Diplomat gegen General: „Wenn Argument schwach, schreien!“

 BZ-Artikel von Hellmut Hoffmann - 03.09.25

Auch wenn Antworten auf Repliken aufgrund unvermeidlicher Bezugnahmen schwere Lesekost sind, will ich mich zu Klaus Wittmanns Kritik (Berliner Zeitung vom 16./17. August d.J. „Der Westen muss die Ukraine weiter stärken. Eine Replik) an meinem Artikel („Der eigenen Propaganda aufgesessen“, Berliner Zeitung vom 19./20. Juli d.J. - siehe unten!)  äußern, schon weil dies zu einer lebendigen Debattenkultur beiträgt, die von der Berliner Zeitung vorbildlich gefördert wird. Darüber hinaus gibt dies Gelegenheit, die Diskussion zu Möglichkeiten und Bedingungen einer Beendigung des russisch-ukrainischen Kriegs voranzutreiben, insbesondere in Bezug auf die aktuelle Debatte um Sicherheitsgarantien.

Einen Blick „auf die Ukraine nur mit russischen Augen“, gar „Verständnis für Putins Krieg“ sowie eine „beschämende Empathielosigkeit für das von Vernichtung bedrohte ukrainische Volk“ attestiert mir Wittmann. Dies zeigt aber nur, dass er den springenden Punkt meiner Überlegungen gründlich missverstanden hat. Ein genauer Blick auf den Untertitel meines Artikels könnte helfen: „Wer Kriege beenden oder künftige verhindern will, braucht ein klares Lagebild und genaue Kenntnis der Positionen und Möglichkeiten aller Akteure.“

Dies heißt: Wer Konflikte lösen will, muss Tolstois „Alles verstehen, heißt alles entschuldigen“ umdrehen: „Alles verstehen, heißt nicht alles entschuldigen!“ Wer nicht in der Lage ist, die Dinge mit den Augen des Anderen zu sehen – was eben nicht bedeutet, diese Sicht zu billigen oder gar gutzuheißen – wird allenfalls dann Erfolg haben, wenn er über die Machtmittel verfügt, seine Sicht mit Gewalt durchzusetzen. Auf die Perspektive des Anderen kommt es dann nämlich überhaupt nicht an. Dem ist im Fall des russisch-ukrainischen Kriegs aber nicht so.

Die mitunter polemisch bis aggressive Zuspitzung mancher Behauptungen Wittmanns über meine Haltung erinnert an Winston Churchills Rat für Debattenredner: „Wenn Argument schwach, schreien!“  So zählt Wittmann mich zu den „Experten, die sich von dem erfahrenen KGB-Mann für dumm verkaufen lassen“, weil ich so „naiv“ sei, Wladimir Putins ausdrückliche Anerkennung des Wunsches der Ukrainer nach einem souveränen und unabhängigen Staat „zum Nennwert“ zu nehmen, wie auch dessen Frage, aus welchem Grund die Ukrainer nicht mit den Russen wie die Österreicher und die Deutschen in zwei aus gemeinsamer Geschichte hervorgegangenen Staaten gutnachbarschaftlich nebeneinander leben können sollten, statt sich feindlich  gegeneinander aufzustellen. Hierzu ist zu sagen: Ob man Putins Aussagen Glauben schenkt oder nicht, muss jeder für sich entscheiden, nachteilig für die Entwicklung eines vollständigen Lagebildes ist es aber grundsätzlich, wenn Medien sich herausnehmen, in das dominierende Schema nicht passende Äußerungen andauernd zu unterschlagen.

Gelegentlich versucht Wittmann Punkte zu machen, wo es keine gibt. So meint er mich in einem besonders „eklatanten Fall“ meiner „Leichtgläubigkeit gegenüber Putin-Aussagen“ überführt zu haben. Mitnichten enthalte die Unabhängigkeitserklärung der Ukraine von 1991 nämlich die von mir übernommene Behauptung Putins, wonach sich die Ukraine zu „Neutralität“ verpflichtet habe. Genauere Recherche wäre Wittmann freilich anzuraten gewesen – schon deshalb, weil es nicht gerade wahrscheinlich ist, dass der Staatspräsident Russlands in dieser für sein Land wichtigen Frage Erfindungen verbreitet.

In einer bereits am 16. Juli 1990, das heißt vor Auflösung der Sowjetunion, in der Kiewer Rada verabschiedeten „Erklärung der Staatssouveränität der Ukraine“ heißt es in Artikel IX. über „Äußere und innere Sicherheit“, dass die Ukraine ein „neutraler Staat“ werden solle, der sich „an militärischen Blöcken nicht beteiligt“. Dass man in Moskau dies nicht vergessen hat, liegt auf der Hand.

Wie kommt Wittmann zu der Behauptung: „Hoffmann lehnt einen ukrainischen Siegfrieden ab“?  Sollte damit etwa gemeint sein, dass ich die Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine und die Freiheit ihrer Bündniswahl nicht für wünschenswert hielte, liegt er vollkommen falsch. Beides wünsche ich selbstverständlich der Ukraine und dies nicht nur, weil es dem Völkerrecht entspricht.

Nur: Wer sich einen nüchternen Blick bewahrt hat, sieht, dass ein „Siegfrieden“ für die Ukraine mit den bekannten Elementen bis hin zur Anklage Putins nicht erreichbar ist. Insbesondere kann die Ukraine im Lichte dessen, was man heute vernünftigerweise sagen kann, auf militärischem Weg die von Russland besetzten Gebiete nicht zurückgewinnen, schon gar nicht die Krim.

 

Dies sieht die ukrainische Führung inzwischen wohl auch so und drängt daher auf einen bedingungslosen Waffenstillstand. Sie tut dies in der offensichtlichen Hoffnung, sich im Verlauf endlos in die Länge gezogener Friedensverhandlungen eine bessere politische und militärische Position verschaffen zu können, etwa durch Veränderungen in Russland, den Aufbau eines starken Waffenarsenals oder andere Entwicklungen. Im Ergebnis bedeutet dies: Wird eine Friedensregelung mit Russland nicht erreicht, bezahlt die Ukraine für eine perspektivlose Fortsetzung des Krieges mit unzähligen Opfern an Menschen und gewaltigen materiellen Schäden einen sinnlosen Preis. Europa und der Welt wird ebenfalls großer Schaden zugefügt.

