt steht vor einer ganzen Reihe von gefährlichen Kipppunkten, geopolitisch wie ökologisch.«

Um das zu erreichen, sind großspurige moralische Lektionen und eine Anrufung der „westlichen Werte“ oft wenig zielführend. Sie führen zwar dazu, dass man sich selbst moralisch erhoben und auf der richtigen Seite fühlt, tragen aber nichts zu einer Entschärfung der Lage bei. Im Gegenteil: Wie bereits im Fall des Kriegs gegen den Terror nach Nine Eleven verbaut die Selbstbeweihräucherung den Blick auf die Realität und kann damit in eine Spirale der Zerstörung führen.

Die Frage nach Gesinnungs- oder Verantwortungsethik geht aber weit über die Kriegsfolgen im engeren Sinne hinaus und bezieht sich auf die gesamte globale Situation.

Die Welt steht heute vor einer ganzen Reihe von gefährlichen Kipppunkten, geopolitisch wie ökologisch. Zum einen erhöht eine dauerhafte neue Blockkonfrontation die Gefahr eines Atomkriegs erheblich. Selbst ein „begrenzter“ nuklearer Schlagabtausch würde global in einen nuklearen Winter führen und einen großen Teil der Menschheit auslöschen. Allein aus diesem Grund ist eine verantwortungsethische Diplomatie die einzig rationale Handlungsoption. Zum anderen zerstört der neue kalte und heiße Krieg gleich in mehrfacher Hinsicht die Chance, einen Klima- und Biosphärenkollaps noch zu verhindern. Überschreiten wir einige der unmittelbar bevorstehenden Kipppunkte im Klimasystem, dann droht die Erde in einen vollkommen neuen Zustand überzugehen: das Hothouse Earth. Ganze Erdregionen, darunter Teile Südasiens, des Mittleren Ostens und Afrikas, würden unbewohnbar. Um das zu verhindern, muss der größte Teil der noch in der Erdkruste befindlichen fossilen Energien im Boden verbleiben. Und dazu ist wiederum eine intensivierte internationale Kooperation – auch mit China und Russland – unerlässlich.

So abwegig das im Augenblick auch erscheint: Der Westen muss Russland Angebote machen, wie es von einem Exporteur fossiler Brennstoffe zu einem Produzenten erneuerbarer Energien werden kann – denn dafür hat das größte Land der Erde enorme Potenziale. Bleibt Russland aus westlicher Sicht ein Paria, mit dem man nicht redet, ist eine solche Perspektive undenkbar.

Die neue Blockkonfrontation droht darüber hinaus die dringend für den sozial-ökologischen Umbau benötigten Ressourcen in den destruktivsten und klimaschädlichsten aller Sektoren zu kanalisieren: ins Militär. Damit zeichnet sich eine fatale Wiederholung der Dynamik nach dem 11. September 2001 ab. Das „Cost of War“-Projekt der renommierten Brown University beziffert die Kosten des Afghanistankrieges allein für den US-Haushalt auf 2100 Mrd. US-Dollar – das entspricht unvorstellbaren 300 Mio. pro Tag, und das über 20 Jahre lang. Die Kriege in Irak und Syrien schlugen insgesamt mit 2900 Mrd. Dollar zu Buche.[2] Zum Vergleich: Das Budget, das die Entwicklungsländer seit Jahren für die Bekämpfung der ärgsten Folgen des Klimawandels fordern, beträgt 100 Mrd. Dollar – gemessen daran eine geradezu winzige Summe, die aber von den reichen Industrienationen bis heute nicht vollständig zur Verfügung gestellt wurde.

Nach den Berechnungen des US-Ökonomen Robert Pollin würde ein wirkungsvoller Global Green New Deal, der ein verheerendes Klimachaos noch verhindern könnte, etwa 4,5 Bill. Dollar jährlich kosten – etwa fünf Prozent der globalen Wirtschaftsleistung.[3] Das wäre durchaus finanzierbar, allerdings nur, wenn zugleich weltweit die Militärausgaben gedrosselt werden würden. Die neue Aufrüstung auf beiden Seiten infolge des Ukrainekriegs droht daher ein weiteres Mal den Weg zu einem ernsthaften ökologischen Umbau zu blockieren. Und damit dürfte womöglich die letzte Chance zur Erhaltung des Erdsystems, wie wir es kannten, beerdigt werden.

An diesem Punkt wird auch deutlich, warum Friedens- und Klimabewegung untrennbar zusammengehören. Die enormen Anstrengungen der Klimabewegung werden vergeblich sein, wenn sie nicht mit einer realistischen friedenspolitischen Perspektive verbunden werden.

Und umgekehrt wird es keinen Frieden geben, wenn wir mit 14 000 Atomsprengköpfen und einer Milliarde Kleinwaffen, die es auf der Erde gibt, ins Klimachaos schlittern. Auf den derzeit zutiefst gespaltenen Bewegungen liegt also eine große Verantwortung, trotz aller Differenzen aufeinander zuzugehen, Brücken zu bauen und gemeinsam zu handeln.

