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Ein paar so interessante wie herausfordernde Artikel zur neuen Koalition:

 

Finanzpolitik unter Christian Lindner: Koalitionsvertrag ohne Preisschild

Die Ampel wird sich ums Geld streiten, denn da bleibt das Bündnis vage. Und FDP-Chef Lindner ist als Finanzminister eine komplette Fehlbesetzung.   taz,   29. 11. 2021 - Essay von Ulrike Herrmann

Wie lange hält die Ampel? Diese Frage beschäftigt nicht nur das Publikum, sondern auch die Koalitionäre. Der künftige Kanzler Scholz und FDP-Chef Lindner betonen stets, dass sie auf mehrere Amtszeiten zielen. Die Ampel soll kein Experiment sein, sondern eine strategische Option auf Dauer.

Das ist vernünftig. In den nächsten Landtagswahlen würden die Ampelparteien abgestraft, wenn die Bundesregierung wie eine chaotische Notlösung wirkte. Bleibt nur ein Problem: der Koalitionsvertrag. Er wird für sehr viel Ampelärger sorgen, obwohl es zunächst so scheint, als würde er halten, was der Titel „Mehr Fortschritt wagen“ verspricht. Unter anderem soll es mehr Ökostrom, mehr Bahn, mehr E-Autos, mehr Wohnungen, mehr Bafög und eine Grundsicherung für Kinder geben.

Doch leider fehlen die Preisschilder. Nirgends wird erwähnt, wie viel die einzelnen Maßnahmen kosten sollen. Das muss noch ausgefochten werden. In Wahrheit hat sich die Ampel gar nicht auf ein endgültiges Programm geeinigt – sondern den Streit nur verschoben. Im Text stehen Ziele, aber keine Wege. Unklar ist auch, wo das nötige Geld herkommen soll. Natürlich finden sich Andeutungen im Text, aber sie sind zwischen den Zeilen versteckt und meist allein für Finanzexperten verständlich. Die Ampel verkündet permanent, dass sie miteinander „auf Augenhöhe“ regieren will, aber die WählerInnen sind von diesem Versprechen ausgeschlossen.

Da Preisschilder fehlen, ist es einfach, Unwahrheiten zu verbreiten. Eine erste Kostprobe gab Lindner gleich beim Start ab, als er bei der Präsentation des Koalitionsvertrags seine Sicht darlegte: Ziel sei es, „die breite Mitte zu entlasten“. Das ist Unsinn. Die „Mitte“ kommt in dem Papier nirgends vor und wird auch nicht profitieren. Stattdessen werden vor allem die Unternehmer entlastet, die ihre Steuerlast drücken können und damit Milliarden geschenkt bekommen.

Für die Firmen gibt es 2022 und 2023 eine „Superabschreibung“, wenn sie in „Klimaschutz“ oder „digitale Wirtschaftsgüter“ investieren. Beide Begriffe sind so dehnbar, dass es den Betrieben nicht schwerfallen wird, fast alle Anschaffungen abzusetzen.

Für die Liberalen kann das Finanzministerium noch gefährlich werden

Die FDP hat also „geliefert“ und ihre Klientel bedient. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) schätzt, dass dieses Geschenk bis zu 40 Milliarden Euro kosten könnte.

Eine Gegenfinanzierung gibt es nicht. Die FDP hat Steuererhöhungen strikt ausgeschlossen und dies auch durchgesetzt. SPD und Grüne wollten eigentlich eine Vermögenssteuer von 1 Prozent einführen sowie die Spitzensätze bei der Einkommenssteuer erhöhen, um die unteren Schichten zu entlasten. Davon ist nichts übrig. Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass Steuererhöhungen sowieso unmöglich gewesen wären, weil der Bundesrat zustimmen muss – wo die Union eine Vetomacht hat.

Wenn aber Steuererhöhungen von vornherein ausgeschlossen sind, ist es von Grünen und SPD erst recht fahrlässig, die Unternehmen mit Milliardengeschenken zu beglücken. Dieses Geld wird für andere Ampelprojekte schmerzhaft fehlen. Zunächst wirkt es kurios, dass die FDP ihre Klientel beschenkt, ohne eine Gegenfinanzierung zu bieten. Denn die Liberalen gerieren sich stets als Hüter der Schuldenbremse, die für eine schwarze Null sorgen. Als der Koalitionsvertrag vorgestellt wurde, pries sich Lindner hemmungslos als „Anwalt solider Finanzen“. Das war die zweite Lüge. Der FDP sind ausgeglichene Haushalte egal, solange die Reichen beschenkt werden.

Während also die Einnahmen durch Steuergeschenke sinken, sollen die Staatsausgaben deutlich steigen. Das geplante „Jahrzehnt der Investitionen“ (Scholz) wird nämlich sehr teuer, wie die Ampel selbst zugibt. Wo das Geld herkommt, wollte Grünen-Chef Habeck lieber nicht erläutern, als das Papier vorgestellt wurde. Knapp sagte er nur: „Wir wissen genau, wie wir es bezahlen.“

Unklare Finanzierung

Zwischen den Zeilen wird deutlich, dass die Ampel vor allem auf vier Tricks setzt, um die nötigen Milliarden herbeizuschaufeln. Erstens: Die Coronaschulden von derzeit 371 Milliarden Euro werden nicht bis 2042 getilgt, wie es die Schuldenbremse bisher vorsah. Stattdessen wird der Zeitraum bis 2058 gestreckt. Pro Jahr muss also deutlich weniger zurückgezahlt werden.

Zweitens: Im Jahr 2021 wurden nicht alle Coronakredite aufgebraucht, sodass die restlichen Milliarden nun in einen „Klima- und Transaktionsfonds“ fließen. Nächstes Jahr soll dieser Trick wiederholt werden – indem die Ampel wegen der Pandemie auch für 2022 eine „außergewöhnliche Notsituation“ ausruft. Diese Milliarden könnten dann erneut zum Teil in den Klimaschutz fließen.

Drittens: Die Kriterien der Schuldenbremse werden verändert, damit der Staat auch im regulären Betrieb mehr Kredite aufnehmen kann. Die Details sind aber zu kompliziert, um sie hier zu erklären.

Viertens: Es entstehen Schattenhaushalte. Nicht der Staat nimmt die Kredite auf, sondern öffentliche Unternehmen verschulden sich, um zu investieren. Ein gutes Beispiel ist die Deutsche Bahn: Bis 2030 soll sie doppelt so viele Personen befördern wie heute und nach einem „Deutschlandtakt“ fahren, was für die wichtigsten Verbindungen einen Zug pro halbe Stunde bedeutet. Gleichzeitig sollen mehr Städte einen ICE-Anschluss erhalten und diverse Strecken neu eröffnet werden. Diese Ziele sind alle richtig – und kosten Milliarden. Also soll sich die Bahn verschulden.

Kredite sind auch nötig, um die geplanten 100.000 öffentlich geförderten Wohnungen pro Jahr zu bauen. Diese Schulden sollen unter anderem bei der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben landen.

Signal an die FDP-Basis

Ähnlich dürfte es bei den Ladestationen für E-Autos laufen. Derzeit gibt es in Deutschland knapp 50.000 Ladesäulen, wie die Bundesnetzagentur meldet. Es werden aber eine Million davon gebraucht, wenn bis 2030 etwa 15 Millionen E-Autos auf den Straßen rollen sollen. Die nötigen Ladesäulen werden jedoch kaum privat entstehen, weil sich ein Henne-Ei-Problem ergibt: Ladesäulen lohnen sich nur, wenn dort E-Autos tanken. E-Autos werden aber nur gekauft, wenn die Ladesäulen schon existieren. Also dürfte mal wieder der Staat einspringen und Ladesäulen errichten – mit einem eigenen Unternehmen.

Diese Schattenhaushalte machen viele Liberale nervös, die dem Staat misstrauen und eine Lizenz zum Gelddrucken wittern. Daher war es folgerichtig, dass Christian Lindner unbedingt Finanzminister werden wollte. Er muss seiner Basis signalisieren, dass er die Ausgaben kontrolliert. Schon vor der Wahl zog er „rote Linien“ und kündigte an, dass er „öfter Nein sagen“ werde, wenn SPD und Grüne mit ihren Wünschen kommen.