In Anbetracht dieser im eigentlichen Wortsinn tragischen Situation fällt Wittmanns an mich gerichteter Vorwurf „beschämender Empathielosigkeit für das von Vernichtung bedrohte ukrainische Volk“ auf ihn zurück. Ist es ein Beweis wahrer Empathie, ein schwer geschundenes Volk in der Fortführung eines perspektivlosen Kampfes zu bestärken? Noch dazu mit dem (ohnehin fragwürdigen) Argument, es kämpfe auch für unsere Sicherheit, gleichzeitig aber eigene Teilnahme an diesem Kampf auszuschließen?

Wenn Wittmann meint, Putins „Handeln“ sei für mich eine „verständliche (gar akzeptable?) Reaktion auf westliche Aktionen“ und mir „erschütternde Blindheit gegenüber Putins Zielen“ vorwirft, dann zeigt dies einmal mehr, dass er meinen Ansatz nicht verstanden hat.

Vor allem will ich darauf aufmerksam machen, dass herausragende amerikanische (!) Persönlichkeiten wie George Kennan, Henry Kissinger und William Perry (Verteidigungsminister unter Präsident Bill Clinton) vor potentiell hochgefährlichen Folgen einer absehbar negativen Reaktion Moskaus auf die Nato-Osterweiterung schon in den Neunzigerjahren gewarnt haben und im besonders kritischen Fall der Ukraine die Zeichen einer gewaltsamen Konfrontation ab 2020/21 deutlich an der Wand standen. Niemand kann daher behaupten, nicht gewusst zu haben, dass die Integration der Ukraine in die Nato, sei es de jure oder de facto, für Russland eine tiefrote Linie war. Der 24. Februar 2022 ist nicht vom Himmel gefallen. Die Warnungen haben sich als zutreffend erwiesen.

 

Gänzlich verfehlt ist es, wenn Wittmann meinen analytischen Befund, wonach die Verhinderung „eines hochgerüsteten westliches Bollwerk vor Russlands Haustür“ das zentrale Motiv für Russlands Angriff auf die Ukraine gewesen sei, als Ausdruck meiner „Sympathie“ für Putins Angriffskrieg auszugeben versucht. Es geht hier nicht um „Sympathie“, sondern um die Frage, ob die handelnden Akteure von einer zutreffenden Lageeinschätzung ausgegangen sind, auf deren Grundlage zweckrationales Handeln zur Abwendung des Krieges möglich gewesen wäre.

Vieles spricht dafür, dass die Abwendung des Krieges erreichbar gewesen wäre, wenn Nato und Ukraine rechtzeitig verbindlich erklärt hätten, einen Nato-Beitritt der Ukraine sowie deren Aufbau als De-facto-Nato-Partner auszuschließen. In diesem Fall hätte Putin eine „militärische Spezialoperation“ gegen die Ukraine niemandem vermitteln können, der Krieg hätte folglich mit großer Wahrscheinlichkeit nicht stattgefunden. Ist man hingegen von der Vorstellung eines imperialistisch-revisionistischen Russland geleitet und noch dazu von der moralischen Richtigkeit der eigenen Position durchdrungen, dann lässt man es, wie der Westen es getan hat, einfach darauf ankommen, auch wenn dies auf ein unpolitisch-gesinnungsethisches „Es werde Gerechtigkeit, auch wenn die Welt zugrunde geht“ hinausläuft.

Wenn Wittmann dekretiert „Das russische Ziel ist die Eroberung der Ukraine sowie die Zerstörung ihrer nationalen Identität und Kultur“, fragt man sich, ob die Evidenz nicht gegen diese Behauptung spricht. Im Zuge des Trump-Putin-Treffens in Alaska sind nämlich die zentralen russischen Ziele einmal mehr durchdekliniert worden: keine Nato-Mitgliedschaft, keine Stationierung von Truppen aus Nato-Staaten, Abtretung der Krim und von vier Oblasten, Begrenzungen für ukrainische Streitkräfte.

Wenn Worte einen Sinn haben, dann gehen diese Forderungen von der Fortexistenz des ukrainischen Staates und der ukrainischen Nation aus (wobei die Ukraine zweifellos territorial verkleinert und mit Auflagen versehen würde – wie Deutschland dies mit dem  2+4-Vertrag hinnehmen musste). Dass sich die Ukraine äußerst schwertut, solche Bedingungen für einen Friedensschluss hinzunehmen, wird jeder Gutwillige verstehen.

Die „Erkenntnis, dass Putin nach einem Sieg über die Ukraine dort nicht halt machen würde“, bezeichnet Wittmann als „Allgemeingut“. Einen Angriff Putins auf die Nato – wie üblich als „Test“ im Baltikum präsentiert – hält er für ein realistisches Szenario, „je nachdem als wie schwach und uneinig Putin die Nato empfände“. Abgesehen davon, dass dieses „Allgemeingut“ nur den Mainstream-Konsens reflektiert, entledigt sich Wittmann mit dieser Behauptung der Notwendigkeit ihrer Begründung. Aber nur, weil viele auf den Bandwaggon vorherrschender Meinungen aufspringen, müssen sie nicht richtig sein.

 

Wenn Verhandlungen über ein Ende des Krieges erfolgreich verlaufen und die europäische Sicherheit aus ihrer schwersten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg herausgeführt werden sollen, kommt einer wirklichkeitsgerechten Einschätzung der Motive und Ziele Russlands große Bedeutung zu. Die Deutung „Verhinderung eines westlichen Bollwerks an der russischen Grenze“ erscheint insoweit wesentlich triftiger als andauernd verbreitete Spekulationen, wonach der russische Angriffskrieg nur Auftakt einer Langfriststrategie Putins zur territorialen Wiederherstellung der Sowjetunion und darüber hinaus sogar einer durch Gewalteinsatz gegenüber Nato-Staaten angestrebten „Unterwerfung eines möglichst großen Teils Europas“ (Wittmann) sei.

