In der Linken streitet man sich weiter über die richtige Haltung zum Ukraine-Krieg. Dabei liegen viele Antworten längst auf der Hand.  (

Die Kriegsfrage ist bei weitem nicht das einzige Thema, über das sich die gesellschaftliche Linke in den letzten Jahren zerlegt hat. Doch wohl in keiner anderen Frage ist der Streit so existenzbedrohend wie hier. Vor allem für die Partei »Die Linke« wird die Luft allmählich dünn. Nachdem sich Sahra Wagenknecht mit ihrer These, dass linke Positionen zu Feminismus, Migration und Ökologie im Kampf um Wählerstimmen schon mal geopfert werden können, selbständig gemacht hat, droht zum Parteitag in Halle nun schon wieder die nächste Zerreißprobe.

Die Abstimmung Mitte September im EU-Parlament verhieß nichts Gutes: Auf die Frage, ob die Ukraine weitere Nato-Waffenlieferungen erhalten sollte, stimmten die drei deutschen Abgeordneten der Linken mit allen drei möglichen Optionen: Ja, Nein und Enthaltung. Kaum besser war es wenige Tage später bei der Friedensdemonstration zum 3. Oktober, deren wichtigste Forderung in der Aufnahme von Friedensverhandlungen bestand. Während die Bundestagsabgeordnete Gesine Lötzsch als eine der Hauptrednerinnen auf der Bühne sprach, bezeichnete die Parteiströmung »Progressive Linke« die Demonstration öffentlich als schweren Fehler, weil die Verantwortung Russlands am Krieg nicht benannt worden sei. Politische Klarheit sieht anders aus.

Dabei gibt es zweieinhalb Jahre nach Beginn des Ukraine-Kriegs eine Reihe von Erkenntnissen, über die eigentlich nicht mehr gestritten werden müsste. Auf der einen Seite ist mittlerweile ziemlich klar, was das Hauptmotiv für die russische Kriegsentscheidung war. Auch wenn das militärische Vorrücken der Nato seit 1990 Moskau unter Druck gesetzt, war es – anders als häufig behauptet – keineswegs der entscheidende Grund. Denn mit dem Krieg hat sich der militärische Druck auf Russland weiter verschärft.

Viel plausibler ist deshalb die Erklärung, dass Moskau der ökonomischen Expansion des Westens und dem damit zusammenhängenden Zerbröckeln des postsowjetischen Machtbereichs Einhalt gebieten wollte. Oder anders ausgedrückt: Nachdem Russland im innerukrainischen Machtkampf um die wirtschaftliche Ausrichtung des Landes schwere politische Niederlagen einstecken musste, versucht es den Zerfall des politischen Einflussgebiets militärisch rückgängig zu machen. Die herrschende Klasse in Russland folgt damit einem subimperialistischen Kalkül: Wer in Anbetracht ökonomischer Unterlegenheit seine Interessen mit »regulären Mitteln« nicht durchsetzen kann, muss auf das Instrument des Krieges zurückgreifen. Subimperialistisch ist diese Politik, weil es sich bei Russland (ähnlich wie bei der Türkei oder dem Iran) um einen Akteur handelt, der mit »dem Westen«, sprich den USA und ihren Verbündeten, auf ökonomischer und technologischer Ebene nicht konkurrieren kann und dessen Machtansprüche deshalb regional begrenzt bleiben.

Umgekehrt hat sich in den vergangenen 30 Monaten aber auch gezeigt, dass die Annahme, demokratische oder menschenrechtliche Prinzipien seien beim »Westen« irgendwie besser aufgehoben als bei Russland, ein politisches Märchen ist. Die USA und die EU, die in der Ukraine das Völkerrecht zu verteidigen behaupten, unterstützen in Gaza und dem Libanon einen Krieg, der gemessen an seiner Brutalität gegen die Zivilbevölkerung das russische Vorgehen in der Ukraine noch übertrifft. Zwar mag »der Westen« über Israels Kriegsverbrechen nicht immer glücklich sein, weil diese die Verlogenheit der eigenen Politik vor Augen führen. Doch trotzdem unternehmen die Verbündeten nichts, um die systematischen Angriffe auf Zivilist*innen und mittlerweile sogar auf UN-Personal zu unterbinden – und das, obwohl Tel Aviv von den Waffenlieferungen und der Rückendeckung aus Washington vollständig abhängig ist. Dass Völkerrecht und Menschrechte hier plötzlich in den Hintergrund treten müssen, hat eine einfache Erklärung. Für den Westen ist Israel, wie es der US-Außenminister und Ex-General Alexander Haig in den 1980er Jahren ausdrückte, der »größte US-Flugzeugträger in einer für Amerikas nationale Sicherheit kritischen Region«.

Vor diesem Hintergrund müsste eine Position der »Linken« zu den eskalierenden Kriegen zunächst auf der Einsicht beruhen, dass es eben keineswegs um die Frage »Autoritarismus gegen Demokratie« geht. Zwar sind die Lebensverhältnisse in Russland heute zweifelsohne unfreier als in den USA oder der EU. Doch erstens wird der fortgesetzte Krieg auch bei uns für einen zügigen Freiheits- und Demokratieabbau sorgen, weshalb die Systemunterschiede schneller verschwunden sein könnten, als uns lieb ist. Und zweitens sind die politischen Differenzen eben nicht Kriegsursache. Hinter dem westlichen Engagement in der Ukraine steckt der eigene geopolitischer Machtanspruch. Und hier muss man deutlich betonen: Das transatlantische Bündnis aus USA und EU ist nicht nur nach wie vor der wichtigste Machtblock in der Welt, sondern verfügt auch mit Abstand über das zerstörerischste Waffenarsenal. Durch China und verschiedene subimperialistische Staaten herausgefordert, wird »der Westen« bei Bedarf nicht zögern, seine Gewaltmittel rücksichtslos einzusetzen.

An dieser Stelle wird häufig eingewandt, dass man den russischen Überfall auf die Ukraine nicht allein durch eine geopolitische Brille lesen dürfe. Die Argumentation geht in etwa so: Es mag ja sein, dass die Nato die Ukraine aus eigennützigen Motiven unterstützt, doch ähnlich wie die kurdische Selbstverwaltung in Rojava hat auch die Ukraine ein Recht, alle Hilfe zu nehmen, die sie bekommen kann. Richtig daran ist: Ein großer Teil der ukrainischen Bevölkerung (allerdings auch längst nicht alle) wünschen sich mehr westliche Waffenlieferungen. Doch immer fragwürdiger ist, ob sich mit den Mitteln des Staatenkriegs irgendetwas in Richtung Freiheit bewegen lässt. Bei den Artilleriegefechten an der ukrainisch-russischen Front sterben die Soldaten wie im 1. Weltkrieg als Bedienungspersonal einer industriellen Materialschlacht. Dazu kommt, dass es bei diesem Krieg um kapitalistische Staatenkonkurrenz geht, bei der der Grad der Oligarchisierung, nicht aber der oligarchische Charakter des Systems selbst zur Disposition steht. Mit dem Kampf in Rojava, wo die Guerilla auf den Prinzipien von Selbstorganisierung und Feminismus beruht und ein alternatives Gesellschaftsprojekt aufbaut, hat der Kampf des ukrainischen Nationalstaats wirklich kaum etwas gemein.