Konflikte sind also programmiert – zumal ja die Preisschilder fehlen. Als Finanzminister wäre ein leiser Stratege und Moderator gefragt, doch Lindner hat einen starken Geltungsdrang und neigt zum Autoritären. Außerdem ist er schnell gekränkt, wenn sein Image leidet. Die Persiflage „Alle 11 Sekunden verliebt sich ein Liberaler in sich selbst“ des NDR-Satiremagazins Extra 3 war ja nur deswegen so lustig, weil sie absolut zutrifft. Dieses enorme Selbstbewusstsein ist aber nicht durch irgendeine Regierungserfahrung gestützt. Lindner war noch nie Minister. Damit diese fehlende Kompetenz nicht auffällt, dürfte er noch mehr „rote Linien“ ziehen.

Für die Ampel ist es zudem eine Bürde, dass Lindner aus Nordrhein-Westfalen stammt. Denn die NRW-Liberalen haben allesamt den Eindruck, dass Koalitionen stets so funktionieren, wie sie es unter Armin Laschet erlebt haben, der ab 2017 in Düsseldorf regiert hat und dann 2021 als CDU-Kanzlerkandidat gescheitert ist. In NRW hatte Laschet kaum eigene Pläne, sondern machte gern, was die FDP vorschlug. Laschet wollte nicht so sehr regieren, sondern auch feiern. In der Sendung „Maischberger“ hat er kürzlich erzählt, was er als Ministerpräsident so schön fand: „Man ist Regierungschef eines großen Landes, aber man ist auch Repräsentant dieses Landes, trifft sehr viele Menschen im Ehrenamt, hat viele festliche Ereignisse, wo der Ministerpräsident gefragt ist.“

Lindner macht sich angreifbar

Laschets Gute-Laune-Programm hat bei der FDP den Eindruck hinterlassen, dass Regieren heißt, dass die Liberalen zu 100 Prozent bestimmen – obwohl sie bei der Bundestagswahl nur 11,5 Prozent erzielten. Dieses autoritäre Gehabe erzeugt bei vielen Wählern momentan den Eindruck, dass sich die Liberalen beim Ampelvertrag durchgesetzt hätten.

Für die Liberalen kann es jedoch gefährlich werden, dass Lindner so unbedingt Finanzminister werden wollte. Das Amt ist heikel. Selbst ein gewiefter Politiker wie Olaf Scholz kam mehrfach in Bedrängnis, weil nicht zu überblicken ist, was in den nachgeordneten Behörden schiefläuft. Besonders krisenanfällig ist die Bankenaufsicht Bafin, die unter anderem beim Wirecard-Skandal durchgängig gepennt hat. Schwierig ist auch der Zoll, weil er nebenher für Schwarzarbeit und Geldwäsche zuständig ist. Die Steuerkriminalität ist ebenfalls ein Problem, über das ein Finanzminister eventuell stolpern kann. Es wirkt gewagt, dass sich Regierungsneuling Lindner dieses Amt zumutet.

Für den neuen Finanzminister könnte auch gefährlich werden, dass er ausgerechnet Scholz beerbt, der das Haus fest im Griff hatte. Durch diese langjährigen Kontakte wird Scholz auch als Kanzler bestens informiert sein, was im Finanzministerium passiert – und was schiefläuft. Das macht Lindner angreifbar und erpressbar.

Aber vielleicht lernt Lindner ja dazu und verzichtet künftig darauf, ständig rote Linien zu formulieren. Dann kann die Ampel halten.


 

 

Eine kurze Einschätzung zu wenigen Themen, zu denen wir arbeiten:

 

 

Um es mit Ringelnatz zu sagen: „Sicher ist, dass nichts sicher ist. Selbst das nicht.“
Ein deutliches Zeichen für einen sozial-ökologischen Welthandel und damit gegen die neoliberale Handelsagenda wird verpasst. 
Dennoch bleibt an vielen Stellen Spielraum zu wichtigen Entscheidungen. Vor allem auf die Auslegung und Umsetzung wird es ankommen.

CETA: „Die Entscheidung über die Ratifizierung des (…) CETA treffen wir nach Abschluss der Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht.“
Es hätte schlimmer kommen können. Das haben wir verhindert. Und doch hat sich die Ampel nur Zeit gekauft. Jetzt heißt es: Dran bleiben!

 

ECT: „Wir setzen uns für eine Reform des Energiecharta-Vertrages ein.“ Damit bleibt der Koalitionsvertrag weit hinter unseren Erwartungen zurück. Warum die Modernisierung bereits gescheitert ist, habe ich Anfang des Jahres aufgeschrieben: http://www.umweltinstitut.org/aktuelle-meldungen/meldungen/2021/klima/das-ende-des-anti-klimaschutzvertrags-steht-bevor.html  Gemeinsam beenden wir noch den Energiecharta-Vertrag!

 

EU-MERCOSUR: „Wir setzen uns dann für die Ratifizierung des Mercosur-Abkommens ein, wenn zuvor von Seiten der Partnerländer umsetzbare und überprüfbare, rechtliche verbindliche Verpflichtungen zum Umwelt-, Sozial- und Menschenrechtsschutz eingegangen werden und praktisch durchsetzbare Zusatzvereinbarungen zum Schutz und Erhalt bestehender Waldflächen abgeschlossen worden sind.“ >Damit wird das Abkommen erstmal nicht ratifiziert!

 

Investitionsschutz: „Wir setzen uns für Investitionsabkommen ein, die den Investitionsschutz für Unternehmen im Ausland auf direkte Enteignungen und Diskriminierungen konzentrieren und wollen die missbräuchliche Anwendung des Instruments – auch bei den noch ausstehenden Abkommen – verhindern.“
> Hier wird es im Wesentlichen auf die Umsetzung ankommen. Streng genommen kann z.B. CETA damit nicht ratifiziert werden. Dennoch fordern wir: Es darf überhaupt keine exklusiven Sonderklagerechte für Konzerne geben. Weder wegen direkter, noch indirekter Enteignung!

 

Lieferkettengesetz: „Wir unterstützen ein wirksames EU-Lieferkettengesetz, basierend auf den UN-Leitprinzipien Wirtschaft und Menschenrechte, das kleinere und mittlere Unternehmen nicht überfordert. Das Gesetz über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten in Lieferketten wird unverändert umgesetzt und gegebenenfalls verbessert. Wir unterstützen den Vorschlag der EU-Kommission zum Gesetz für entwaldungsfreie Lieferketten. Wir unterstützen das von der EU vorgeschlagene Importverbot von Produkten aus Zwangsarbeit.​“ >Damit lässt sich arbeiten!

 

Das Kapitel Rohstoffe, Lieferketten und Freihandelist vor allem auch ein Arbeitsauftrag an uns, dranzubleiben. Es hat gezeigt: Gemeinsam können wir einiges erreichen. Wichtige Entscheidungen werden noch ausstehen und erfordern von uns vollen Einsatz!

 

Ludwig, Koordinator "Netzwerk gerechter Welthandel"

 


 

Marktliberale auf dem Vormarsch

 

Mario Candeias kritisiert, dass es den Koalitionären bislang an einem gemeinsamen Projekt fehlt.

 

  • Von Mario Candeias -  nd,

 

Am Dienstag wurde der Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP unterzeichnet. Am Mittwoch wird Olaf Scholz (SPD) aller Wahrscheinlichkeit nach zum Bundeskanzler gewählt. Doch die Ampelkoalitionäre haben ein Problem: Sie haben kein gemeinsames Projekt. Ein Projekt, welches zugleich einen neuen gesellschaftlichen Konsens stiftet und zugleich ausreichend neue Profitaussichten für das Kapital mit sich bringt. Zu widersprüchlich sind die in der Ampel repräsentierten Interessen.

 

Es wird deutlich mehr Klimapolitik geben als unter Angela Merkel, immerhin. Da das alles der auf Wachstum und Profit ausgerichteten Wirtschaft nicht allzu sehr schaden darf, wird der rot-grün-gelbe Klimaschutz sehr moderat bleiben, also notwendig viele Grünen-Wähler*innen vergrätzen.

 

Zur Person: Mario Candeias ist Direktor des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Ähnlich sieht es bei den sozialen Themen aus. Die SPD wird Signalreformen wie die Erhöhung des Mindestlohns umsetzen, aber durch die FDP stets bei weitergehenden Regulierungen gebremst werden. Das sogenannte Bürgergeld, bisher nur ein ideologischer Wortschleier, weil Hartz IV abgenutzt klingt, kommt. Sanktionsfreiheit oder mehr Geld für Langzeitarbeitslose? Fehlanzeige. Höheres Rentenniveau, Mietenmoratorium, Reregulierung der Arbeit, Bürgerversicherung - also zentrale sozialen Punkte, die SPD und Grüne in die Verhandlungen einbringen wollten - sind auf unbestimmt vertagt.