Solche hysterischen Überdramatisierungen sind nicht nur deshalb gefährlich, weil sie die Bemühungen um einen Friedensschluss politisch und psychologisch unterminieren, sondern auch deshalb, weil sie durch ihre Suggestion der Alternativlosigkeit des Weiterkämpfens für die Ukraine die Gefahr einer totalen Niederlage heraufbeschwören.

 

In Anbetracht seiner dezidierten Warnungen vor einem imperialistischen Appetit Putins kommt es einigermaßen überraschend, wenn Wittmann meine Zusammenfassung des verbreiteten Angstszenarios, wonach in „spätestens fünf Jahren ein imperialistischer Angriff Russlands auf uns alle“ drohe, plötzlich als „übertriebene Unterstellung“ herunterzuspielen versucht. Über diese gute Nachricht erleichtert, wundert man sich aber, warum dann Politiker, Militärs,  Thinktank-Vertreter und viele Medien diese „Unterstellung“ andauernd unter das Volk bringen

Dies führt unmittelbar zu Wittmanns Umgang mit meinem Hinweis auf die „haushohe militärische Überlegenheit der Nato über Russland“. Indem er meine datengestützten Vergleiche westlicher Streitkräfte mit denen Russlands als „Erbsenzählerei“ abtut, will er den zentralen Ansatzpunkt meiner Argumentation gegen exzessive westliche Aufrüstungsforderungen aus den Angeln heben. Darüber kann man aber nur den Kopf schütteln, denn als langjähriger Nato-Bediensteter weiß Wittmann natürlich, dass „erbsenzählende“ Streitkräftevergleiche zum täglichen Brot der sicherheitspolitischen Praktiker gehören, schließlich sind Umfang und Ausstattung von Streitkräften immer unter anderem auch auf potentielle Gegner bezogen. Wenn solche Vergleiche zwischen der Nato und Russland in den Medien heute in der Tat fast nicht mehr zu finden sind, liegt dies daran, dass die Daten die Angstmacherei vor einer angeblich hoffnungslosen militärischen Unterlegenheit Nato-Europas gegenüber Russland nicht decken.

Eine entgegenstehende Datenlage einfach ignorierend, geht Wittmann von einem „riesigen Nachholbedarf der Europäer“ aus. Fast alle der 32 (!) Nato-Staaten sind bekanntlich nun gehalten, ihre Verteidigungsausgaben auf fünf Prozent der Wirtschaftsleistung zu steigern, was für die meisten mindestens auf eine Verdopplung, für einige auf eine Verdrei- oder gar Vervierfachung hinausläuft. Und woran misst Wittmann seinen „riesigen Nachholbedarf“? Indem er auf die „in den hoffnungsfrohen Jahrzehnten der Rüstungskontrolle massenhaft abgeschafften traditionellen Waffensysteme“ verweist, die alle nicht mehr da sind! Ei der Daus! Wittmann zählt über 30 Jahre alte Erbsen!

Muss man den General daran erinnern, dass die Sowjetunion bis Ende der Achtzigerjahre mit rund 380.000 Mann und rund 4000 Panzern in der DDR stand und in Umsetzung des Vertrags über konventionelle Streitkräfte in Europa von 1990 nicht nur die Nato-Staaten, sondern auch die Sowjetunion beziehungsweise Russland Waffen in sehr großem Umfang abgebaut haben? Muss man daran erinnern, dass Polen, Tschechische Republik, Slowakei, Ungarn Rumänien, Bulgarien, Estland, Lettland und Litauen bis 1991 Mitglieder des von Moskau geführten Warschauer Pakts waren, inzwischen aber der Nato angehören und sich das Nato-Russland-Rüstungsverhältnis daher fundamental anders darstellt als zu den Kalte-Kriegszeiten der im „Fulda Gap“ aufgebauten Nato-Schichttorte?

Wenn nun andauernd so getan wird, als ob sich die 27 EU-Staaten gemeinsam mit den Nato-Partnern Großbritannien und Norwegen gegen Russland angeblich nur nach schneller und umfassender Aufrüstung verteidigen können, wundert man sich, wenn Präsident Macron genau dies einer künftigen „robusten ukrainischen Armee“ allein zutraut.

 

Die pausenlose Verbreitung hysterischer Phantasien über russische Angriffsabsichten führt in ein jahrzehntelanges Wettrüsten, das für Deutschland, Europa und die Weltgemeinschaft materiell sehr teuer wird, von seinem abträglichem politischen „Fall-out“ nicht zu reden. „Teuer“ meint in erster Linie aber nicht Abstriche bei der sozialen Sicherheit, sondern den schleichenden Verlust an Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands und Europas infolge struktureller Unterfinanzierung von Investitionen in Schlüsselbereichen im Gefolge der durch hohe Rüstungsausgaben erforderlichen Sparzwänge.

Pars pro toto: Die Deutsche Bahn erhält die für ihre durchgreifende Instandsetzung erforderlichen Mittel nun doch nicht, wie bereits bekannt wurde. Wenn bei diesen Gegebenheiten noch hinzukommt, dass der transatlantische Partner USA durch Verkauf von exorbitant teuren Waffen – die für die Ukraine sollen laut Trump von der EU bezahlt werden – und von überteuertem LNG an Europa die großen Profiteure der neuen Weltordnung werden, reifen die Bedingungen für einen perfekten Sturm.

Wenn Wittmann mir entrüstet vorwirft, wo bei meiner Gegenüberstellung von „Siegfrieden“ und „Kompromissfrieden“ zwischen russischer „Vernichtungsabsicht“ und ukrainischem „Überlebenswille“ eine „Möglichkeit zum Kompromiss‘“ zu sehen sei, zeigt dies nur, dass ihm das Verständnis für die analytische Funktion dieser begrifflichen Unterscheidung fehlt.