Auch im Staatenkrieg des 21. Jahrhunderts geht es nicht um Demokratie und Menschenrechte, sondern um die Sicherung von Wirtschaftsräumen.

Bei der Debatte um Waffenlieferungen sollte man folgendes betonen: Auch wenn die militärische Unterstützung der Nato eine schnelle Unterwerfung der Ukraine durch Russland verhindert hat, haben sich ansonsten fast alle Befürchtungen bewahrheitet. Um den russischen Rechtsextremismus zu stoppen, hat man die ukrainische Rechte gestärkt. Auf den Friedhöfen der Westukraine flattern heute die rotschwarzen Fahnen der rechtsextremen Bandera-Bewegung, als wäre das die normalste Sache der Welt. In den Schützengräben der Ukraine wird ein Krieg geführt, der in seiner nationalen Stumpfheit den Verbrechen des 1. Weltkriegs in nichts nachsteht. Und selbst ihre Unabhängigkeit hat die Ukraine längst verloren: Die westlichen Kreditgeber, die lange Erfahrung im Ausplündern rohstoffreicher Länder besitzen, werden sich nach Friedensschluss an der Ukraine gütlich tun. In Zeiten eines kriselnden Kapitalismus wird es weder einen Marshallplan noch Sozialprogramme für das gebeutelte Land geben.

Das größte Fiasko der europäischen Linken im 20. Jahrhundert war bekanntlich die Entscheidung der Sozialdemokratien, sich 1914 zur Nation zu bekennen und auf der Seite ihrer jeweiligen Eliten in den Krieg zu ziehen. Millionen Tote, der Siegeszug des Faschismus und ein 2. Weltkrieg waren die Folge. Diese Katastrophe hätte man vermeiden können, wenn mehr Linke rechtzeitig begriffen hätten, dass es eben nicht um den Konflikt »westliche Zivilisation gegen russischer Despotismus« oder »französischer Republikanismus versus preußischer Militarismus«, sondern um ganz banale kapitalistische Staatenkonkurrenz ging. Das Versagen der Sozialdemokratie bestand darin, nicht rechtzeitig für eine Internationale der Deserteure geworben zu haben.

Gewiss: 2024 ist nicht 1914. Aber einiges ist eben doch auch ähnlich. Auch im 21. Jahrhundert geht es im Staatenkrieg nicht um Demokratie und Menschenrechte, sondern um die Sicherung von Wirtschaftsräumen. Wer sich hier auf die Seite der Mächtigen im eigenen Land schlägt, hat schon verloren.

 

Zeitenwende Die Weltordnung rentabel machen

Aufrüstung, Zölle, Sanktionen und Militarisierung des Handels kosten Tausende von Milliarden. Worin liegt ihr Ertrag?

Stephan Kaufmann, nd, 25.05.24

Ist die Zeitenwende ein gutes Geschäft für den Westen? Aus ökonomischer Sicht scheinen sich die Unterstützung der Ukraine gegen den russischen Angriff sowie der neue Kalte Krieg gegen China nicht zu rentieren. Die USA und Europa müssen Hunderte von Milliarden an zusätzlichen Rüstungsausgaben stemmen, Energie hat sich verteuert, die Sicherung strategischer Lieferketten bringt massive Kostenerhöhungen, Investitions- und Exportbeschränkungen drücken die Profite der Konzerne. Doch all dieser Aufwand sei nötig, so heißt es aus Washington und Brüssel, um die globale Geltung des Rechts gegen autokratische Regime zu verteidigen. Das klingt uneigennützig – und ist auch nicht ganz falsch. Denn genau in der Stärkung der »regelbasierten Weltordnung« liegt für den Westen der ökonomische Nutzen der Zeitenwende.


Die Kosten

»Unsere Welt durchlebt ein Zeitalter von Konflikten und Konfrontationen, von Fragmentierung und Furcht«, sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Anfang des Jahres auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos. »Ohne Zweifel sind wir mit dem größten Risiko für die Weltordnung in der Nachkriegsgeschichte konfrontiert.« Die USA und die EU-Staaten – der »Westen« – sehen sich vor allem an zwei Fronten herausgefordert: bei der Unterstützung der Ukraine gegen die russische Invasion und bei der Einhegung Chinas, das inzwischen als »systemischer Rivale« gilt. Gerade im politisch linken Lager wird bei Kriegen und Konflikten schnell an Profite gedacht. Zunächst einmal aber verschlingen beide Kämpfe des Westens enorme Summen.

Das fängt bei der Unterstützung der Ukraine an. Insgesamt haben europäische Geber dem Land bislang Hilfen von rund 90 Milliarden Euro zugewiesen, im Falle der USA sind es knapp 70 Milliarden, wobei der US-Kongress gerade ein weiteres Multimilliarden-Dollar-Paket genehmigt hat. Doch das sind eher geringe Summen verglichen mit den Kosten, die insbesondere Europa für die ökonomische Abkopplung von Russland tragen muss. Europas Direktinvestitionen in Russland, die 2021 noch bei 250 Milliarden Euro lagen, sind geschrumpft und gefährdet. Einnahmen aus dem Export nach Russland sind um über 50 Milliarden Euro pro Jahr eingebrochen. Vor allem aber hat der Ausfall russischer Gaslieferungen die Energierechnung sprunghaft erhöht, was in der EU die Inflationsrate in die Höhe und das Wirtschaftswachstum nach unten getrieben hat. Ein Prozentpunkt weniger Wachstum bedeutet für die EU einen Verlust von rund 170 Milliarden Euro.

Weit höhere volkswirtschaftliche Kosten verursacht der Versuch einer polit-ökonomischen Einhegung Chinas, der – je nach Berechnung – größten oder zweitgrößten Wirtschaft der Welt. Von Chinas Aufschwung hat der Westen in den vergangenen Jahrzehnten massiv profitiert: Die Volksrepublik lieferte billige Waren, entwickelte sich zu einem lukrativen Exportmarkt für den Westen, dessen Konzerne Hunderte von Milliarden in China investierten, um vom dortigen Aufschwung zu partizipieren. Chinas Wachstum zog Dutzende von anderen Schwellenländern mit, von deren Wachstum die Industriestaaten ebenfalls profitierten. Dieser liberalisierte Weltmarkt mit seinen weltumspannenden Lieferketten, an denen die multinationalen Konzerne des Westens gut verdienten, wird nun Stück für Stück politisch eingeschränkt. »Die liberale globale Ordnung fällt langsam auseinander«, so das britische Magazin »Economist«.