Die FDP hat kaum eigene Punkte; sie tritt vielmehr als Wächterin auf. Die Liberalen sind die eigentliche Verbotspartei: kein Tempolimit, keine Steuererhöhung, kein erneuerter Sozialstaat, nicht zu viel Klimapolitik, keine Einschränkung unternehmerischer Freiheiten. Nein, nein und nochmals nein. Ziele von SPD und Grünen lassen sich mit dieser Partei nur begrenzt umsetzen. Schlimmer noch: Mit der FDP bekommen die Marktliberalen in SPD und Grünen stärkeres Gewicht - nicht nur bei der Klimapolitik, sondern besonders bei der Rückkehr alter Ladenhüter wie der kapitalgedeckten Rente oder verstärktem Wettbewerb bei der Bahn. Auch eine Kapitaloffensive im Gesundheitssystem oder in der Wohnungspolitik steht zu befürchten.

 

Die neue Regierung wird die anstehenden gesellschaftlichen Herausforderungen nur halbherzig anpacken. Anders als in den USA gibt es keine Debatte über massive Investitionsprogramme in den ökologischen Umbau und die Rekonstruktion einer sozialen Infrastruktur. Ohne Aussetzung der Schuldenbremse und vor allem ohne Umverteilung lassen sich die Folgen der Pandemie und die notwendigen Investitionen nicht finanzieren. Es wird also eine verschärfte Zeit der Verteilungskämpfe geben. Dabei werden die Befürworter*innen einer sozial-ökologischen Politik insgesamt geschwächt. Insbesondere für (Industrie-)Gewerkschaften gibt es jetzt einen direkten Ansprechpartner im Kanzleramt und neuerdings bei den Grünen. Sie nutzen die bewährten Kanäle für den Umbau in sozialpartnerschaftlicher Routine mit Konzernen und Regierung. Das gleiche gilt für Teile der Umweltverbände und -bewegungen, die intensives Lobbying bei den Grünen betreiben werden. Gewerkschaften, die weniger profitieren (Sozial- und Erziehungsdienste, Pflege, Bildung, Handel und Lebensmittelindustrie), prekär Beschäftigte, aber auch viele Angestellte in der Industrie und radikalere Teile der Klimabewegung: Sie alle könnten in kurzer Zeit von der Ampel-Koalition enttäuscht werden.

Wenn die SPD keine neue »Agenda 2030« aufsetzt, symbolisiert sie mit ihrem Kanzler und der Signalreform Mindestlohn sowie zwei bis drei weiteren kleinen Verbesserungen den Spatz in der Hand, der vielen lieber ist als die Taube auf dem Dach. Die Grünen werden in der neuen Regierungskonstellation am meisten Verluste verzeichnen, weil ihre Wählerklientel am meisten erwartet. Bei der FDP ist es unklar, ob ihre Rolle als Wächterin ausreichen wird, um ihr dauerhaft Zustimmung zu sichern, wenn es der CDU gelingt sich freizuspielen.

 

Insgesamt bleiben große Spielräume für die einzige Opposition links der Regierung, wenn, ja wenn sie diese Chance zu nutzen weiß. Da gibt es keinen Automatismus, aber eine reale Möglichkeit, wieder auf die Beine zu kommen.

 


 

Das flexible Akkumulationsregime des gegenwärtigen Weltkapitalismus funktioniert über globale Lieferketten. Fällt ein Glied aus, gerät der Prozess der Produktion und Zirkulation ins Stocken.

Marco Schröder, jW, 31.10.2021

Als am 23. März dieses Jahres das gigantische Containerschiff »Ever Given« im Suezkanal auf Grund lief, sich schräg stellte und damit die Schiffahrtsrinne sechs Tage lang blockierte, waren die Folgen für die Weltwirtschaft enorm. Zwölf Prozent des gegenwärtigen internationalen Warenverkehrs passieren den Kanal. Der wirtschaftliche Schaden belief sich täglich auf rund zehn Milliarden Dollar.

Der Vorgang zeigte unmissverständlich an, wie verwundbar das System der internationalen Lieferketten ist, wie sehr deren reibungsloses Funktionieren unter anderem davon abhängt, dass das Nadelöhr Suezkanal nicht verstopft. Ein Verständnis des gegenwärtigen Kapitalismus ist ohne eine Analyse der globalen Lieferketten nicht zu haben. Dabei folgt die internationalisierte Produktion, global integriert und netzwerkartig strukturiert, gar nicht so sehr einem linearen Verlauf, wie es das Bild von der Kette nahelegt.

Mangel an Überfluss

Mitte Oktober lagen weltweit etwa 600 Containerschiffe vor großen Häfen wie Hamburg, Antwerpen, Rotterdam, Shanghai und Shenzhen, da sie aufgrund der Überlastung der Hafenanlagen nicht anlegen und ihre Fracht löschen konnten. Vor dem Hafen von Long Beach beispielsweise, der größten Im- und Exportschnittstelle der USA, bildeten sich lange Schlangen von Lastwagen. Derzeit sieht es danach aus, als könnten die akuten Unterbrechungen der globalen Lieferketten bis ins nächste Jahr andauern, vor allem weil die Delta-Variante des Coronavirus in Asien weiterhin zu Fabrikschließungen führt. So hat die chinesische Regierung, die eine konsequente Zero-Covid-Politik betreibt, den drittgrößten Containerhafen der Welt, den Hafen von Ningbo, im August teilweise stillgelegt, da das Virus bei einem Hafenarbeiter festgestellt worden war.

Die Stockungen im globalen Warenfluss wirken sich weltweit ganz erheblich auf die Preisentwicklung zahlreicher Güter aus. Lebensmittel, Rohstoffe und andere Handelswaren hatten sich zu Beginn des Jahres bereits verteuert. Aktuell steigen die Warenpreise ebenso wie auch die Frachtkosten weiter. Wie die Financial Times Mitte Oktober schrieb, hat sich der Preis für das Verschiffen eines Containers aus Asien nach Europa diesen September im Vergleich zum Mai des vergangenen Jahres verzehnfacht.

Laut dem Vorstand von DP World, einem der größten Containerhafenbetreiber weltweit, ist »die westliche Welt« in zu hohem Maße abhängig von der verarbeitenden Industrie in China. Importabhängige Länder wie die USA und Großbritannien leiden momentan unter einem Mangel an Kraftfahrern und Hafenarbeitern. In den USA sollen unter Dockarbeitern bereits 24-Stunden-Schichten an der Tagesordnung sein. Den größten US-amerikanischen Logistik- und Frachtunternehmen wie UPS und Fedex fehlt es schlicht an Arbeitskräften. Die US-Regierung hat bereits eine Sonderkommission eingerichtet, um das Lieferkettenproblem in den Griff zu bekommen.

Die Lieferausfälle beruhen darauf, dass das System der internationalen Taktung und Synchronisation der Transportwege infolge der Pandemie jäh außer Tritt geraten ist. Die Erklärung von Marktwirtschaftsgläubigen, wonach eine plötzlich steigende Nachfrage (im Westen) der Grund für die jetzige »Lieferkettenkrise« sei, ist, wenn an ihr überhaupt etwas dran sein sollte, zumindest mit Vorsicht zu genießen.

Ähnlich wie in der Finanzindustrie hat die »Diversifikation«, das heißt hier die Verteilung oder Streuung der Lieferketten auf verschiedene globale Regionen und Produktionszweige, zusammen mit der Öffnung der Märkte zu einer Konzentration auf bestimmte Knotenpunkte geführt. Elektronische Halbleiter, Lebensmitteldünger, Autoteile etc. werden über jene Lieferkette transportiert, über die sie am günstigsten – und das heißt auch: am schnellsten – von A nach B verbracht werden. Das bedeutet zwar flexiblere Verfügung über Produktion und Transport, erhöht aber die Anfälligkeit: der Ausfall eines Elements, die Verteuerung von Öl, von Transportcontainern, ein fehlendes Bauteil, gesteigerter Arbeitsaufwand in einer Fertigungsanlage, die Verspätung eines Schiffes etc. können für einen Kurzschluss sorgen, der sich unmittelbar auf die Lieferketten anderer Produktionszweige auswirkt. Sollten bestimmte Kostenfaktoren einer Lieferkette (Treibstoff, Container, Arbeitskräfte) steigen, lohnt sich womöglich die Investition in diesen Handelszweig schlicht nicht mehr. Die Lieferkette muss sich neu zusammensetzen oder entfällt ganz einfach. Die vielbeschworenen Preissignale des Marktes entfalten hier ihr destruktives Potential. Die eng getaktete Just-in-time-Produktion reduziert zwar drastisch die Kosten der Warenlagerung, doch wenn auch nur ein einzelnes Glied in diesem Prozess von Produktion und Transport ausfällt, hat das Rückwirkungen auf alle weiteren Glieder der Kette.