Hier geht es nicht um eine „Gleichsetzung von Aggressor und Angriffsopfer“, wie Wittmann meint, sondern um die Tatsache, dass Kriege in aller Regel mit dem Sieg einer Seite oder einem Kompromiss zwischen den Kriegsparteien beendet werden, Beispiele: Potsdamer Abkommen von 1945 vs. Vertrag zwischen Nord- und Südvietnam sowie USA von 1973 „über die Beendigung des Krieges und die Wiederherstellung des Friedens in Vietnam“ (Nebenbei: Während der über vierjährigen Verhandlungen flogen riesige B52 der US-Luftstreitkräfte die massivsten Flächenbombardements des gesamten Krieges.).

 

Alle wollen „Frieden“ – die Frage ist nur, zu welchen Bedingungen. Trumps Vermittlungsbemühungen und das Betteln der Nato-Europäer um Mitwirkung sind nichts anderes als ein zähes Tauziehen um die Ausgestaltung eines Kompromisses, wobei sich die Ausgangspositionen diametral gegenüberstehen: Die Ukraine hält an ihrem Siegfriedenskonzept fest und Russlands an seinen entgegengesetzten Forderungen. Da sich die USA als selbst berufener Vermittler in zwei zentralen Punkten auf die russische Seite geschlagen haben, nämlich keine ukrainische Nato-Mitgliedschaft und keine Rückgabe der Krim, ist es für die ukrainische Seite taktisch am besten, Putin den schwarzen Peter zuzuschieben, indem diesem die Bereitschaft zur Erreichung einer Friedensregelung überhaupt abgesprochen wird. Wittmann: „Putin spiegelt Verhandlungsbereitschaft nur vor und agiert hinhaltend.“

Die Nato-Europäer halten sich hinsichtlich der Ausbuchstabierung konkreter Verhandlungsergebnisse bedeckt. Die nach Trumps Treffen mit Putin in Alaska gemachten Äußerungen lassen jedoch implizit eine Erwartung ukrainischer Konzessionsbereitschaft erkennen. Ein Indiz hierfür ist die beim Treffen mit Trump am 18. August von den Nato-Europäern in Gegenwart von Selenskyj gestartete Diskussion zu Sicherheitsgarantien, deren Inaussichtstellung darauf zielt, der Ukraine die Hinnahme weitreichender Konzessionen zu erleichtern.

Die sich überschlagenden Überlegungen zu diesem komplexen Thema sind allerdings oft von sehr bedenklicher Oberflächlichkeit, und dies nicht nur, weil Gedankenspiele über eine Stationierung von Soldaten aus Nato-Staaten in der Ukraine die Rechnung ohne den russischen Wirt machen, der bekanntlich in den Krieg gezogen ist, um genau dies zu verhindern.

 

Noch gravierender ist, dass vielen nicht klar zu sein scheint, welch weitreichenden Implikationen „Artikel-5-ähnliche“ Sicherheitsgarantien für „Friedenstruppen“ und ihre Entsendestaaten hätten. Wenn der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses des Deutschen Bundestages (!) sagt: „Es geht schon darum, der Ukraine verbindlich zuzusichern und auch militärisch abzusichern, dass für den Fall eines erneuten Angriffs durch Russland die Europäer gemeinsam mit den Truppen der Amerikaner auch bereit sind, einen Angriff zurückzuschlagen“ (Thomas Röwekamp, CDU), fragt man sich, ob er weiß, wovon er spricht. Jedem auch nur mäßig Sachkundigem sollte geläufig sein, dass in einem absehbar heiklen Waffenstillstands- oder Friedensvertragsarrangement mit zahlreichen bewaffneten Kräften auf mehreren Seiten – ukrainische, russische, internationale – die Attribution der Verantwortung für militärische Aktionen außerordentlich schwierig sein kann, vor allem, wenn eine Seite es darauf anlegt, der Gegenseite Provokation in die Schuhe zu schieben.

Bundeswehreinheiten einer Friedenstruppe könnten sich daher im „Nebel des Krieges“ schnell vor die Wahl gestellt sehen, entweder wegzuschauen oder unter Waffeneinsatz einzugreifen – und damit auf die abschüssige Bahn eines eventuellen Kriegseintritts geraten. Wer sich auf „Artikel-5-ähnliche“ Sicherheitsgarantien einlassen will, sollte der Ukraine gleich die Aufnahme in die Nato anbieten.

 

20 lange Jahre hat es gedauert, bis in der transatlantischen Welt die Einsicht durchgedrungen war, sich mit der Intervention in Afghanistan verrannt zu haben und das aussichtslose Engagement daher abgebrochen wurde. Der Krieg in der Ukraine geht ins vierte Jahr. Wird es in diesem Fall auch so sein, dass viel zu viel Zeit verstrichen sein wird, viel zu viele Opfer an Menschenleben sowie immense Schäden und Aufwendungen in Kauf genommen worden sein werden, bis sich die Einsicht in die Notwendigkeit eines Kompromisses Bahn bricht?

Eine seit Jahrzehnten bekannte Verhandlungslehre formuliert die allerwichtigste Frage, die sich jede Seite in einem Konflikt stellen und beantworten sollte: „Was ist deine beste Alternative zu einem verhandelten Abkommen?“ Dass diese Frage hochaktuell ist, kann man den Nachrichten jeden Tag entnehmen – und dies gilt nicht nur für die Ukraine!

Hellmut Hoffmann, Jahrgang 1951, Botschafter a.D.


Diplomat rechnet mit Merz ab: Der eigenen Propaganda aufgesessen

Wer Kriege beenden oder künftige verhindern will, braucht ein klares Lagebild und genaue Kenntnis der Positionen und Möglichkeiten aller Akteure. Wer Gefangener eigener Propaganda ist, wird nichts erreichen.

Hellmut Hoffmann
BZ - 28.07.2025, 10:30 Uhr     (Diese war der Vorlauf obiger weiterführender Antwort)

„Die Ukraine gehört uns!“, habe der russische Staatspräsident Wladimir Putin erst jüngst in aller Offenheit verkündet, so Bundeskanzler Merz in seiner vor dem Haager Nato-Gipfel im Deutschen Bundestag vor wenigen Wochen abgegebenen Regierungserklärung. Welche Botschaft der deutsche Regierungschef vermitteln wollte, ist klar: Wer so redet, mit dem sind Verhandlungen nicht möglich. Wer so redet, versteht nur die Sprache der Stärke. Wer so redet, dem kann nur mit noch mehr Waffen an die Ukraine und mit massiver Aufrüstung entgegengetreten werden! Zwei Prozent der Wirtschaftsleistung für Verteidigung? Ach was! Fünf Prozent müssen es für 32 Nato-Staaten sein, wenn Russland von seinem in spätestens fünf Jahren zu erwartenden imperialistischen Angriff auf uns alle abgeschreckt werden soll!