Dabei gerät der Wunsch der Politik, China zu bremsen, in Konflikt mit dem Streben nach Profit und Wachstum. So kämpft in den USA eine Investorengruppe rund um den Vermögensverwalter Blackstone gegen ein Gesetz des Bundesstaates Florida, das chinesische Investitionen in die lokale Immobilienbranche verbietet. Die großen US-Computerchiphersteller beschweren sich über die Einschränkungen beim Export moderner Chips nach China, mussten sich von der US-Wirtschaftsministerin allerdings sagen lassen: »So ist das Leben. Der Schutz unserer nationalen Sicherheit ist wichtiger als kurzfristige Umsätze.« Auch in Deutschland werden die Unternehmen aufgefordert, ihre Geschäftsbeziehungen zu China zu überdenken, was bei diesen auf wenig Gegenliebe stößt. Denn Chinas Industrie liefert gute und günstige Vorprodukte, die deutsche Unternehmen für ihre Wettbewerbsfähigkeit brauchen. Doch der Industrieverband BDI fordert von ihnen nun ein Umdenken: »Die sicherheitspolitische Lage lässt eine rein betriebswirtschaftliche Betrachtung zentraler Größen in der unternehmerischen Beschaffung nicht mehr zu.«

Ebenfalls viel Geld kosten Zölle, mit denen der Westen seine heimischen Industrien vor China schützen und China gleichzeitig schaden will. Denn die Einfuhrzölle erhöhen die Preise für die heimischen Konsumenten und Unternehmen. Laut US-Ökonomin Mary E. Lovely kosteten allein die von US-Präsident Donald Trump eingeführten Zölle die US-Verbraucher und -Unternehmen 180 Milliarden Dollar. Doch die neoliberalen Zeiten von maximalem Profit und minimalen Kosten scheinen vorbei zu sein. Auch die „EU-Handelspolitik darf nicht mehr allein bei potenziellen Wertschöpfungsvorteilen ansetzen“, so der BDI.

»Die Sicherheits­- lage lässt eine rein betriebs­­wirt­schaftliche Betrachtung zentraler Größen nicht mehr zu.«

"Bundesverband der Deutschen Industrie"


Teuer ist auch der Versuch der USA und Europas, ökonomische Abhängigkeiten zu mindern, indem alte und neue Industrien auf ihren Territorien angesiedelt werden, etwa für die Batterie- oder Computerchip-Fertigung. »Industriepolitik basiert zumeist auf kostspieligen Subventionen oder Steuervergünstigungen, die schädlich für die Produktivität sein können«, mahnt der Internationale Währungsfonds (IWF) in seinem jüngsten Weltwirtschaftsausblick. Zwar werden per Subventionen Geschäftsgelegenheiten für lokale Unternehmen in der EU und den USA geschaffen. Unklar ist aber, ob sich das gesamtwirtschaftlich mehr lohnt als der Bezug billiger Chips und Batterien aus dem Ausland. Martin Gornig vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung hat Zweifel: »Die Interventionen in den USA als auch in Europa sind weniger industriepolitisch motiviert, sondern nehmen bewusst Effizienzverluste als sicherheitspolitische Versicherungsprämie in Kauf.«

Diese »Effizienzverluste« sind gigantisch, laut Schätzungen des IWF könnte die vom Westen forcierte »Fragmentierung« des Weltmarkts die globale Wirtschaftsleistung längerfristig um sieben Prozent drücken, das summiere sich auf 7,4 Billionen Dollar. Dazu kämen die Kosten anderer Beschränkungen wie der technologischen Entkopplung von China oder der Unterbrechung von Investitionsströmen. Ein Krieg mit China um Taiwan etwa könnte laut Finanzagentur Bloomberg zehn Billionen Dollar kosten. Doch scheint man in den USA und Europa bereit zu sein, diese Preise gegebenenfalls zu zahlen. Schließlich ist »der Grundgedanke geoökonomischer Maßnahmen nicht die Erzielung beidseitiger wirtschaftlicher Vorteile, sondern das Streben nach geostrategischen Vorteilen«, erklärt Lucia Quaglia, Politologin an der Universität Bologna. Im Klartext: Auch im Wirtschaftskrieg liegt der Ertrag in der Schädigung des Gegners.

Und schließlich addieren sich zu den Kosten der Zeitenwende noch die dauerhaft höheren Ausgaben für Rüstung. Die Nato-Staaten haben sich verpflichtet, ihre Militärbudgets auf mindestens zwei Prozent ihrer Wirtschaftsleistung zu erhöhen. Vielfach wird damit gerechnet, dass eher Niveaus von vier Prozent erreicht werden müssen, so wie zu Zeiten des Kalten Kriegs gegen die Sowjetunion. Jennifer Welch vom Finanzdienst Bloomberg Economics errechnet, dass in diesem Fall auf die G7-Staaten mehr als zehn Billionen Dollar an zusätzlichen Militärausgaben in der nächsten Dekade zukommen. Das bedeutet Steuererhöhungen, Einsparungen oder zusätzliche Schulden, also zusätzliche Zinsausgaben, die in den USA bereits heute höher liegen als die Ausgaben für das Militär.


Die Erträge

Soweit zu den gigantischen Kosten, die die Eindämmung Russlands und Chinas dem Westen verursacht. Und was sind die Erträge? Gemessen am Aufwand erscheinen Rüstungsexporte als vernachlässigenswert. So hat zum Beispiel Deutschland im vergangenen Jahr Militärgüter über 12,2 Milliarden Euro ausgeführt. Für die Produzenten von Panzern und Granaten ist das ein gutes Geschäft. Insgesamt aber beträgt der Rüstungsexport nur ein Zwanzigstel der deutschen Ausfuhren von Kraftwagen oder ein Fünftel der Ausfuhren von Nahrungsmitteln. Sogar der Müllexport bringt Deutschland mehr ein als der von Waffen.

Zwar können höhere staatliche Investitionen in die Rüstungsindustrie dazu führen, dass lokale oder regionale Wirtschaftsräume gestärkt werden, weil die Rüstungsproduktion weitere Zulieferer beschäftigt. Insgesamt aber bleiben die volkswirtschaftlichen Erträge fragwürdig, auch weil die staatlichen Rüstungsgelder in anderen Bereichen – Technologie, Bildung – oftmals produktiver eingesetzt wären. »Es gibt eine umfangreiche Literatur über die wirtschaftlichen Folgen von Militärausgaben«, bilanziert der Ökonom Muhammad Azam in einer Studie über Rüstung und Wachstum. »Es hat sich jedoch kein Konsens darüber herausgebildet, ob Militärausgaben für das Wirtschaftswachstum vorteilhaft oder nachteilig sind.« Hinweise auf einen positiven Einfluss seien dürftig. Fragwürdig sind auch Hoffnungen, die Ökonomien des Westens könnten per Saldo – also nach Abzug aller Kosten – von einem Wiederaufbau der Ukraine profitieren, auch weil dieser Aufbau zum Großteil vom Westen bezahlt werden wird.