Logistische Revolution

Das, was bisweilen als logistische Revolution bezeichnet wird, zeichnet sich vor allem durch die Entwicklung des Containersystems und der Containerschiffahrt aus, die sich in den 1960er Jahren etablierte. Ähnlich wie die Logistik selbst ihren Ursprung in der militärischen Planung der Napoleonischen Kriege hatte, war die Planung und Organisation des Vietnamkriegs durch die US-Armee ein erstes Testfeld für standardisierte Container. Die Idee, Verladezeit und Löschungskosten mit Hilfe von großen Containern zu reduzieren, geht auf den US-Amerikaner Malcolm P. McLean zurück. Das erste Containerschiff, die »Ideal X«, ein umgebauter Öltanker, wurde von McLeans Reederei 1956 auf die Fahrt von Newark nach Texas geschickt. Obwohl es in Europa bereits vor dem zweiten Weltkrieg standardisierte Transportcontainer gegeben hatte, setzten sie sich erst nach Beginn des Vietnamkriegs durch.

Die internationale Standardisierung der Container ermöglichte den Transport unter Nutzung und Verbindung verschiedener Maschinen – von Schiffen, Kränen und Güterzügen – und setzt der zeitaufwendigen Arbeit des manuellen Verladens einzelner Gütern ein Ende. Die Maße des Standardcontainers – etwa sechs Meter lang und rund zweieinhalb Meter breit wie hoch – wurden unter der Bezeichnung »Twenty Foot Equivalent Unit« (TEU) zur internationalen Maßeinheit für Frachtvolumen. Ein solcher Container fasst ein Gewicht von bis zu 21 Tonnen. Aktuell werden zwischen 80 und 90 Prozent des globalen Warenverkehrs über die Containerschiffahrt abgewickelt.

Der rasante Ausbau der Frachtschiffindustrie in den vergangenen zehn Jahren, der in der Vergrößerung der Häfen weltweit und im irrationalen »Wettrüsten« der Frachtunternehmen, das größte Schiff mit der höchsten Kapazität zu bauen, zum Ausdruck kommt, ist der Grund für erhebliche Überkapazitäten. Symptomatisch drückt sich diese Hybris des Wachstums etwa im »Logistics Performance Index« der Weltbank aus. Dieser profitgetriebene Wettlauf hat nun nicht nur zu wiederkehrenden Transportunfällen geführt, sondern auch dazu, dass die Kolosse ihren Frachtraum häufig gar nicht voll beladen konnten – kurz, es gab mehr Schiffe als zu transportierende Güter. Nach Angaben der US-amerikanischen Politikwissenschaftlerin Charmaine Chua lagen im November 2016 ganze 263 Frachtschiffe mit einem vakanten Frachtvolumen von 934.000 TEU unbeladen vor Anker – zu diesem Zeitpunkt waren das etwa fünf Prozent der globalen Flotte. Im gleichen Jahr meldete Hanjin, das damals größte Frachtcontainerunternehmen Südkoreas, aufgrund von Überkapazitäten seiner Flotte Konkurs an. 90 Schiffe, 540.000 Container und Güter im Wert von 14 Milliarden US-Dollar blieben monatelang unbewegt, 3.000 Seeleute hatten keine Beschäftigung und kein Auskommen.

Die gigantische »Ever Given« mit ihrer Transportkapazität von 20.124 TEU, die im März den Suezkanal blockierte, ist in mehrfacher Hinsicht ein Sinnbild für das globale Ausmaß der Lieferketten: Eigentum einer japanischen Leasingfirma, die sich wiederum im Besitz der größten japanischen Werft befindet, registriert in Panama, betrieben von einer taiwanischen Reederei, bereedert von einem deutschen Management und besetzt mit einer indischen Crew. Der Koloss ist das Produkt einer Eigendynamik, immer größere Containerschiffe zu bauen, um, angefacht von der Konkurrenz der Unternehmen, den Umschlag der Waren weiter zu beschleunigen. Seit Beginn der 1970er Jahre sind die Frachtkapazitäten um das Fünfzehnfache gestiegen. 2013 hielt ein »Triple E«-Schiff der Reederei Maersk den Rekord von 18.000 TEU, während das Unternehmen heute Frachtschiffe mit einer Kapazität von 20.000 TEU unterhält. Die französische Schiffahrtsgesellschaft CMA CGM hat bereits Verträge über den Bau von Schiffen mit einer Last von 23.000 TEU abgeschlossen.

Die Erklärung dieser Gigantomanie findet sich in der Spekulation auf fortwährendes Wachstum, das dem Kapitalismus gleichsam als Naturgesetz eingeschrieben ist. Der Warenverkehr muss wachsen, alles andere wäre dem Profit abträglich. Schiffahrtsunternehmen sind Teil von Investitionsstrategien und der internationalen Finanzspekulation; Häfen sind als Infrastrukturinvestitionen genau wie Schiffe und Frachtraten interessante Objekte für den kredit- und schuldenbasierten Finanzmarktkapitalismus geworden. Das eröffnet breite Spekulationsmöglichkeiten auf Lieferzeiten, Transportrouten, Lebensmittelpreise, das Wetter etc.

Auch wenn es angesichts der aktuellen weltweiten Lieferengpässe kontraintuitiv erscheint – das exorbitante Wachstum der Containerschiffahrt und ihrer Kapazitäten war eben keine Reaktion auf eine wachsende Nachfrage, die Triebfeder war vielmehr, die Waren schneller zu befördern. Der Fall der Profitrate im Westen wurde mit den sich bietenden Möglichkeiten der Containerschiffahrt und einer damit gegebenen Verkürzung der Umschlagzeit »geographisch« pariert, wie Liam Campling und Alejandro Colás in ihrem Buch »Capitalism and the Sea: The Maritime Factor in the Making of the Modern World« schreiben. Durch die logistische Organisation und die Vergünstigung im globalen Frachtwesen konnten Firmen ihre Fabriken in den globalen Süden transferieren, schneller Material transportieren, den Lagerbestand drastisch reduzieren und vor allem in kürzerer Zeit den (schuldenbasierten) Konsum im globalen Westen bedienen. Die Erhöhung der Frequenz im globalen Warenhandel ermöglichte neue Wege der Akkumulation und der Just-in-time-Produktion, die im wesentlichen auf logistischen Entwicklungen der Schiffahrt beruhen.

Just in time

Die sogenannte Just-in-time-Produktion wurde bereits in den 1970ern von Toyota als Teil des Toyota Production System (TPS), einer holistischen Managementtheorie, entwickelt und in der Autoherstellung angewandt. Im Westen feierte man die Neuerungen im Produktionsmanagement als revolutionäre neue Praxis und Philosophie und übertrug sie, oftmals in rudimentärer Form, auf die eigenen Produktionsabläufe.

Angestrebt wird mit dem TPS eine effiziente und nach rationalen Kriterien operierende Gestaltung der Produktion. Dabei werden die Fertigungszyklen genau gemessen, um Lagerbestände zu vermeiden, In- und Output einer Fertigungsanlage synchronisiert, Bauteile erst dann bestellt, wenn auch das zu erzeugende Produkt in Auftrag gegeben wurde. Idealerweise kommen Lagerbestände so gar nicht erst auf, die Produktion soll sich möglichst eng mit der Zulieferung verzahnen. Das macht die Just-in-time-Produktion in hohem Grade abhängig von zuverlässigen Lieferketten und zugleich sehr anfällig, wenn letztere unterbrochen werden. Schon 1997 ging Toyota beinahe bankrott, als ein Feuer in der Fertigungsanlage eines Röhrenzulieferers die gesamte Produktion des Autobauers mehrere Tage lahmlegte.