Wird da noch einer fragen, ob eine solche Annahme einem Plausibilitätstest standhält? Wird da noch einer fragen, ob noch mehr Waffen für die Ukraine ein Jota daran ändert, dass sich deren Verhandlungsposition in mehr als drei Jahren Krieg nicht verbessert, sondern verschlechtert hat, obwohl das Gegenteil andauernd in Aussicht gestellt wurde? Wird da noch einer fragen, ob Putin von Merz überhaupt richtig zitiert wurde und in welchem Sinnzusammenhang seine Äußerung steht?

Konfliktregelung durch Verhandlungen

Durch alle Lager hindurch besteht Einigkeit, dass der Krieg Russlands gegen die Ukraine durch Verhandlungen beendet werden wird – offen sind nur Zeitpunkt und Bedingungen, unter denen dies geschehen kann. Minimalziel ist ein Waffenstillstand, Optimalziel eine dauerhafte Friedensregelung. Während ein Waffenstillstand leicht zu einem lang anhaltenden und konfliktträchtigen sowie ein großes Wettrüsten auslösenden frozen conflict mutieren kann, böte eine dauerhafte Friedensregelung die Chance zur Schaffung einer erneuerten, kooperativen Friedens- und Sicherheitsordnung in Europa.

Fundamentale Voraussetzung für die Erreichung beider Ziele ist die Schaffung eines realistischen Bildes der Lage sowie der Positionen und Optionen aller relevanten Akteure. Wer Fehlperzeptionen unterliegt oder eigener Propaganda aufsitzt, wird nicht vorankommen.

Unklarheit und Unschärfe

Der westliche Diskurs über die Ziele aller Akteure in der Ukraine und darüber hinaus zeichnet sich durch ein stupendes Maß an Unklarheit und Unschärfe aus. Dass dies zu Missverständnissen, Fehlkalkulationen und Aneinandervorbeireden, im schlechtesten Fall zum Zusammenbruch jeglicher Kommunikation, zur Intensivierung von Feindschaft und zur Verunmöglichung verhandlungsgesteuerter Konfliktlösung führen kann, wird viel zu wenig wahrgenommen.

Siegfrieden oder Kompromiss?
Ist Ziel des mit massiver westlicher Hilfe geführten Abwehrkampfs der Ukraine deren Nato-Mitgliedschaft, die Rückgewinnung aller besetzten Gebiete, Reparationen Russlands sowie Anklage Putins vor einem Kriegsverbrechertribunal? Soll die Ukraine diese Ziele unter Inkaufnahme noch größerer Belastungen und Schäden weiterverfolgen, bis hin zur Gefahr weitreichender Konsequenzen im Fall einer totalen Niederlage? Soll die westliche Unterstützerkoalition die Ukraine auf diesem Kurs weiter ermutigen?

Oder fassen die Ukraine und ihre Unterstützer einen Kompromissfrieden ins Auge, in dem die genannten Ziele ganz oder teilweise aufgegeben werden?

Solange offenbleibt, in welche Richtung es bei der Beantwortung dieser Fragen gehen soll, ist eine Beendigung des Krieges durch Verhandlungen kaum zu erwarten. Aufschlussreich ist, dass viele, die an einen ukrainischen „Siegfrieden“ glauben oder dies zumindest vorgeben, nach Hinweis auf dessen geringe Erfolgschancen die Unvermeidlichkeit einer Kompromisslösung einräumen, sich zu deren Einzelheiten aber nicht äußern wollen. Der Grund liegt auf der Hand: Außer dem Präsidenten der Supermacht USA, der sich gewisse Extravaganzen herausnehmen kann, zumal wenn es ein Donald Trump ist, will sich niemand dem Vorwurf aussetzen, der Ukraine durch Ausbuchstabieren möglicher Konzessionen den Dolch in den Rücken gestoßen zu haben. Lieber bleibt man da bei der Beteuerung ungebrochenen Unterstützungswillens – in der Erwartung, dass die Ukraine angesichts einer kritischen Entwicklung der Lage um die Erklärung ihrer Bereitschaft zu einem Kompromissfrieden nicht mehr herumkommt.

Abschreckung oder kooperative Friedensordnung?

Die Formel, derzufolge nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine das aus der Ära der Entspannungspolitik überkommene Konzept der Sicherheit mit Russland durch Sicherheit vor Russland ersetzt werden müsse, lässt die für Europas Zukunft fundamentale Frage unbeantwortet:  Soll die dem Kalten Krieg vergleichbare erneute Herausbildung eines Systems konfrontativer Hochrüstung und wechselseitiger Abschreckung zum Dauerzustand werden oder soll eine kooperative europäische Sicherheitsordnung angestrebt werden, wenn auch nur in längerer Perspektive? Dass beide Ansätze sehr unterschiedliche Strategien erfordern, liegt auf der Hand.

Westliche Sicht russischer Positionen und Ziele

Seit Beginn des russischen Angriffskriegs konkurrieren im Westen zwei höchst unterschiedliche Deutungsmuster:

1.                 Revisionistisch-imperialistische Agenda

Putin will nicht nur den sowjetischen Machtbereich wiederherstellen, sondern eine russische Hegemonie über ganz Europa errichten, wofür auch militärische Mittel eingesetzt werden. Die Vernichtung der Ukraine als Staat und Nation und ihre Einverleibung in den russischen Staatsverband ist nur der erste Schritt: „Russland wird nach der Ukraine nicht stehenbleiben!“, weiß Bundeskanzler Merz. Das rationaler Politik nicht zugängliche autokratische System Putin ist zur Machterhaltung auf permanente außenpolitische Konfrontation angewiesen.
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2.              Kein „Anti-Russland“ an der Grenze

Wegen seiner entschiedenen Ablehnung eines hochgerüsteten westlichen Bollwerks vor Russlands Haustür hat sich Putin zu einer militärischen Intervention entschlossen, nachdem klar geworden war, dass dieses Ziel auf dem Verhandlungsweg nicht zu erreichen war. Russland nutzt dabei die Gelegenheit, sich Gebiete in der Ostukraine zu sichern, die es wegen deren vorwiegend russischer Besiedlung und willkürlicher Grenzregelungen aus sowjetischer Zeit glaubt beanspruchen zu können.

