Norbert Nicoll legt in neuer Auflage ein Nachschlagewerk der Wachstumskritik vor.

Den Postwachstumstheoretiker:innen und ihrer Wachstumskritik wird viel vorgeworfen. Sie unterschätzen das Materielle, seien auf Wohlstandsgesellschaften fokussiert, die schon im Überfluss leben, und ignorieren damit die notwendige Entwicklung von Volkswirtschaften mit großer Armut, welche auch durch Wirtschaftswachstum bekämpft werden muss. Zudem finde sich bei ihnen keine fundierte Analyse des Bestehenden und keine Konzepte, die aus einer Kritik an diesen Verhältnissen umsetzbare Gegenentwürfe schaffen. Praktisch läuft die Wachstumskritik häufig allein auf mysteriöses Umdenken hinaus, das dann zu einem anderen Konsum führen soll.

In der Denkschule verhaftet und trotzdem mit weniger Fehltritten, die so kritisiert werden können, aktualisiert Norbert Nicoll sein umfassendes Werk Adieu, Wachstum, das jüngst im Tectum Verlag mit einem Vorwort des renommierten Politikwissenschaftlers Ulrich Brand erschienen ist. Manch einer nannte die erste Auflage ein Standardwerk zum Thema. Auf rund 500 Seiten legt der Lehrbeauftragte der Universität Duisburg-Essen nun einen Überblick der Wachstumskritik aus verschiedenen Perspektiven vor. Neben den wirtschaftlichen Begebenheiten werden dabei interdisziplinäre Einsichten aus Politik, Philosophie und Geschichte dargelegt. Dass der Autor auch Gymnasiallehrer ist, fördert die Verständlichkeit und pädagogischen Fähigkeiten des Buches.

Nicoll tapst nicht in die Falle, den Kapitalismus aus einer primitivistischen Sicht zu verteufeln und einen vorkapitalistischen Zustand zu romantisieren. Im Gegensatz zu anderen Postwachstumskritiker:innen wie Tim Jackson oder Nico Paech stellt er erst einmal nüchtern fest, dass in den letzten 200 Jahren durch Wirtschaftswachstum die Armut deutlich verringert werden konnte. Das stimmt und eröffnet genau den grundlegenden Konflikt: Wie schafft es eine Gesellschaft ohne Wachstum zu wirtschaften und Gerechtigkeit herzustellen? Im (Post)-Fordismus wurden die sozialen Konflikte nicht gelöst, sondern durch eine zwar ungerechte, aber vielen begünstigende Verteilung des durch Wachstum hinzugewonnenen Wohlstands befriedigt.

Manche Untersuchungen wollen sogar zeigen, dass sich das Wirtschaftswachstum eins zu eins in den Einkommen der Armen widerspiegelt. Nicoll bezweifelt jedoch, dass Wachstum eine hinreichende Bedingung ist, um Armut zu bekämpfen. Ohnehin würde es unter gegebenen Bedingungen noch 100 Jahre dauern, bis die extremste Armut behoben ist. Das dauert viel zu lange. Wer kann das verantworten?

Hier setzt der Wirtschaftswissenschaftler an. Er analysiert das Wirtschaftswachstum als einen Ausdruck der historisch spezifischen Periode des Kapitalismus – und macht sie somit veränderbar, nicht naturgegeben. Dabei formuliert er auch Kritik an anderen Wachstumskritiker:innen, die beispielsweise ein kruden Begriff von Schulden haben und diese nur als Konsum auf Pump sehen. Einen Punkt, an dem sie sich in der Sache mit konservativen Ökonom:innen einig sind.