Der US-Publizist Jasper Bernes beschreibt die Abläufe der Just-in-time-Produktion als eine paradox anmutende »Zeitreise«, insofern sie scheinbar dafür sorge, dass nur Produkte hergestellt werden, die bereits vorher an den Endverbraucher verkauft worden sind.¹ Produktions- und Lagermanagement sind über effiziente Informationsverarbeitung direkt mit der Distribution, den Einzelhändlern und deren Angebot verschaltet. Innerhalb dieses Paradigmas werden die Informationen sofort an das Produktionssystems rückübertragen. Die Produktion wird Teil der Zirkulation und umgekehrt.

Mit dem Ende des klassischen Fordismus im Westen und der keynesianistischen Organisation des Kapitalismus bildete sich etwa ab 1973 eine globale Organisation der Produktion heraus, deren Kennzeichen unter anderem eine Dezentralisierung der Produktion (Outsourcing) ist und die den Produzenten, etwa transnationalen Konzernen, ermöglicht, Ressourcen und Produktionskreisläufe so zu konfigurieren, dass sich die Kosten der Produktion verringern. Das liegt zum einen an der technischen Entwicklung auf der Ebene der Produktion, aber auch an den Kommunikationsmedien, die Logistik und Transport entscheidend geprägt haben.

Just-in-time-Produktion verlangte aber neben technischer Infrastruktur und den Transportmitteln noch etwas anderes. Anders als oft dargestellt, ist der sogenannte Neoliberalismus weniger durch ein Verschwinden des Staates geprägt als vielmehr durch eine andere Form staatlicher Lenkung und Durchsetzung des Marktes im In- und Ausland. Staatliche Akteure schaffen erst die rechtlichen Rahmenbedingungen für neue Akkumulationsregime. Die Industriestaaten öffneten so dem international operierenden Kapital mittels Handelsverträgen und internationalen Abkommen die Märkte des globalen Südens. Mit der politischen und ökonomischen Dominanz der Staaten des Nordens gestaltete das so mobilisierte Kapital die Produktion im globalen Süden gemäß den Bedürfnissen ihrer Lieferketten.

Flexibel und gelenkt

Staatlich vereinbarte Freihandelsverträge wiederum erfüllten eine weitere Voraussetzung für das System der internationalen Lieferketten: den weltweiten Zugriff auf Arbeit und deren flexible Organisation und Kontrolle – in den Worten von David Harvey »ein flexibles Akkumulationsregime«, dessen Ziel es ist, den Kapitalertrag mit Hilfe einer geographischen Reorganisation der Produktion zu steigern (»The Condition of Postmodernity«, 1990). Als Beispiel zur Veranschaulichung des neuen Produktionsparadigmas wählte Harvey die Firma United Colors of Benetton. Ein T-Shirt wird in China genäht, um dann in Indien gefärbt zu werden, während das Design in New York entwickelt und die Werbung von einem Büro in London entworfen wird, die Steuern wiederum in Irland abgerechnet werden. Das Beispiel United Colors of Benetton zeigt die Flexibilität moderner Unternehmen indes nicht nur in der Art und Weise der Produktion, sondern auch dahingehend, dass es auf das je spezifische Produkt gar nicht so sehr ankommt. Vermöge der weltweiten Verfügung über Arbeitsmärkte, Technik und Ressourcen kann schnell ein neues Produkt entworfen, können Produktionszweige abgestoßen und neue Absatzmärkte (nicht nur im Westen) erschlossen werden. In Windeseile lässt sich ein komplett neues Geschäftsmodell etablieren, ohne an eine schwerfällige materielle Infrastruktur gebunden zu sein, da die Fabriken und andere Produktionsstätten überhaupt nicht mehr fester Bestandteil des Unternehmens sind.

Welche Waren entlang der Lieferketten befördert werden, ist zweitrangig. Der Vizepräsident von Nike Asia erklärte einmal, dass er und sein Team gar keine Ahnung von Textilherstellung hätten, sie seien Designer und Marketingexperten. Vom Wichtigsten spricht der Manager des Sportartikelherstellers allerdings nicht: günstige Produktionsverträge in Asien, kurz, die Institutionalisierung von Sweatshops.

Man könnte in bezug auf die Lieferketten beinahe von einer globalen Trennung geistiger und körperlicher Arbeit sprechen: Organisiert werden sie oft von einem eigens beauftragten Unternehmen bis hin zur Produktion und Herstellung (»Tangibles«), während die Firma selbst sich vor allem um Marketing, Design und das Brand Development kümmert (»Intangibles«), was für die Wertschöpfung auf den westlichen Märkten eine ungeheure Bedeutung bekommen hat. Die wichtigsten Funktionen innerhalb der Lieferkette sind durch den Käufer bestimmt, während kleinere Firmen und Unternehmen, die Teile von ihr sind, nur begrenzte Möglichkeiten haben »aufzusteigen«. Sie bilden nur einen modularen Bestandteil der Lieferkette, stehen in Konkurrenzdruck zu anderen Firmen und sind dementsprechend auch leicht zu ersetzen.

Ungefähr ein Drittel des Welthandels erfolgt »intra-firm«, d. h. der Handel findet zwischen Firmen und Händlern statt, die einem führenden Unternehmen untergeordnet sind, das die Entscheidungen über materielle, finanzielle und »menschliche« Ressourcen in großen Teilen in der Hand hat. Die Untersuchung der Wertschöpfung entlang internationaler Lieferketten (»Global Value Chains«, GVC) macht daher deutlich, dass die Rede von den freien Märkten bloß strategische und ideologische Funktion hat. Globale Produktion und globaler Handel werden größtenteils von wenigen westlichen Unternehmen gelenkt und organisiert. Der Profit bewegt sich in diesem Gefälle ganz klar in eine Richtung: nach Norden. Das leitende Unternehmen zieht seinen Nutzen aus lokalen Wettbewerbsvorteilen, Produktionsfortschritten und Effizienzsteigerungen seiner Anbieter in den Entwicklungsländern. Die Entwicklung der sogenannten New Industrializing Countries (NIC) vor allem in Asien und Südamerika erklärt sich gewissermaßen umgekehrt proportional zur Deindustrialisierung des Westens.

Schrankenlose Konkurrenz

Wer schafft nun den globalen Reichtum in den Sweatshops der Niedriglohnländer? Im Grunde gilt für das weltumspannende flexible Akkumulationsregime der Lieferketten, was Karl Marx zur »sogenannten ursprünglichen Akkumulation« dargestellt hat: Es bedarf einer »Landnahme«, das Eigentumsverhältnis muss kapitalkonform zugerichtet, die Produktion Teil der Zirkulation und die Arbeiterklasse, Quelle des abstrakten Reichtums, überhaupt erst »gemacht« werden.
Die globale Warenwirtschaft hat mit dem Aufkommen der »Globalisierung« eine Gleichzeitigkeit von historischen Formen der Ausbeutung geschaffen. Ob Manufakturen und Fabrikhallen in Asien, die an den frühen britischen Kapitalismus mit seinen Arbeitshäusern erinnern, die informellen, patriarchalen Formen von Arbeit, etwa wenn Familienmitglieder hierzulande nachts im Kiosk arbeiten, oder auch die Leiharbeit in Deutschland, das Heer prekärer »Soloselbständiger« oder die befristet Beschäftigten: Es besteht ein Nebeneinander aller denkbaren Formen der Ausbeutung, d. h. der Verfügung über Arbeit nach Maßgabe des flexiblen Akkumulationsregimes. Nicht nur im globalen Süden. Auch wenn die rechtlichen und tatsächlichen konkreten Arbeitsbedingungen dort in vieler Hinsicht um einiges desolater sind. Hier gilt, was Marx in der Einleitung zum »Kapital« dem deutschen Arbeiter zuruft, der achselzuckend und optimistisch fragt, was die Zustände der damaligen Arbeiter in England mit ihm zu tun hätten: »De te fabula narratur!« (»Über dich wird hier berichtet!«)

Der Konkurrent ist die weltweite Reservearmee, nicht nur der ungelernte Arbeiter von nebenan. Die neue Mobilität des produktiven Kapitals schafft einen globalen Arbeitsmarkt, der, seit dem Beginn der 1980er Jahre im Westen von der Desintegration gewerkschaftlicher Organisation flankiert, den Druck auf die Löhne erhöht. Auch hier hat der Staat mit neoliberalen Reformen der Beschäftigtenrechte die Grundlage geschaffen, lokale Arbeitsverhältnisse nach den Maßstäben des neuen Akkumulationsregimes zu formieren. Während die globale logistische Infrastruktur das Rückgrat der Lieferketten bildet, sind es die staatlich gesetzten rechtlichen Regelungen und internationale Handelsabkommen, die die globale Durchsetzung neuer Produktionsmodelle ermöglichen. Die logistischen Netzwerke schaffen die Grundlage zur Durchsetzung von kapitalistischen Machtkonfigurationen auf internationalem Niveau, die Staaten den Rechtsrahmen zur Disziplinierung und Kontrolle der Arbeitskräfte.