Ein bedeutender ökonomischer Ertrag der Zeitenwende dürfte sich dagegen ergeben, wenn es den USA gelingt, mit China tatsächlich einen mächtigen Konkurrenten um die Märkte und Technologien der Zukunft auszuschalten oder zumindest zurückzustufen, wodurch westlichen Konzernen mehr Marktanteile blieben. Schließlich »dominiert China die globale Produktion von Solarpaneelen, Batterien und Windturbinen, so dass die Politik in den USA fürchtet, das globale Rennen um grüne Technologien zu verlieren, sowohl weltweit als auch in ihren Hinterhöfen«, schreibt der Economist. Die Klage Washingtons und Brüssels über Chinas »unfaire« Förderung der eigenen Industrie verweist allerdings auf ein übergeordnetes Problem, das zu lösen sie sich vorgenommen haben: der Zerfall ihrer Weltordnung. »Unsere Unternehmen agieren in einem Umfeld, in dem internationale Regeln zunehmend ignoriert werden«, so Ursula von der Leyen. Und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sagte vor einigen Wochen, die »Haltbarkeit eines Regel- und Wertegefüges« sei in Gefahr und damit die gesamte »europäische Zivilisation«.

Dem Westen geht es bei dieser Klage nicht allein um Konkurrenzvorteile auf einzelnen Märkten. Es geht ihm um die Kontrolle des Marktes selbst, also um seine Stellung als Ordnungsmacht, die die Regeln setzt und damit entscheidet, was Recht ist und was nicht – welche Subventionen erlaubt sind, welche Güter gehandelt werden dürfen, wo investiert werden darf und wo nicht. Bei der Darstellung des Problems, vor das sich die US-Regierung gestellt sieht, wählte US-Sicherheitsberater Jake Sullivan vor einem Jahr nicht zufällig einen Ausgangspunkt, zu dem die Dominanz der Vereinigten Staaten unangefochten war: »Nach dem Zweiten Weltkrieg hat die Welt unter der Führung der USA eine neue internationale Wirtschaftsordnung aufgebaut. Doch in den vergangenen Jahrzehnten sind Risse in diesem Fundament aufgetaucht.« Ähnlich sieht man das in Europa. Der Munich Security Report zitierte Macron bereits 2020, lange vor der russischen Invasion der Ukraine, mit der Aussage: »Wir waren an eine internationale Ordnung gewöhnt, die auf der westlichen Hegemonie seit dem 18. Jahrhundert beruht hatte. Die Dinge ändern sich.«


Die Ordnung

Die westliche Hegemonie war über Jahrzehnte die Voraussetzung dafür, dass die USA und Europa die Regeln des Weltgeschäfts bestimmten; diese Regeln wiederum sicherten im Gegenzug den ökonomischen Erfolg des Westens und damit die materielle Basis seiner Hegemonie. Ihr ökonomischer Ertrag entstand also nicht aus einer Eroberung und kolonialen Beherrschung fremder Länder; sondern bestand im Aufbau eines globalen Systems, das die ganze Welt zur Wachstumsquelle der Unternehmen des Westens machte. »Statt formeller Imperien und territorialer Exklusivität«, so schrieb kürzlich der griechische Ökonom Costas Lapavitsas im »nd«, »benötigen die multinationalen Konzerne erstens einen institutionellen Rahmen, der es ihnen ermöglicht, den Weltmarkt auszudehnen und zu beherrschen, und zweitens eine sichere Form von Weltgeld, um Verpflichtungen zu begleichen und die Wertproduktion global zu erhalten«.

Gerade im Bezug auf das »Weltgeld« lässt sich erkennen, das der Weltmarkt noch immer der des Westens ist. Zwar haben die USA, Europa und Japan an Marktanteilen verloren, als Produktionsstandorte sind sie insbesondere gegenüber China zurückgefallen. Als Finanzmächte aber bleiben sie beherrschend. Sie sind die Heimat der Weltgelder Dollar und Euro, auf die 80 Prozent der internationalen Kredite und Bankguthaben lauten. In Nordamerika und Westeuropa liegen die Zentren des globalen Kapitalmarktes, zu denen das Geld der Welt fließt und von wo aus global investiert wird. »Die USA sind quasi der Risikokapitalgeber der ganzen Welt und wichtigster globaler Kreditgeber«, erklärt eine neue Studie der Paris School of Economics. Dieses »exorbitante Privileg« der USA sei immer weiter gewachsen und zu einem Privileg der reichen Länder geworden – also vor allem der USA plus Europa.

»Diese reichsten Länder agieren als Banker der Welt«, so die Wissenschaftler. »Sie ziehen Kapital an, zahlen ihren Gläubigern dafür geringe Zinsen und investieren diese Zuflüsse in profitablere Geschäfte weltweit.« Dieses Privileg sei äußerst lukrativ: Die Paris School of Economics schätzt den Netto-Ertrag, der durch die Transfers der armen zu den reichsten Ländern entsteht, auf zwei Prozent ihrer Wirtschaftsleistung. Zu den reichsten Ländern gehörten die USA, Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Kanada, aber auch Australien, Belgien, Norwegen, die Schweiz und Israel. »Die zentrale Position dieser Länder im internationalen Geld- und Finanzsystem erlaubt es ihnen, als Vermittler zu fungieren«, erklären die Wissenschaftler. »Diese Rolle wiederum stärkt ihr Privileg, da sie billig an Kapital kommen und es in produktive Investments lenken können. Dieser Zirkel wiederum verewigt ihre Dominanz und stärkt ihre Position als Schlüsselmächte der Wirtschaftswelt.« Zudem gewährleistet diese finanzielle Dominanz, dass die Finanzmärkte den Führungsmächten des Westens jeden Kredit gewähren, den sie für ihre Aufrüstung brauchen.

Diese Weltordnung hat nicht nur gigantische Reichtümer im Westen geschaffen, sondern auch den Aufstieg Chinas ermöglicht, das nun vor einem Widerspruch steht: Zum einen ist sein ökonomischer Erfolg ein Produkt der US-dominierten Weltordnung, was man insbesondere daran erkennt, dass der Billionenstaatsschatz der chinesischen Zentralbank vor allem aus Dollar und Euro besteht. Zum anderen aber wächst China aus dieser Ordnung heraus. Die EU und die USA sehen die Volksrepublik nicht länger nur als Konkurrenten, sondern als »systemischen Rivalen«, womit sie anerkennen, dass China ihnen auf Augenhöhe begegnet. Schließlich will ein Rivale das Gleiche wie man selbst.