Die Erkenntnis, dass beide Sichtweisen höchst unterschiedliche Konsequenzen für die Chancen einer Konfliktregelung haben, erfordert keine große Expertise. Allerdings fragt sich, ob mit Genauigkeit wahrgenommen und analysiert wird, welche Position die russische Führung tatsächlich einnimmt und über welche Machtinstrumente sie zu ihrer Durchsetzung verfügt.

Könnte es sein, dass sich die Europäer den Weg aus dem Debakel dieses sie selbst massiv schädigenden Krieges selbst verbauen, indem sie in dem Wunsch, breite Unterstützung für weitere Waffenlieferungen an die Ukraine aufrechtzuerhalten, einen Russlandpopanz aufbauen, den sie wie der Zauberlehrling nicht mehr loswerden?

Genaue Erkundung und Analyse der Positionen der russischen Führung ist daher nicht „Russland-Versteherei“, sondern liegt in unserem eigenen besten Interesse, denn wer auf der Grundlage ungenauer, falscher oder selbsterzeugter propagandistischer Vorstellungen handelt, kann sich schweren Schaden zufügen.

Hat Putin bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 einen „Neuen Kalten Krieg“ erklärt?


Seit Beginn des russischen Angriffs wird immer wieder behauptet, dieser liege auf der Linie des von Putin bereits auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 erklärten „neuen Kalten Krieges“. Diese wirkmächtige Deutung hatte der Publizist Josef Joffe in die Diskussion eingeführt. Sachlich zutreffend und politisch produktiver wäre es gewesen, Putins engagierte Intervention im Sinne eines Weckrufs bezüglich der langfristigen Wirkungen problematischer westlicher und insbesondere amerikanischer Vorgehensweisen aufzugreifen, wie zum Beispiel die Regelung von Konflikten mit militärischen Mitteln unter Missachtung des Völkerrechts in den Fällen Kosovo und Irak, die fehlende Bereitschaft zu gemeinsamer Konfliktlösung, die Schaffung neuer Trennlinien durch Nato-Erweiterungen, die Kündigung von Rüstungskontrollabkommen, der Aufbau eines stabilitätsgefährdenden Raketenabwehrsystems, die Verweigerung von Rüstungskontrolle im Weltraum et cetera. Zumal in den USA, wo sich der seit Anfang der 90er-Jahre recht aufgeschlossene Blick auf das neue Russland im Gefolge von Putins Umgang mit der Causa Chodorkowski bereits merklich eingetrübt hatte, wurden solche Vorwürfe nicht gern gehört. Welchen Verlauf hätten die Dinge womöglich genommen, hätte sich der Westen auf eine ernsthafte Beschäftigung mit Putins Kritik eingelassen?

Putins Essay „Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern“ bis zur letzten Seite lesen

In Diskussionen über den Ukrainekrieg kommt regelmäßig der Augenblick, in dem einer behauptet, Putin habe in seinem Essay von 2021 nicht nur dem ukrainischen Staat, sondern sogar der ukrainischen Nation die Existenzberechtigung a limine abgesprochen, woraus sich das Ziel seiner „Spezialoperation“ selbstredend ergebe. Richtig ist, dass in Putins Geschichtsbild Russen und Ukrainer eine historisch-politische Einheit bilden, was angesichts eines jahrhundertelangen Zusammenlebens beider Völker in demselben Herrschafts- und Staatsverband keine Überraschung sein sollte. Allerdings scheinen die Kritiker womöglich wegen der Langatmigkeit des historisch weit ausholenden Textes die Lektüre abgebrochen zu haben, da bei ihnen nie die Rede davon ist, dass Putin in der Schlusspassage den geschichtlich gewachsenen Wunsch der Ukrainer nach einem eigenen souveränen Staat ausdrücklich anerkennt. Dabei verweist er auf die Beziehungen zwischen den ebenfalls aus gemeinsamer Geschichte hervorgegangenen Staaten Deutschland und Österreich als ein Beispiel konstruktiver Nachbarschaft. Warum solle dies für Russland und die Ukraine nicht auch möglich sein? Putins Warnung, dass Russland eine sich als „Anti-Russland“ verstehende Ukraine jedoch unter keinen Umständen hinnehmen werde, war unmissverständlich. Hätte viel Unheil abgewendet werden können, wenn der Artikel zu Ende gelesen worden wäre?
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Verhandlungsinitiative 2021/2022

Ende 2021 versuchte Russland Verhandlungen über europäische Sicherheit in Gang zu bringen, deren Hauptziel die Verhinderung des Beitritts der Ukraine und anderer ehemals zur Sowjetunion gehörender Staaten zur Nato sowie die Beendigung deren bereits laufenden Ausbaus zu engen militärischen Partnern der Atlantischen Allianz war. Das weitere Ziel einer Rücknahme der im Zuge der Nato-Osterweiterungen ab 1997 entstandenen Präsenz westlicher Truppen in den mittelosteuropäischen Beitrittsländern stieß insbesondere bei diesen auf massiven Widerstand.