Das betrifft auch unmittelbar die Organisation der Arbeit in der Produktion, die von Subunternehmen direkt mit den Rhythmen der Lieferketten synchronisiert wird. Ob in einem Amazon-Lager oder in einer chinesischen Fabrik für Halbleitertechnik, die Kontrolle der Arbeit ist den logistischen Gegebenheiten unterworfen. Das in vielen Teilen computerisierte oder algorithmisierte logistische System übt unmittelbare Kontrolle über die Arbeit und ihre Organisation aus.

Internationale Lieferketten bestehen aus kontingenten, informellen und instabilen Arrangements, die zwischen verschiedenen Firmen, Transportunternehmen und Ländern bestehen und die, wie es Anna Tsing ausdrückt, häufig experimentellen und in mehrfacher Hinsicht grenzüberschreitenden Charakter besitzen, da ihre Etablierung auf der Verbindung von Arbeitsregimes in verschiedenen Ländern und Kulturen basiert.² Dazu gehören Arbeitsmigration, Subunternehmertum (Leiharbeit), die gezielte Ausbeutung und Unterdrückung von Frauen oder anderen Minderheiten, ohne dass der Konzern, der sie »regiert«, für diese Unterdrückungsformen selbst zur Verantwortung gezogen wird.

Institutionalisiertes Arbeitsunrecht, patriarchale Strukturen, Rassismus, staatliche Unterdrückung und Kolonialismus sind oft lokale Phänomene und als solche der Lieferkette »äußerlich«. Das Verhältnis von Kapital und Arbeit wird entlang von intersektionalen Ausprägungen der Ausbeutung konfiguriert und reproduziert. Sogenannte kulturelle Diversität ist nicht nur ein Modewort in den Konzernetagen, sondern auch ertragreich durch diversifizierende Formen der Ausbeutung durch Arbeit. Neben quasi »organischen« Formen, beispielsweise in traditionellen und patriarchalen Familienstrukturen, existieren vollkommen losgelöste Formen der Arbeit, etwa auf den Weltmeeren in der Containerschiffahrt, die eigentlich gar keiner kulturellen Vermittlung mehr folgen. Alle können sie gleichzeitig wertzusetzender Teil einer Lieferkette sein.

Und der Widerstand?

Die Dezentralisierung der Produktion entspricht dem Outsourcing und der Dezentralisierung der (organisierten) Arbeit. Waren Minen, Häfen, die Seefahrt und das Transportwesen, historisch gesehen, immer Hotspots für den organisierten Widerstand der Arbeiter, trägt heute die kulturelle Markierung »migrantische Arbeiter« zu einer Entsolidarisierung und Vereinzelung bei. Unter welchen Umständen können die jetzigen Schaltzentren der globalen Warenproduktion und -zirkulation zu lokalen Brennpunkten des internationalen Widerstands der Arbeiterinnen und Arbeiter gegen das Kapital werden? Angesichts der internationalen Organisation der Ausbeutung von Arbeit liegt eine internationale Assoziation der Arbeiterinnen und Arbeiter mehr als nahe. Die existierende grenzüberschreitende Organisation von Beschäftigten in Konzernen wie Amazon könnte dafür beispielgebend sein. Der Kapitalismus hat kein singuläres Zentrum, das sich angreifen ließe. Der Stuhl, auf dem er sitzt, hat viele Beine, an denen es zu sägen gilt.

Anmerkungen

1 Jasper Bernes: Logistics, Counterlogistics and the Communist Perspective. Online: endnotes.org.uk/issues/3/en/jasper-bernes-logistics-counterlogistics-and-the-communist-prospect

2 Anna Tsing: Supply Chains and the Human Condition. In: ­Rethinking Marxism. A Journal of Economics, Culture and ­Society 21 (2009) Nr. 2, 148–176

 

Die Politikwissenschaftlerin Birgit Mahnkopf forscht zur Krux des Wachstums und zur ökosozialen Gerechtigkeit. Im Gespräch erinnert sie daran, dass wir der Krise ins Auge schauen müssen, und dies möglichst sofort. Die Kraft für eine radikale Umwälzung der Verhältnisse können wir heute nicht aus dem tröstlichen Versprechen einer wunderbaren, glücklichen Zukunft beziehen. Nein, wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass es gilt, das Schlimmste zu verhindern, und das muss als Antriebskraft genügen.

 

Gibt es Parallelen zwischen der
            Pandemiebekämpfung und der Art und Weise, wie man gegen den
            Klimawandel vorgeht?
Gibt es Parallelen zwischen der Pandemiebekämpfung und der Art und Weise, wie man gegen den Klimawandel vorgeht?

 

Interview: Raul Zelik in der WOZ Nr. 28/2021 vom 15.07.2021

WOZ: Frau Mahnkopf, Corona hat die Bedrohung durch den Klimawandel in den Hintergrund rücken lassen. Sehen Sie Parallelen zwischen der Pandemiebekämpfung und der Art und Weise, wie man gegen den Klimawandel vorgeht?
Birgit Mahnkopf: Die Pandemie wurde kurzzeitig als Zäsur erachtet, die alles ändern könnte. Und es gab auch einige Änderungen: eine Ermächtigung staatlicher Organe, die allerdings nicht besonders erfolgreich war, weil in unserer Gesellschaft die individuellen Freiheitsrechte über vieles andere gestellt werden. Im Hinblick auf die ökologische Katastrophe sehe ich eine derartige Entschiedenheit überhaupt nicht. Was gegenwärtig in den reichen Industrieländern eingeleitet wird, ist im besten Fall Augenwischerei.

Allerdings beweist die Pandemie, dass Marktgesellschaften kaum in der Lage sind, grundlegende Probleme gemeinsam zu bearbeiten. Es wird in erster Linie über die Präferenzen von Interessengruppen gesprochen.
Das ist wohl wahr. Obwohl wir regelmässig das Versagen der Märkte erleben, wird diese Maschinerie, die Karl Polanyi als «Satansmühle» bezeichnet hat, nicht hinterfragt. Das ist in der Pandemiebekämpfung nicht anders. Es gibt zwar staatliche Einschränkungen der Freiheitsrechte, aber was die Impfstoffproduktion angeht, setzt man allein auf das Prinzip der Marktanreize. Der Ruf nach staatlichem Handeln ist zwar lauter geworden, aber damit sind keine Eingriffe in die Eigentumsrechte gemeint.

In der Klimapolitik, wie sie quer durch alle Parteien, aber vor allem auch von den Grünen vertreten wird, zeigt sich das ebenfalls sehr deutlich. Nehmen wir ein vergleichsweise einfaches Problem, den Ausstieg aus dem Verbrennungsmotor: Anstatt klare Vorgaben zu machen, wird der Kauf eines Elektroautos mit einer Prämie von 9000 Euro belohnt, doch niemand verteilt kostenlos Fahrräder. Von einer Ermächtigung der öffentlichen Hand gegenüber den Märkten kann also keine Rede sein.

Sie sind in den letzten Jahren pessimistischer geworden, was die Frage angeht, ob sich sozialökologische Veränderungen durchsetzen lassen. Was ist denn das grösste Hindernis?
Das Junktim von Kapitalismus und Demokratie hat gut funktioniert, solange es mit unbegrenztem Wachstum einherging. Wenn heute von «ökologischer Wende» gesprochen wird, geht es darum, den Kapitalismus grüner zu machen. Nötig wäre aber eine Veränderung der Gesellschaftsform. Die gesellschaftliche Form des Industriekapitalismus ist, das lässt sich bei Marx nachlesen, die einer Warengesellschaft, ausgerichtet auf unendliche Akkumulation von Kapital. Das Kapital aber ist strukturell ignorant gegenüber den Menschen wie gegenüber der Natur. Was sich nicht mit Geld und Technik verändern lässt, unterbleibt.