Damit sieht insbesondere Washington die gesamte Weltordnung bedroht – denn als Schöpfer und Garant dieser Ordnung definieren die USA jeden Angriff auf die Ordnung als Angriff auf die eigene Vorherrschaft. Die Maßnahmen, die die US-Regierung nun zur Sicherung ihrer Vorherrschaft ergreift, bringen diese Ordnung tatsächlich in Gefahr. »Die Ordnung, die seit dem Zweiten Weltkrieg die Weltwirtschaft regiert hat, wird ausgehöhlt, heute steht sie vor dem Zusammenbruch«, schreibt der Economist und zählt die Risse im Fundament auf: Die Zahl der internationalen Wirtschaftssanktionen hat sich seit den 1990ern vervierfacht, die USA sanktionieren inzwischen sogar Drittländer, die sich ihren Sanktionen gegen Russland und China nicht anschließen. China und die USA liefern sich einen »Subventionskrieg« zur Besetzung von Zukunftsmärkten, in den immer mehr Länder einsteigen. Die globalen Finanzflüsse nehmen ab. Die Welthandelsorganisation WTO kann aufgrund eines US-Boykotts keine Streitfragen mehr entscheiden, »der IWF ist in einer Identitätskrise, der UN-Sicherheitsrat ist gelähmt – eine erneute Präsidentschaft Donald Trumps oder die Furcht vor chinesischen Billigimporten könnte die Normen und Institutionen weiter erschüttern«, warnt der Economist.

»Die reichsten Länder agieren als Bankiers der Welt.«

"Paris School of Economics"


Vorbei sind damit die Zeiten des Neoliberalismus, von dem immer deutlicher wird, dass es sich bei ihm weniger um ein theoretisches oder praktisches Konzept handelte, sondern bloß um eine bestimmte Machtkonstellation auf dem Weltmarkt. Es war die Zeit, in der der Westen gesiegt hatte und seine Konzerne in der Lage waren, den gesamten Globus zu ihrem Vorteil zu nutzen – ihnen musste nur die Bahn frei gemacht werden: Deregulierung, Privatisierung, Liberalisierung, Globalisierung waren die Stichworte. Die USA und ihre Verbündeten konnten aufgrund ihrer Dominanz davon ausgehen, dass ein freier Weltmarkt wie automatisch ihnen zugutekommen würde.

Heute dagegen machen sie sich daran, den Weltmarkt neu zu regulieren und ihre Stellung als globale Ordnungsmächte zu festigen, also als Mächte, die das Weltgeschäft nicht nur bestimmen, sondern auch von ihm nachhaltig profitieren. Dieser neue Kalte Krieg unterscheidet sich grundlegend vom alten gegen die Sowjetunion: »Im Gegensatz zum ersten Kalten Krieg, als die Großmächte versuchten, ihr Territorium in Blöcke einzugliedern, konkurrieren die USA und China derzeit auf globaler Ebene um die zentrale Stellung in vier miteinander verknüpften Netzwerken, von denen sie annehmen, dass sie die Hegemonie im 21. Jahrhundert untermauern werden: Infrastruktur (z.B. Logistik und Energie), Digitaltechnik, Produktion und Finanzen«, schreibt eine Gruppe internationaler Wissenschaftler, die Mitglieder des Second Cold War Observatory sind.

In der Ukraine geht es dem Westen daher nicht nur um die Einbindung des Landes in das eigene System oder nur um das Zurückschlagen Russlands, sondern ums Ganze. »Wenn die Ukraine verliert, werden unsere Feinde die Weltordnung bestimmen«, warnte George Robertson, ehemaliger Nato-Generalsekretär. Vor diesem Hintergrund sieht Kathryn Levantovscaia von der US-Denkfabrik Atlantic Council in der Hilfe für die Ukraine ein »strategisches Investment«: Der Krieg biete ein »realistisches Testfeld für US-Waffensysteme und ihre Wirkung«, und generiere dadurch Erkenntnisse, die »auf anderem Wege nicht zu gewinnen wären«. Zudem, so Levantovscaia, habe der Krieg Russland erheblich geschwächt, und zwar zu einem günstigen Preis: »Die US-Hilfe für die Ukraine beläuft sich auf etwa fünf Prozent des Jahresbudgets des Verteidigungsministeriums, was für die Eindämmung und Erschöpfung eines der größten Widersacher der Vereinigten Staaten ein gutes Geschäft ist. Eine russische Niederlage in der Ukraine wäre daher ein doppelter Schlag – sie würde die Abschreckung gegenüber China stärken.«


Ein neues Geschäftsmodell

Insofern ist es korrekt, wenn Politiker*innen in Europa und den USA sagen, es gehe ihnen um die »regelbasierte Weltordnung«. Denn die Ordnung, die derzeit noch herrscht und die bedroht ist, ist die der USA, von ihnen geschaffen und aufrechterhalten und von ihrem Willen abhängig – daher die allseitigen Warnungen vor einer erneuten Präsidentschaft Donald Trumps. Denn die Verbündeten der USA bleiben in ihrem Erfolgsweg abhängig von den Vereinigten Staaten, die das System erhalten, von dem auch die europäische Wirtschaft lebt. Der Bundesverband der deutschen Industrie drückt es so aus: »Der Schutz des Völkerrechts gegenüber Russland sichert gleichzeitig die Grundlagen für internationale Wirtschaftsbeziehungen und ist daher prioritär für die Industrie in Europa.«

Ob sich der ökonomische Ertrag der Neuordnung der Welt für die USA und ihre Verbündeten auch einstellen wird, ist allerdings offen, selbst wenn ihr Vorgehen gegen China und Russland erfolgreich sein sollte. »Keine Frage, für die Herrschenden aller Länder mit Ausnahme jener, die von den USA zu Schurkenstaaten erklärt wurden, war die neoliberale Globalisierung ein profitables Geschäftsmodell«, schreibt der Ökonom Ingo Schmidt in der Monatszeitung »ak«. Dass dieses Geschäftsmodell »schließlich auch in seinen Kernländern zu schweren Wirtschaftskrisen geführt hat, heißt nicht, dass die seither erfolgte Militarisierung der Außenpolitik ein besseres Geschäftsmodell für das Kapital als Ganzes darstellt – die Rüstungsindustrie ausgenommen«.

 


Neu
Wemheuer, Felix: China – Land von Widersprüchen und Vielfalt

Felix Wemheuer

China – Land von Widersprüchen und Vielfalt
Kritische Betrachtungen aus 20 Jahren

Neue Kleine Bibliothek 337, 198 Seiten

Erschienen (April 2024)

ISBN 978-3-89438-824-9


 
 

Wemheuer, Felix: China – Land von Widersprüchen und Vielfalt

Kritische Betrachtungen aus 20 Jahren

Neue Kleine Bibliothek 337, 198 Seiten

Erschienen (April 2024)    17,90 €, Preis inkl. MwSt.    -   in jedem gut sortierten Buchhandel!