Nachdem Nato und USA die russische Initiative ins Leere hatten laufen lassen, äußerte der erfahrene Henry Kissinger, dass er Russland in einen Verhandlungsprozess zu involvieren versucht hätte, wie dies im Gefolge der Berlin-Krise von 1958 bis zur KSZE-Schlussakte von 1975 mit Erfolg praktiziert worden sei. Als Befürworter der Nato-Osterweiterung hatte sich Kissinger schon 1994 unter Verweis auf russische Empfindlichkeiten gegen eine Stationierung amerikanischer Soldaten in den Beitrittsländern ausgesprochen, und in der Nato-Russland-Grundakte von 1997 sind nicht ohne Grund Begrenzungen hinsichtlich der Stationierung westlicher Truppen in den mittelosteuropäischen Nato-Beitrittsstaaten vereinbart worden. Zu diesem Zeitpunkt war an die Möglichkeit eines Nato-Beitritts der Ukraine nicht einmal im Entferntesten gedacht worden. Nach drei Jahren überaus verlustreichen Krieges muss daher die Frage erlaubt sein, ob eine nüchterne Lagebeurteilung 2021/22 nicht besser zu dem Schluss gekommen wäre, im Sinne von Kissingers Ansatz vorzugehen, statt einem sich abzeichnenden russischen Angriff zuzuschauen, zumal eine ukrainische Niederlage binnen weniger Tage erwartet wurde.

Dümmer als ein Tisch?

Bei einem 2024 mit westlichen Journalisten geführten Gespräch wurde Putin auf die Sorge vor einem Angriff Russlands auf die Nato angesprochen. „Sind Sie so dumm wie dieser Tisch. Sehen Sie sich das Potential der Nato und Russlands an. Glauben Sie, dass wir verrückt sind?“, platzte ihm sichtlich der Kragen. Das Ganze sei eine absurde Erfindung, um Unterstützung für die Ukraine aufrechtzuhalten.
Sagt Putin die Wahrheit – oder glaubt er, die NATO täuschen zu können? Ist Putin gar ein notorischer „Lügner“, so wie er nach Ansicht vieler „gelogen“ hat, als er kurz vor dem russischen Angriff eine solche Absicht in Abrede stellte? Aber ist die Kategorie der „Lüge“ in politisch-militärischen Zusammenhängen überhaupt angemessen? Wird Boris Johnson der „Lüge“, bezichtigt, wenn er bestreitet, Selenskyj die Annahme eines sich abzeichnenden russisch-ukrainischen Verhandlungsfriedens ausgeredet zu haben? Letztlich weiß man nur, dass der Grat zwischen Tatsachenfeststellung und Propagandaproduktion schmal ist.

Interesse an Verhandlungen

Der wechselseitige Vorwurf fehlender Verhandlungsbereitschaft gehört zum Standardrepertoire jeder Kriegspropaganda. So wird die Tatsache, dass Russland seine Angriffe in einer Situation sogar noch massiv intensiviert, in der sich die Ukraine doch zu Verhandlungen über einen „bedingungslosen Waffenstillstand“ bereit erklärt, als Beleg für fehlende russische Verhandlungsbereitschaft gedeutet – ob aus Naivität oder aus Kalkül, kann dahingestellt bleiben. Für die Ukraine ist diese Deutung doppelt vorteilhaft: Zum einen erscheint die Fortsetzung des ukrainischen Abwehrkampfes und seiner westlichen Unterstützung alternativlos und zum anderen nimmt niemand mehr wahr, dass ein russisches Verhandlungsangebot längst auf dem Tisch liegt.

Russland hat sich nämlich zu Verhandlungen über einen Waffenstillstand bereit erklärt, sofern diese mit der Klärung der zentralen Fragen einer Friedensregelung verbunden werden. Hier gehen die Interessen beider Seiten fundamental auseinander: Russland will sich nicht auf einen reinen Waffenstillstand einlassen, weil die Ukraine diesen leicht in einen frozen conflict transformieren kann, bei dem Russland seine Kriegsziele nie erreichen kann, weil eine einseitige Wiederaufnahme der Kampfhandlungen politisch schwierig und militärisch verlustreich wäre. Die „Spezialoperation“ hätte sich damit als ein äußerst kostspieliger Fehlschlag erwiesen, was Putins Stellung in Russland gefährden würde. Auf der anderen Seite will sich die ukrainische Führung nicht auf eine Verhandlung und schon gar nicht auf eine Akzeptanz der russischen Forderungen einlassen. Da ihr klar sein dürfte, ihre eigenen Kriegsziele in überschaubarer Zukunft nicht erreichen zu können, ist für sie ein alles offenhaltender Waffenstillstand die beste aller schlechten Optionen.

„Die Ukraine gehört uns!“

Hat Putin diesen – verstörenden – Satz gesagt, wie von Merz behauptet? Hat Putin bei einer international Beachtung findenden Veranstaltung das Existenzrecht der Ukraine in Abrede gestellt? Stimmt also die These vom revisionistischen Russland?

Schaut man sich Putins Auftritt beim Sankt Petersburger Wirtschaftsforum im Juni dieses Jahres genau an, zeigt sich, dass der – ohnehin nicht richtig zitierte und aus einem komplexen Sinnzusammenhang gerissene – Satz seine Ausführungen zum Themenkomplex Ukraine auf den Kopf stellt. Tatsächlich legt Putin Wert auf die Feststellung, dass „Russland das Recht des ukrainischen Volkes auf Unabhängigkeit und Souveränität nie bestritten“ habe, fügt aber hinzu, dass sich die Ukraine in ihrer Unabhängigkeitserklärung 1991 zu „Neutralität und Ungebundenheit verpflichtet“ habe. Kurz nach Beginn des Krieges sei zwischen beiden Seiten eine Friedensregelung ausgehandelt worden, die  Premierminister Boris Johnson, unterstützt von Präsident Joe Biden, in Kiew torpediert habe – es gebe Kräfte, die Russland eine „strategische Niederlage“ beibringen wollten. Russlands Ziel sei nicht eine „Kapitulation“ der Ukraine, sondern deren Anerkennung der „territorialen Realitäten“.

Lügt Putin? Wir können es nicht wissen. Wir wissen aber, dass man sich selbst schadet, wenn die Positionen von Gegnern schief, falsch oder gar nicht wiedergegeben werden, da lagegerechtes Handeln nur auf der Grundlage umfassender Sachkenntnis möglich ist. Die Beurteilung, ob Gesagtes wahr, falsch oder gelogen ist, muss in einer freiheitlichen Ordnung Sache der Bürger sein. Kein gutes Zeichen ist es daher, dass die deutschen Medien zu Ausführungen zur russischen Sicht des Krieges so gut wie nichts berichten, wenn man von einigen in das eigene Deutungsschema scheinbar passenden Zitat-Häppchen absieht.