Was ist mit der viel beschworenen «Klimaneutralität»?
Wer von «Klimaneutralität» schwadroniert, meint eigentlich nur: Wir setzen ein wenig mehr als bisher auf erneuerbare anstelle von fossilen Energieträgern und sichern uns – koste es, was es wolle – den Zugriff auf die dafür benötigten nicht erneuerbaren Rohstoffe, zuvorderst Metalle, Land und Wasser. Als «realistisch» und «durchsetzbar» gilt, was am bewährten «Geschäftsmodell» der OECD-Welt nichts Wesentliches ändert. Wir wollen weiter so leben wie bisher und scheren uns wenig darum, was dies für Menschen und Ökosysteme ausserhalb unseres Horizonts bedeutet. Insofern sind wir keinen Schritt weiter als vor zwanzig oder dreissig Jahren.

In den Umweltbewegungen werden ja meistens die Konsumerwartungen der vielen thematisiert. Aber sind die Kapitalinteressen der wenigen nicht viel entscheidender?
Diese beiden Aspekte lassen sich nicht voneinander trennen. Wir leben in einer Warengesellschaft, in der nicht nach essenziellen Bedürfnissen und Notwendigkeiten, sondern allein danach gefragt wird, wie eine hergestellte Ware abgesetzt wird. Profite müssen generiert und reinvestiert werden. Die KonsumentInnen sind ein elementarer Bestandteil dieses Systems, und «consumere» hat, daran sei hier erinnert, im Lateinischen auch die Bedeutung «zerstören». Etwas wird aufgebraucht. Das ist im Kapitalismus unverzichtbar – ohne Konsum weder Profit noch Produktion. Es kann also keine Rede davon sein, dass Konsuminteressen schlimmer oder weniger schlimm seien als Profitinteressen. Die Ware hat diese beiden Seiten. Wenn sie nicht konsumiert wird, erzeugt sie keinen Profit. Die radikale Alternative – weniger von allem – stellt sowohl für die KapitaleignerInnen als auch für die KonsumentInnen eine Bedrohung dar. Wir haben es also mit einer problematischen Liaison zwischen den ProfiteurInnen dieser Gesellschaftsformation und denjenigen zu tun, die eigentlich ein Interesse an Veränderungen haben müssten.

Es gibt seit den 1940er Jahren eine technologiekritische Debatte. In den letzten Jahren behaupten neue linke Strömungen, etwa der Akzelerationismus, dass wir offensiv auf technische Lösungen setzen sollten. Sie hingegen verweisen in Ihren Texten mit Günther Anders, dem ersten Ehemann von Hannah Arendt, darauf, dass zerstörerische Technologien, die einmal in der Welt sind, auch eingesetzt werden. Warum ist Technik eher ein Problem als Teil der Lösung?
Technik kann natürlich Teil der Lösung sein. Werkzeuge wie ein Hammer lassen sich bekanntermassen zu sehr unterschiedlichen Zwecken einsetzen. Aber Technologien sind ja nicht dasselbe wie Techniken und besitzen oft ein Eigenleben. Ihre Wirkung geht zumeist über unsere Fähigkeit zur Kontrolle hinaus. Seit der Aufklärung gilt, dass, so Günther Anders, alles, was technisch möglich ist, auch gemacht wird. Es gibt keine wirksame Bremse. Genau die brauchen wir aber: eine gesellschaftliche Debatte darüber, welche Technologie wir wollen und welche nicht. Faktisch passiert das Gegenteil: Die von uns erzeugte Klimakatastrophe soll mit absehbar katastrophenträchtigen Techniken des Geoengineering eingedämmt werden. Es wird nicht gefragt, was gesellschaftlich getan werden müsste, sondern es wird entwickelt, was technisch möglich ist. Wenn sich ein Markt dafür auftut, kommt die neue Technologie auch zum Einsatz, allen frühen Warnungen zum Trotz.

Sie haben sich zuletzt viel mit der Digitalisierung beschäftigt und betonen, dass die Überwachung des Einzelnen nicht das einzige Problem sei. Mindestens ebenso dramatisch seien die ökologischen Verheerungen, die die Digitalisierung nach sich ziehe.
Ja, die Datenströme verschlingen Unmengen an Energie und Ressourcen. Als EndnutzerInnen interessiert uns der Energieverbrauch der Datenzentren nicht, ein einziges verbraucht so viel Energie wie die 350 000 BewohnerInnen des Berliner Bezirks Schöneberg-Tempelhof zusammen. Dazu kommen die Rohstoffe, die für die digitalen Infrastrukturen benötigt werden. Der Begriff der Cloud suggeriert, die Daten würden durch den Himmel fliegen; aber tatsächlich bewegen sie sich ganz bodenständig durch Kupfer- und Glasfaserkabel, brauchen Satelliten im All und Trägermetalle. Die dafür nötigen Rohstoffe aber sind nicht nur ökonomisch, sondern auch im physischen und vor allem im geopolitischen Sinne knapp. Denn sie werden nur in sehr wenigen Ländern gefördert, und ihre ökologisch desaströse wie gesundheitsschädliche Produktion und Weiterverarbeitung konzentriert sich ebenfalls auf nur wenige Länder. Daher werden die geopolitischen Konflikte um diese Rohstoffe nicht geringer sein als die um das Erdöl.

In der ersten grossen Umweltbewegung der 1970er und 1980er Jahre war schon einmal viel von «Ökosozialismus» die Rede. Was ist von diesem Begriff heute noch aktuell?
Auf den Begriff kommt es vermutlich weniger an. Zumindest in Europa wissen wohl die meisten Menschen, dass etwas und was grundlegend geändert werden müsste, wenn tatsächlich eine halbwegs nachhaltige Produktions-, Verkehrs- und Lebensweise angestrebt würde. Wie der wünschenswerte Zustand benannt werden wird, das kümmert mich derzeit weniger. Unstrittig aber dürfte sein, dass Pläne und viele Verhandlungen an die Stelle des Marktes treten müssten.

Also Planwirtschaft?

Es stimmt natürlich, dass es in der Vergangenheit fehlgeleitete Planwirtschaften gab. Trotzdem sind Pläne notwendig, wenn Gesellschaften mit physischem Mangel und mit geopolitischer Knappheit konfrontiert sind und wenn es darum geht, sozial gerecht und friedlich mit diesen unvermeidlichen Konstellationen umzugehen. Dann braucht man zwangsläufig Rationierung. Ich verwende diesen Begriff, bei dem alle zusammenzucken, ganz bewusst, um deutlich zu machen: Wenn Wasser, fruchtbares Land und viele Metalle zu knappen Ressourcen werden, dann muss es Verhandlungen und global gerechte Entscheidungen darüber geben, wofür sie verwendet werden sollen.

Für Golfplätze oder für Trinkwasser …

Ja, oder für die Produktion von Wasserstoff als Energieträger, denn diese Technologie kann die Wasserknappheit vielerorts dramatisch verschärfen. Für diese Entscheidungen benötigen wir ein faires System des Interessenausgleichs. «Managed austerity» – eine gesteuerte Sparsamkeit in globalem Massstab. Unter den heutigen Bedingungen des Weltmarkts bestimmen die zahlungskräftigen Abnehmer, während alle anderen sehen können, wo sie bleiben.

Was können wir denn von der Zukunft erwarten?
Bevor es eine ökosozialistische Perspektive geben kann, werden wohl Chaos, Konflikte und gewalttätige Auseinandersetzungen zunehmen. Wichtiger als der Streit darüber, in welchem Mischverhältnis Staat und Gesellschaft, Plan und Markt in Zukunft stehen werden, scheint mir ein realistischer Blick in die absehbare Zukunft. Die Linke erweckt oft den Eindruck, als müsste der dritte Schritt vor dem ersten getan werden. Der erste Schritt bestünde aber darin, möglichst viele Menschen davon zu überzeugen, dass wir der Krise ins Auge schauen müssen, und dies möglichst sofort. Die Kraft für eine radikale Umwälzung der Verhältnisse können wir heute nicht aus dem tröstlichen Versprechen einer wunderbaren, glücklichen Zukunft beziehen. Nein, wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass es gilt, das Schlimmste zu verhindern, und das muss als Antriebskraft genügen. Wir hätten die Aufgabe, heute Institutionen zu schaffen, die mit dieser Krise anders als nur zerstörerisch umgehen können.