ISBN 978-3-89438-824-9

Nach außen versucht die chinesische Regierung, die Kommunistische Partei unter Führung von Xi Jinping als monolithischen Block und das Volk als vereint darzustellen. In den letzten Jahren propagieren die offiziellen Medien ein »harmonisches« Ideal der Familie, in der Frauen wieder stärker traditionellen Rollenbildern entsprechen sollen. Von den ethnischen Minderheiten wird erwartet, sich aktiv an die Han-chinesische Mehrheitskultur anzupassen. Felix ­Wemheuer hebt hingegen hervor, dass die Volksrepublik China ein geografisch vielfältiges und konfliktreiches multi-ethnisches Land voller gesellschaftlicher Widersprüche, sozialer Kämpfe und intellektueller Auseinandersetzungen ist. Seit vielen Jahren veröffentlicht Wemheuer, heute Professor für Moderne China-­Studien an der Universität Köln, journalistische Artikel, Interviews sowie Buchbesprechungen zu Entwicklungen in der Volksrepublik. Nun hat er die noch immer lesenswerten Beiträge ausgewählt und für diese Publi­ka­tion aufs Neue durchgesehen und bearbeitet. Aus diesem Mosaik von ungebrochener Aktualität entstehen kritische und differenzierte Bilder des »Reichs der Mitte«.

Felix Wemheuer, Prof. Dr. phil., *1977. Seit 2014 Professor für Moderne China-Studien an der Universität zu Köln. Zuvor war er Gastwissenschaftler an der Harvard University und studierte »Geschichte der KPCh« an der Volksuniversität in Beijing.
 
 

Ich empfehle auch diesen Podcast (hn, 04.05.24):

Von Mao bis Xi – mit Felix Wemheuer (https://dasneue.berlin/2024/04/22/von-mao-bis-xi-mit-felix-wemheuer/ )

Von Mao bis Xi – mit Felix Wemheuer

 

Über den Podcast

Wir diskutieren über das, was uns interessiert: Wie funktioniert Gesellschaft? Was heißt es heute, politisch zu sein? Welches Wissen ordnet unsere Welt? Das Neue Berlin ist ein sozial- und geisteswissenschaftlicher Podcast zur Gegenwart.

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13. Mai 2024

Die Steuersätze typischer Multimillionärinnen und Milliardäre liegen in Deutschland und Österreich weit unter den vorgesehenen Höchststeuersätzen. Ausgerechnet die als Steuersumpf bekannte Schweiz zeigt: Eine Vermögenssteuer kann gegenlenken.

von Julia Jirmann - https://www.jacobin.de/artikel/steuersystem-vermoegenssteuer-superreiche-iwf

Bei der Frühjahrstagung des Internationalen Währungsfonds (IWF) in Washington unterstützten der französische Finanzminister und die Chefin des IWF einen koordinierten Vorstoß für eine höhere Besteuerung von Superreichen. Bereits beim Treffen der G20-Finanzminister im Februar dieses Jahres setzte der brasilianische Finanzminister die Vermögensteuer zum ersten Mal auf die Agenda. Zur Debatte stand eine globale Mindeststeuer von 2 Prozent auf die Vermögen der reichsten Menschen weltweit. Zudem forderte auch Joe Biden in seiner Rede zur Lage der Nation im März eine Mindeststeuer von 25 Prozent auf die Einkommen von Milliardärinnen und Milliardären.

Christian Lindner äußerte sich am Rande der IWF-Tagung erwartungsgemäß ablehnend. Es gebe bereits eine angemessene Besteuerung von Einkommen. Das stimmt offenkundig nicht, wie aktuell Untersuchungen des Netzwerks Steuergerechtigkeit, des Momentum Instituts und der KOF/ETH Zürich zu den tatsächlichen Steuersätzen von Superreichen in Deutschland, Österreich und der Schweiz zeigt.

Das Versagen der Steuersysteme

Eigentlich ist das Steuersystem für demokratische Gesellschaften ein zentrales Instrument, um sozialen Ausgleich zu schaffen und Veränderungsprozesse, die im Interesse der Allgemeinheit liegen – wie etwa die ökologische Transformation – zu finanzieren und zu lenken.

In den meisten Demokratien sollen Steuersysteme mit progressiv ansteigenden Steuersätzen diese Aufgaben erfüllen. Menschen mit hohen Einkommen tragen demnach nicht nur einen höheren absoluten Betrag, sondern auch einen höheren relativen Anteil ihres Einkommens zur Gemeinschaftskasse bei. Allerdings haben in den vergangenen Jahrzehnten reichenfreundliche Reformen dafür gesorgt, dass die Steuersysteme gerade bei den höchsten Einkommen versagen und eine progressive Besteuerung entsprechend der Leistungsfähigkeit nicht mehr gewährleisten.

Bereits im vergangenen Jahr konnten Forschende für die USA, Frankreich und die Niederlande in Zusammenarbeit mit ihren nationalen Steuerbehörden nachweisen, dass die Steuerquoten bei den Superreichen wieder abnehmen. Unternehmenssteuern sind praktisch die einzige Steuerart, die sie entrichten. Und weil Steuerwettbewerb und künstliche Gewinnverschiebung dafür gesorgt haben, dass sowohl nominale als auch effektive Steuersätze für Unternehmen weltweit seit vielen Jahren sinken, werden Multimillionen- und Milliardeneinkommen nur noch mit 20 bis 30 Prozent besteuert.

»Das progressive Steuersystem ist darauf ausgerichtet, die breite Masse der arbeitenden Bevölkerung zu besteuern.«

Auch die reichsten Deutschen und Österreicher zahlen zu wenig in die Staatskasse. In der Schweiz trägt immerhin eine Vermögensteuer dazu bei, dass Superreiche mehr als die Steuer zahlen, die ihre Unternehmen entrichten, wie die neue Studie zeigt.

Berechnet wurden die Steuern und Sozialabgaben, die das reichste Prozent sowie Durchschnittsverdienende tatsächlich zahlen, und in welchem Verhältnis diese tatsächlichen Zahlungen zu den jeweiligen Höchststeuersätzen stehen. In Deutschland liegt der Höchststeuersatz bei 47,5 Prozent (Reichensteuersatz inklusive Solidaritätszuschlag) und in Österreich bei 55 Prozent. In der Schweiz hängt der Satz stark vom Wohnort ab und schwankt zwischen 22 Prozent in Zug und 45 Prozent in Genf.

Weil Steuerdaten zu hohen Vermögen lückenhaft sind, arbeitet die Studie mit exemplarischen Modellrechnungen für die Anteilseignerinnen und -eigner der größten Familienunternehmen des jeweiligen Landes. In Deutschland sind das die BMW-Erben Susanne Klatten und Stefan Quandt, in Österreich der Red Bull-Erbe Mark Mateschitz und in der Schweiz die Roche-Erben Jörg Duschmalé und André Hoffmann. Ihr Einkommen, ihre Steuerzahlungen und damit auch ihre effektiven Steuersätze (Anteil der Steuern am Einkommen) lassen sich näherungsweise aus den öffentlich zugänglichen Geschäftsberichten ihrer Unternehmen und den Beteiligungsstrukturen berechnen.