XXL-Aufrüstung ohne Bezug zum militärischen Kräfteverhältnis

Interessiert sich jemand für die Frage, ob Russland überhaupt über die militärischen Mittel verfügt, um die russischen „Revisionskriege zur Wiederherstellung der Weltmacht Russland und zur Erlangung der Hegemonie über Europa“ (so Joschka Fischer) mit Aussicht auf Erfolg führen zu können?

Dass Präsident Trump beim Nato-Gipfel die Bündnistreue der USA bekräftigt hat, mag jene überrascht haben, die mit Warnungen vor einer sich angeblich verflüchtigenden Sicherheitsgarantie der USA eine gigantische Aufrüstung Europas befördern wollen. Nur: Was sollte die USA veranlassen, ihre – auch für weltweite Machtprojektion – äußerst vorteilhafte Position in Europa zu räumen, die sich vor allem in ihrer Führungsrolle im Nato-Bündnissystem manifestiert? Mit im New Yorker Immobilienbusiness erlernter brachialer Druckausübung wollte Trump lediglich massive Erhöhungen der Verteidigungsausgaben der Verbündeten erzwingen, nicht zuletzt, weil dies der US-Rüstungsindustrie enorm zugute kommen wird. Nachdem er mit dem Fünf-Prozent-Beschluss dieses Ziel erreicht hat, hat er keinen Grund mehr, an der US-Bündnisverpflichtung weiterhin Zweifel zu säen. Im Übrigen: Nehmen die Talkshow-Großstrategen im Ernst an, dass die Planer der „künftigen russischen Revisionskriege“ das Risiko eines Eingreifens der USA an der Seite Europas einfach ignorieren können?

Jeder halbwegs Informierte weiß, dass die Nato unter Einschluss der USA Russland militärisch haushoch überlegen ist. Dass es sich so verhält, ergibt sich schon daraus, dass die USA sich selbst als größte Militärmacht der Welt bezeichnen, was sich unter anderem in ihrem gigantischen Verteidigungshaushalt und in Hunderten weltweit verstreuten Militärstützpunkten manifestiert. Die USA sind die einzige Macht, die überall zuschlagen kann, wie jüngst in Iran zu beobachten. Zu den USA kommen 31 (!) verbündete Staaten hinzu, darunter zwei Nuklearmächte und mit Deutschland, Frankreich und Großbritannien drei Staaten, deren Verteidigungsbudgets zu den acht größten der Welt gehören.

Die Annahme, Russland könnte angesichts solch drückender Überlegenheit einen Angriff auf Nato-Staaten riskieren, erfordert eine blühende Fantasie. Abgesehen davon, dass Russland seit mehr als drei Jahren Krieg führt und daher fortlaufend große Verluste ausgleichen muss, kann man seine mit aufgesetzter westlicher Sorge kommentierten Aufrüstungsbemühungen als Reaktion auf die starke westliche Überlegenheit deuten, die mit dem Fünf-Prozent-Beschluss noch weiter ausgebaut wird: Paradebeispiel für einen ebenso kostspieligen wie sinnlosen Rüstungswettlauf.

Die Daten des International Institute for Strategic Studies machen deutlich, dass von der andauernd kolportierten hoffnungslosen Unterlegenheit Nato-Europas gegenüber Russland keine Rede sein kann.

Verteidigungshaushalte und Waffensystembestände der 27 EU-Länder, Großbritanniens, Norwegens und Russlands

[Kategorie:                                     EU/GB/Norwegen    Russland]
 

Verteidigungshaushalt (Mrd. US-Dollar)

432**

140*

Aktives Personal (Mio.)

1,3

1,2

Panzer

4150

2900

Gepanzerte Kampffahrzeuge

5790

3800

Artillerie

11.600

6100

Kampfflugzeuge

1730

1400

Angriffshubschrauber

270

340

Transporthubschrauber

1215

300


Auch wenn die ausgewählten Parameter die Kampfkraft von Streitkräften selbstverständlich nicht umfassend abbilden und die Europäer bei wichtigen Fähigkeiten („strategic enablers“) aufholen müssen (weil sie sich bei diesen immer auf die USA verlassen haben), wird deutlich, dass die Nato den mit der Fünf-Prozent-Forderung unterstellten Nachholbedarf nicht hat. Noch vor nicht allzu langer Zeit haben bekannte Aufrüstungsverfechter mit Emphase die Auffassung vertreten, dass die Nato-Welt mit der Erreichung des Zwei-Prozent-Ziels wieder in Ordnung sein würde. Das Fünf-Prozent-Ziel hat keine in der Sache liegende Begründung, sondern ist lediglich zur Besänftigung von Trump erfunden worden. Eine Ironie besonderer Güte ist, dass die USA unter diesem Präsidenten um eine Verbesserung ihrer Beziehungen mit Russland vor allem im wirtschaftlichen Bereich bemüht sind – wobei man bei Trump einen erratischen Kurswechsel nie ausschließen kann – während sie den Verbündeten ein Wettrüsten mit eben diesem Land aufdrängen, das wegen seiner immensen langfristigen finanziellen Belastung der Wettbewerbsfähigkeit Europas großen Schaden zufügen kann.

Freund-Feind-Denken oder genaue Analyse

Viel wäre für die Wiederherstellung und die Sicherung des Friedens in Europa gewonnen, wenn sich Politik und Medien bei der Behandlung des Krieges in der Ukraine und künftiger sicherheitspolitischer Herausforderungen anstelle des weithin dominierenden Freund-Feind-Denkens auf genaue Analyse der Motive, Interessen, Ziele und Mittel der relevanten Akteure fokussieren würden.

[1] Kaufkraftbereinigt: 460

Botschafter a.D. Hellmut Hoffmann, geb. 1951, 1982–2016 im Auswärtigen Dienst der Bundesrepublik Deutschland, darunter Teilnahme an den Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa und 2009–2013 Leiter der deutschen Abrüstungsmission in Genf.