 

Prognostizierte Extreme für verschiedene Grade der globalen Erwärmung aus dem IPCC-Bericht. Bild: RCraig09, CC BY-SA 4.0

Zum ersten Teil des CMIP6-Reports des Weltklimarates

Überall auf der Welt forschen Wissenschaftler zu Fragen des Klimas. Um die vielen verschiedenen Versionen der entwickelten Klimamodelle besser vergleichen zu können und die Forschungsbemühungen aufeinander abzustimmen, wurde Mitte der 1990er-Jahre vom Weltklimaforschungsprogramm (WCRP) das internationale Coupled Model Intercomparison Project (CMIP) ins Leben gerufen.

Die CMIP-Modelle wurden im Verlauf der letzten fast 30 Jahre mit zunehmender Komplexität und Qualität - also Genauigkeit - entwickelt. So wurde in den letzten Jahren die sechste Modellklasse (CMIP6) mit dem Bericht AR6 [1] mit größter Spannung erwartet, wobei aber schon viel davon vorab publiziert worden war.

Die Publikation des Berichtes am 9. August traf medial auf großes Echo. Es folgt noch eine zweite Publikation.

Einige Zusammenhänge, etwa die globale Wolkenbildung und die Wechselwirkung der Atmosphäre mit den Ozeanen, hatten sich lange nur unzureichend berechnen lassen.

Immer wieder zeigten sich darin neue Rückkopplungen, deren Auswirkungen nun, mit AR6, etwas besser verstanden sind - wenn auch immer noch nicht perfekt.

Mit der globalen Erwärmung und dem Abschmelzen von Eis ändert sich unter anderem der Salzwassergehalt in den Meeren. Diese Änderung beeinflusst die Meeresströmungen.

Doch wie sich dieser Effekt genau berechnen lässt und welche weiteren Temperatureffekte dies auslöst, weiß man zwar jetzt etwas besser, aber eben immer noch nicht sehr genau.


Ehrgeizige Modellgenauigkeit

Die Klimamodelle der CMIP6-Serie haben sich dieser Probleme weitaus intensiver gewidmet, doch zukünftige CMIP-Serien werden sich ihnen noch detaillierter und weiteren offenen Probleme annehmen müssen.

Die CMIP6-Modelle sind in ihrem Anspruch an die Modellgenauigkeit noch einmal wesentlich ehrgeiziger als ihre Vorgänger-Modelle. Zum Beispiel wurde in einigen von ihnen die räumliche Auflösung der Gitter, auf denen das globale Klima modelliert wird, auf unter 100 Kilometer gebracht.

Damit lassen sich die Effekte der Wolkenbildung auf das lokale und globale Klima besser erfassen. Zugleich steigt die zeitliche Dichte der Messungen deutlich an.

"Dieser Bericht ist unschätzbar für die künftigen Klimaverhandlungen und politischen Entscheidungsträger», sagte der Präsident des IPCC, der Süd-Koreaner Hoesung Lee.

Etwas dramatischer drückte es Erich Fischer, Klimaforscher an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich und einer der leitenden IPCC-Autoren, aus:

    Der Klimazustand hat sich rasch weiterverändert, und das Zeitfenster, um die Ziele des Pariser Abkommens zu erreichen, geht allmählich zu.

Was bezeichnend für den Bericht ist, dass sich im Vergleich zu den Verhandlungen über die AR5-Publikation vor fast acht Jahren die Debatten offensichtlich viel reibungsloser verliefen.

Die IPCC-Autorenschaft setzte sich diesmal wohl klar gegen den bisher immer stattgefundenen Widerstand aus der Politik gegen klare Formulierungen durch. Zudem wurde die Wissenschaftlichkeit des Berichts nicht mehr angezweifelt.

So wird nun auch die Verantwortlichkeit klar dargestellt: Der Mensch ist gemäß IPCC klar und deutlich für die gesamte beobachtete Erderwärmung seit der vorindustriellen Zeit verantwortlich: 1,6 Grad auf dem Land, 0,9 Grad über dem Meer, 1,1 Grad im globalen Mittel.

Ihr Ergebnis fällt insgesamt erschütternd aus als von den meisten Menschen erwartet.

So könnte der Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur um 1,5 Grad gegenüber dem vorindustriellen Niveau, die ja gemäß dem Pariser Abkommen möglichst nicht überschritten werden sollte, bereits früher erreicht werden, als bisher angenommen. Mit einer hohen Wahrscheinlichkeit wird sie bereits in den frühen Dreißigerjahren erreicht sein, wenn der Ausstoß von Treibhausgasen nicht drastisch reduziert wird.

1,5 Grad Erwärmung könnten schon 2040 erreicht sein

Im IPCC-Sonderbericht von 2018 [2] lag die Schätzung, wann die 1,5 Grad erreicht unter diesen Bedingungen wird, zwischen 2030 und 2052.

Heute liegt die Schätzung des allerspätestens Zeitpunkts bei 2040. Die Weltgemeinschaft wird damit wohl die Pariser Ziele krachend verfehlen, wenn der Treibhausgasausstieg nicht schneller und drastischer sinkt, so die Aussage des Berichtes.

Die Veröffentlichung des Berichtes fiel just in die katastrophalen Wochen mit Überschwemmung in Deutschland und der Schweiz, extreme Hitze in Kanada und dem Nordwesten der USA, Hitzerekorde in Nord- und Südeuropa, massive Feuer in der Türkei, und starke Überflutungen in China.

All dies – und insbesondere die Gleichzeitigkeit all dieser Ereignisse – wäre ohne die Hitzerekorde nicht möglich gewesen, so der Konsens der Klimaforscher.

In ausnahmslos allen Erdteilen werden extrem heiße Tage deutlich zunehmen. Zugleich wird es wahrscheinlicher, dass Hitzewellen und Dürren oder Starkregen und Stürme gleichzeitig auftreten.

Klar ist für die Klimaforscher auch, dass wir die kritische Zwei-Grad-Grenze höchstwahrscheinlich überschreiten, wenn wir die Treibhausgasemission nicht vor der Mitte des Jahrhunderts auf Null oder nahe Null senken.

Dies erscheint vielen als eine zu polemische Aussage. Aber in den Wissenschaften ist es eben nicht erlaubt, die Welt so zu sehen, wie sie die Politiker, Ökonomen und viele andere gerne hätten.

Vielmehr zeigen uns Wissenschaftler, wie sie wirklich ist. Und es ist wahrlich historisch bei Weitem nicht das erste Mal, dass sie damit auf öffentlichen Widerstand stoßen.

Lars Jaeger (geboren 1969 in Heidelberg, Deutschland) ist ein schweizerisch-deutschen Unternehmer, Wissenschaftler, Schriftsteller, Finanztheoretiker, alternativer Investmentmanager [3]. Er studierte Physik und Philosophie an der Universität Bonn in Deutschland und der ÉcolePolytechnique in Paris und hält einen Doktortitel in theoretischer Physikm welchen er in Studien am Max-Planck-Institut für Physik komplexer Systeme in Dresden erwarb, wo er auch Post-Doc-Studien unternahm.

 

Hallo ATTAC_is Flensburg,

die erste Aktion von Ende Gelände in Schleswig-Holstein (Brunsbüttel) ist erfolgreich zu Ende gegangen! (s. Link zur Abschluß-Erklärung hier unten) Wie eng Klimaschutz und Klimagerechtigkeit zusammenhängen und was dies mit dem Kampf gegen Neokolonialismus und Rassismus zu tun hat, ist wohl auf keiner der bisherigen Massen-Aktionen von Ende Gelände so deutlich geworden.

Das Fracking, wogegen hiesige Bürger:innen-Inis mit langem Atem bislang erfolgreich ein Moratorium erzielt haben, geht derweil hauptsächlich im globalen Süden sowie in Nordamerika / Kanada munter weiter. Ist es deswegen leichter für uns und die Umwelt zu ertragen?

Während hier Gegner:innen der Nutzung fossiler Energien immerhin als potentielle Wähler:innen ins Kalkül einbezogen werden, sind im Süden bislang etwa 1.500 Umwelt-Aktivist:innen und Angehörige indigener Völker wegen ihres Widerstands gegen diese Umwelt-Zerstörungen getötet worden. Können, wollen wir damit leben?

Ein paar persönliche Erfahrungen / Schlaglichter aus Brunsbüttel habe ich auch noch beigefügt.

Danke für euer Interesse, Per.


https://www.ende-gelaende.org/news/pressemitteilung-vom-1-8-2021-1300-uhr/