Während die Roche-Erben mit einem Steuersatz von rund 32 Prozent immerhin etwas mehr als drei Viertel des geltenden Höchststeuersatzes ihres Kantons (40,5 beziehungsweise 41,5 Prozent) abgeben, liegen die Steuersätze der Menschen mit Milliardenvermögen in Deutschland und Österreich bei lediglich 26 Prozent beziehungsweise 25 Prozent und damit weit unter den jeweiligen nationalen Höchststeuersätzen (47,5 beziehungsweise 55 Prozent). Auch die typischen Multimillionäre bleiben in Deutschland und Österreich deutlich unter den Höchststeuersätzen: Ihre Steuer- und Abgabensätze liegen bei rund 29 Prozent in Deutschland und 30 Prozent in Österreich.

Wie kann es sein, dass der effektive Steuersatz auf die Einkommen der reichsten Personen eines Landes weit unterhalb des geltenden Höchststeuersatzes liegt? Und warum gelingt es der Schweiz, Milliardärinnen und Milliardäre angemessener zu besteuern?

Steuergeschenke in großem Stil

Das progressive Steuersystem ist darauf ausgerichtet, die breite Masse der arbeitenden Bevölkerung zu besteuern. Arbeitseinkommen werden in der Regel vollständig dem progressiven Einkommensteuertarif unterworfen. Das bedeutet, dass auch der Vorstand eines DAX-Unternehmens auf sein Millioneneinkommen den Reichensteuersatz zahlt. Ebenso zahlen Milliardärinnen und Milliardäre, sofern sie arbeiten, diesen Steuersatz auf ihre Arbeitseinkommen (Aufsichtsratsvergütungen oder Geschäftsführergehälter).

Allerdings machen diese Einkommensquellen nur einen geringen Anteil ihres Gesamteinkommens aus. Das Einkommen der Superreichen besteht zum größten Teil aus den Gewinnen und Dividenden ihrer Unternehmen sowie aus den Renditen ihrer Investitionen. Im Gegensatz dazu bestreiten die Durchschnittsverdienenden ihren Lebensunterhalt hauptsächlich mit Arbeitseinkommen. Entscheidend für die Besteuerung der Reichen ist also die Besteuerung der Vermögenseinkommen, vor allem – aber nicht nur – aus Unternehmensbeteiligungen.

»Entscheidend für die Besteuerung der Reichen ist also die Besteuerung der Vermögenseinkommen, vor allem – aber nicht nur – aus Unternehmensbeteiligungen.«

Unternehmensgewinne unterliegen in allen drei Ländern einer zweistufigen Besteuerung. Zunächst werden die Gewinne im Unternehmen selbst besteuert. Die unternehmensbezogenen Steuersätze variieren zwischen durchschnittlich 13 Prozent in der Schweiz, 23 Prozent in Österreich und im Schnitt 30 Prozent in Deutschland. Sowohl innerhalb der Schweiz als auch in Deutschland gibt es aber Kantone beziehungsweise Kommunen, die deutlich niedrigere Steuersätze verlangen.

Im Schweizer Kanton Zug liegt der Steuersatz beispielsweise unter 12 Prozent und in deutschen Gemeinden mit sehr niedrig angesetzter Gewerbesteuer fällt der Steuersatz auf bis zu 23 Prozent. Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Ausnahmen, beispielsweise für Erträge aus Patenten oder aus Mieteinnahmen. Gerade die größten und profitabelsten Unternehmen schaffen es mit aggressiver Steuergestaltung einen großen Teil ihrer Gewinne in sogenannte Steuersümpfe zu verschieben.

Im zweiten Schritt werden die Unternehmensgewinne bei der Ausschüttung an die Anteilseignerinnen und Anteilseigner besteuert. Auf diese Kapitalerträge sind in Deutschland 26,4 Prozent und in Österreich 27,5 Prozent Steuern zu zahlen. In der Schweiz wird – bei einer Beteiligung von mehr als 10 Prozent – ein Teil des ausgeschütteten Gewinns steuerbefreit und der Rest zum Einkommensteuersatz versteuert. In Kombination mit den gesetzlichen Unternehmenssteuern entspricht diese Schweizer »Gewinnsteuer« weitgehend den Höchststeuersätzen der Einkommensteuer.

Allerdings kann die zweite Stufe der Besteuerung in allen drei Ländern vermieden werden, indem die Anteile am Unternehmen über vermögensverwaltende Gesellschaften gehalten werden. Wird der Gewinn an solche Gesellschaften ausgeschüttet, fällt keine Steuer oder nur ein Bruchteil dessen an, was Kleinaktionärinnen auf ihre Kapitalerträge zahlen. Wenn die in der vermögensverwaltenden Gesellschaft angesparten Gewinne reinvestiert werden, profitieren deren Eigentümer vom Zinseszins-Effekt. Dieser sorgt dafür, dass ihre niedrig besteuerten Vermögen noch schneller wachsen als ohnehin.

»Eine Übertragung des Schweizer Modells der Besteuerung von Vermögen, Erbschaften und Schenkungen auf Deutschland würde hierzulande die Vermögensteuereinnahmen drastisch erhöhen: von aktuell 9 auf 73 Milliarden Euro.«

Lediglich in der Schweiz sorgt die Vermögensteuer dafür, dass die Steuersätze von Hochvermögenden deutlich näher an den jeweiligen Höchststeuersätzen liegen. Die Vermögensteuer wirkt wie eine indirekte Steuer auf Vermögenserträge, der man sich auch durch Beteiligungsstrukturen nicht entziehen kann. Egal ob die Unternehmensanteile direkt oder über andere Gesellschaften gehalten werden – Vermögende müssen sich einen Teil der Gewinne auszahlen lassen, um daraus die Vermögensteuer zu begleichen.

Steuerflüchtlinge werden bevorzugt

Warum ist die Schweiz bei Steuerflüchtlingen dennoch so beliebt? Das liegt daran, dass ausländische Vermögende eine Vergünstigung erhalten, die Schweizer Staatsbürgern nicht zuteilwird. Menschen ohne Arbeitseinkommen, die ihr Steuerdomizil in die Schweiz verlegen, zahlen nur eine pauschale, stark reduzierte Vermögensteuer. Dabei wird das Vermögen typischerweise auf das Zwanzigfache der jährlichen Durchschnittsausgaben festgesetzt und damit das Vermögen der Superreichen massiv unterschätzt. Zieht man in einen Niedrigsteuerkanton, lassen sich noch mehr Steuern sparen. Insgesamt ist die Vermögensteuer in der Schweiz so niedrig, dass nur wer keine oder kaum Erträge auf das Vermögen erwirtschaftet, die Steuer aus der Substanz des Vermögens bezahlt. Aus diesem Grund vermag sie die Vermögensungleichheit nur mäßig zu mindern.