Der so dringend erforderliche Gedanke an Abwägungsprozesse und Verhandlungsinitiativen wird oft mit zwei Argumenten beiseite gewischt: Zum einen, so heißt es, könne man mit einem Monster wie Putin nicht verhandeln. Doch die Geschichte der Verhandlungen im März 2022, die zu erheblichen Annäherungen der beiden Seiten geführt hatte, beweist das Gegenteil.[4]

»Der Ukrainekrieg wird zu einem erheblichen Teil aus geopolitischen Motiven geführt und betrifft die Überlebenschancen aller Menschen.«

Zweitens wird, insbesondere von der US-Regierung, immer wieder darauf hingewiesen, dass es uns nicht anstehe, Kompromisse vorzuschlagen; das sei ausschließlich Sache der Ukrainer. Natürlich ist es an der Ukraine und vor allem an ihren Bürgern – die allerdings seit Jahren zu all dem gar nicht mehr gefragt worden sind –, Entscheidungen über Krieg, Frieden und Verhandlungen zu treffen. Aber es ist vollkommen realitätsfremd, so zu tun, als ob dieser Krieg in einem geopolitischen Vakuum stattfände.

Die Positionen von Frankreich, Deutschland, Großbritannien und vor allem der USA haben de facto erheblichen Einfluss auf die Entscheidungen der ukrainischen Regierung, ebenso wie auch die Positionen Chinas und anderer Länder des Globalen Südens Einfluss auf Moskau haben. Kiew ist finanziell und militärisch vollkommen abhängig von Washington, ohne die Hilfen des Westens würde der Staat in kürzester Zeit zusammenbrechen. In dieser Situation so zu tun, als sei die ukrainische Regierung vollkommen autark und souverän, ist absurd.Es ist auch interessant, dass das Argument gegen Einmischung ausgerechnet von den USA kommt, die sich seit langem permanent in die Angelegenheiten der Ukraine eingemischt haben, und zwar massiv. Anfang Februar 2014, als der Maidanaufstand, der später zum Sturz der Regierung Janukowitsch führte, in vollem Gange war, tauchte das Leak eines Telefongesprächs zwischen Victoria Nuland, damals US-Chefdiplomatin für die EU, und Geoffrey Pyatt, dem US-Botschafter in Kiew, auf. Das Telefonat wurde berühmt durch Nulands Ausspruch „Fuck the EU“. Weniger bekannt, aber noch wichtiger ist die Art und Weise, wie Nuland und Pyatt darüber berieten, wie die künftige Regierung der Ukraine aussehen soll. Hier ein Auszug:

„Nuland: Ich denke, Klitsch sollte nicht in die Regierung gehen. Ich denke, es ist nicht nötig, es ist keine gute Idee.

Pyatt: Ja, ich meine, man sollte ihn lieber draußen lassen und seine politischen Hausaufgaben machen lassen. Ich denke, was den voranschreitenden Prozess angeht, wollen wir die moderaten Demokraten zusammenhalten. Das Problem werden Tjagnibok und seine Leute sein. [Oleg Tjagnibok war Vorsitzender der rechtsextremen, antisemitischen Swoboda-Partei, d. Verf.] […]

Nuland: Ich denke, Jats ist der Mann, der die wirtschaftliche Erfahrung hat, die Regierungserfahrung. Er ist der Mann. Was er braucht, sind Klitsch und Tjagnibok draußen. Er sollte mit ihnen vier Mal die Woche sprechen.“[5]

„Jats“ (gemeint ist Arsenij Jatsenuk) und „Klitsch“ (Vitali Klitschko): Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Nuland und Pyatt die zu diesem Zeitpunkt wichtigsten Oppositionspolitiker im Wesentlichen als Marionetten betrachteten, die man am grünen Tisch in Washington herumschieben kann. Tatsächlich wurde Nulands Wunsch, dass „Jats“ Ministerpräsident der Ukraine werden sollte, am 27. Februar 2014 Wirklichkeit. Sieht so der Umgang mit einem souveränen Land aus, das gänzlich unabhängige Entscheidungen trifft?

Nein, der Ukrainekrieg ist ein globaler Konflikt, er wird zu einem erheblichen Teil aus geopolitischen Motiven geführt und er betrifft die Überlebenschancen aller Menschen. Der Westen muss daher endlich seinen Einfluss nutzen, um etwas zu seiner Beendigung beizutragen, statt Verhandlungsoptionen mit fadenscheinigen Argumenten beiseite zu wischen – auch wenn das nach den bisherigen Verwüstungen und der Zerstörung des Kachowka-Staudamms schwieriger denn je ist. Brasilien, China und Südafrika haben neue Friedensinitiativen auf den Weg gebracht. Die westlichen Länder sollten sich ihnen anschließen.

[1] Vgl. Peter Baker, Top U.S. General Urges Diplomacy in Ukraine While Biden Advisers Resist, www.nytimes.com, 10.11.2022.

[2] Vgl. Costs of War, https://watson.brown.edu.

[3] Vgl. Noam Chomsky und Robert Pollin, Die Klimakrise und der Green New Deal, Münster 2021.

[4] Vgl. Fabian Scheidler, Naftali Bennett wollte den Frieden zwischen Ukraine und Russland: Wer hat blockiert?, www.berliner-zeitung.de, 6.2.2023.

[5] Ukraine crisis: Transcript of leaked Nuland-Pyatt call, www.bbc.com, 7.2.2014.