Dennoch zeigt die Schweiz: Eine Vermögensteuer ist trotz des Wettbewerbsdrucks von Kantonen und Staaten möglich. Mit immerhin knapp 7 Prozent trägt sie zum Steueraufkommen der Schweiz bei. Ein weiteres Prozent stammt aus Steuern auf Erbschaften und Schenkungen. Eine Übertragung des Schweizer Modells der Besteuerung von Vermögen, Erbschaften und Schenkungen auf Deutschland würde hierzulande die Vermögensteuereinnahmen drastisch erhöhen: von aktuell 9 auf 73 Milliarden Euro.

Die in Brasilien und in den USA diskutierte Vermögensteuer von 2 Prozent würde den Steuersatz der deutschen Beispiel-Milliardärinnen auf etwa 35 Prozent ihres Einkommens erhöhen. Gäbe es außerdem eine Mindeststeuer von 25 Prozent auf das wirtschaftliche Einkommen, müssten die BMW-Erben insgesamt rund 43 Prozent auf ihre Milliardeneinkommen abführen. Auch diese Zahl liegt noch unterhalb des geltenden Reichensteuersatzes. Zumindest aber wäre dafür gesorgt, dass die Milliardenvermögen weniger schnell wachsen. Über das Steuersystem lassen sich nicht alle Probleme lösen, aber die Zahlen zeigen: das Umsteuerungspotential ist groß und man muss nicht auf internationale Lösungen warten.

 

In der Diskussionen der attac-Gruppe Flensburgs seit dem Herbstratschlag attacs in 2023, haben wir unterschiedliche Aspekte der Entwicklung diskutiert und sind zu der folgenden Überlegung gekommen: Eine eindeutige Beurteilung der internen chinesischen Entwicklung und der chinesischen Außenpolitik haben wir nicht treffen können - genauso wenig wie eine Positionierung, ob wir es hier mit einem kapitalistischen oder sozialistischen Land zu tun haben.

In der Arbeit mit dem chinesischen Belt and Road Initiative haben wir z.B. den Eindruck bekommen, dass es fraglich ist, wie in dem attac-Positionspapier aus dem Herbst 2023 die internationale Rolle Chinas charakterisieren wird. Es liegt teilweise daran, dass die internationalen chinesischen Investitionen nicht einhundert Prozent zentral gesteuert werden, sondern auch häufiger den Provinzen überlassen worden sind. Das führt dazu, dass in den konkreten Untersuchungen der außenwirtschaftlichen Beziehungen Chinas immer wieder Widersprüche auftauchen, die einerseits den Eindruck hinterlassen, dass China eher eigene nationale wirtschaftliche Interessen verfolgt, aber andererseits auch Projekte unterstützt, die von unterschiedlichen Staaten im globalen Süden gewünscht werden und in deren eigenem Interesse sind. Manchmal gibt es Beispiele, bei denen es Vorteile für beide Seiten gleichzeitig zu geben scheint, was von offizieller chinesischer Seite vermutlich als Ausdruck dafür gewertet wird, dass die chinesische Außenpolitik auf dem Prinzip des gegenseitigen Nutzens beruht.

Die weitere Frage ist, welche Bedingungen erfüllt werden müssen, um die Politik eines erklärten sozialistischen Landes auch als sozialistisch bezeichnen zu können, und wie diese Politik konkret empirisch zu erfassen wäre.
Es ist eine wichtige Aufgabe für attac, solches zu präzisieren, so dass eine fundierte Grundlage für unsere Schlussfolgerungen aufgebaut werden können.

In Verlängerung von Ingar Soltys Vortrag bei attac am 22.1.2024 haben wir auch diskutiert, wie wir damit umgehen sollen, dass China auf der einen Seite gigantische Unterschiede in der Verteilung des Privatvermögens hat, aber auf der anderen Seite dafür gesorgt hat, dass hunderte Millionen Menschen aus der Armut geholt worden sind. ... sowie dass China einerseits Anfang des 21. Jh. eine riesige Privatisierungswelle ausgelöst hat, aber andererseits in den letzten 10-15 Jahren die Partei verstärkt die Produktion in den einzelnen Firmen kontrollieren und Fälle von Korruption drakonisch verfolgen lässt. Und wir diskutieren über ein Land, wo Grund und Boden immer noch Staatseigentum ist. Ist das Kapitalismus - und wenn ja, welche Form von Kapitalismus?

Die chinesische Entwicklung seit 1949 ist überaus widersprüchlich. In der Zeit Maos wurde der Klassenkampf und die Mobilisierung des Volkes als das zentrale Kennzeichen einer sozialistischen Gesellschaft angesehen. Das wird in der ChKP seit einigen Jahrzehnten zurückgewiesen und stattdessen sind Besitzer von Firmen, Privateigentümer in der Partei als Mitglieder aufgenommen worden. Wie ist das zu bewerten? Bedeutet es, dass sich die Geschäftsinhaber der Politik der Partei unterwerfen müssen - oder ist es ein Ausdruck dafür, dass die Politik der Partei mit den Interessen der Geschäftsinhaber identisch ist? Deng Xiaoping glaubte an den trickle-down-Effekt und machte ihn damit bei rasant wachsenden wirtschaftlichen Unterschieden gesellschaftsfähig. Heute gibt es Anzeichen dafür, dass diese Unterschiede nicht mehr unwidersprochen akzeptiert werden und dass hinter dem Kampf gegen die Korruption der Versuch der Partei steht, mehr Entscheidungsgewalt über die wirtschaftliche Entwicklung zu erlangen.

In der internationalen politischen Entwicklung spielt die neue Front der G7-Staaten unter der Führung der USA gegen China eine zentrale Rolle - das gilt unabhängig davon, ob Republikaner oder Demokraten in Washington das Sagen haben. Wie sollen wir uns dazu positionieren? Ist es ein Vorteil für die Chinesen und für die Völker der übrigen Welt, eine unilaterale Welt zu haben, die von den Vereinigten Staaten angeführt wird, oder ist es besser, wenn es eine multipolare Welt gibt, in der China - wenn auch widersprüchlicher - Teil des Widerstands gegen den US-Imperialismus sein kann?

Es ist eine große, notwendige Herausforderung für attac, hier eine gründliche Analyse zu organisieren.
Die undifferenzierte pauschale negative Bewertung Chinas durch das 2023 verabschiedete Positionspapier "Globalisierungskritik neu denken" entspricht in jedem Fall nicht den bislang publizierten Diskussionen im Attac-Rahmen.

 
Morten + Henning, 03.03.24