Eine Denkrichtung hat allerdings immer Blickwinkel, die logisch aus den Annahmen folgen und bei allen Vertreter:innen vorkommen. So fokussiert sich auch Nicoll auf die Konsumgesellschaft und ein notwendiges Umdenken in dieser. Das ist klar, entspringt genau aus dieser Problemstellung die Postwachstumstheorie. Wirtschaftspolitische Handlungsweisen daraus abzuleiten, stellt sich jedoch damit schwierig heraus. Und auch das »heiße Eisen« Malthus taucht im Buch erneut auf. Mit ihm wurde schon so einige fragwürdige bevölkerungspolitische Forderung begründet. Trotz aller Reflektion des negativen Gehalts seiner Theorie, bleibt das Buch ein griffiges Argument schuldig, warum man sich auf ihn beziehen muss, um Postwachstum auf globalem Niveau durchzusetzen.

Dass er dennoch in einem grundlegenden Buch über die Denkschule auftaucht, begründet schon die weite Verbreitung der Ideen, dass bei wachsender Bevölkerung die Nahrung knapp wird und somit das Wachstum begrenzt. Und dafür ist das Buch sehr gut geeignet: Wer wissen möchte, was die fundierte Wachstumskritik ausmacht, sollte zu diesem umfassenden Nachschlagewerk greifen. Danach kann man immer noch kritisieren.

Dr. Norbert Nicoll: Adieu, Wachstum! – Das Ende einer Erfolgsgeschichte, Tectum,  2. aktualisierte und erweiterte Auflage, 2021, 544 Seiten, 38 €.

 

Matthias Martin Becker über die Krise des Kapitalismus und des gesellschaftlichen Naturverhältnisses

Christian Stache jW Ausgabe vom 09.08.2021

 

Das Buch des Wissenschaftsjournalisten Matthias Martin Becker bietet mehr, als der sprachlich etwas sperrige Untertitel verspricht. Es enthält nicht nur theoretisches Basiswissen über die kapitalistische Gesellschaftsformation und wie diese ihren Stoffwechsel mit der Natur Schritt für Schritt so sehr schädigt, dass er in der bisherigen Form nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Vielmehr diskutiert der Autor unter Rückgriff auf zahlreiche wissenschaftliche Studien und konkrete Fälle kapitalistischer Naturzerstörung sachkundig und allgemeinverständlich die Genese der Zivilisationskrise unserer Zeit, wie man ihr beikommen könnte (»ökosozialistische Wirtschaftsplanung«) und wie man gewiss bei ihrer Bewältigung scheitert (»technischer Fortschritt«, Naturbepreisung, Ökomärkte und -steuern).

Becker erfindet das Rad nicht neu. Das ist bei einer Art Handbuch für Aktivisten und Einsteiger aber auch nicht nötig. Interessierte Leser werden auf bekannte Thesen und Begriffe der jüngeren sozial-ökologischen und ökosozialistischen Debatte stoßen, die der Autor wohl dosiert einfließen lässt und in einfachen Worten erklärt. Vereinzelt zeigt er auch deren Grenzen auf. So kritisiert er etwa das politische Strategiekonzept eines »Green New Deal« für dessen politische »Beliebigkeit«, seinen »Reformismus« und die »schiefe« Analogie zum historischen »New Deal«.

Ohne zu groß ins Theoretisieren abzudriften, führt Becker zudem fachkundig in einzelne Diskussionen zwischen Sozialökologen und Ökosozialisten ein, beispielsweise über die Rolle der Arbeiterklasse im Kampf für Klimagerechtigkeit. Sein Fazit: »Ohne oder gar gegen die Arbeiterklasse ist eine Dekarbonisierung nicht machbar.« Außerdem müssten Arbeiter und Umweltaktivisten »die Arbeit ins Zentrum« ihres Kampfes rücken.

Die gegenwärtige, doppelte Krise des Kapitalismus und des gesellschaftlichen Naturverhältnisses, vor allem in Form der Klimakrise, führt Becker darauf zurück, dass das »neoliberale Wachstumsmodell« in Anschluss an das fordistische ökonomisch erschöpft ist und ökologisch den Raubbau an der Natur auf die Spitze getrieben hat. Der Autor entwickelt diese Interpretation besonders anschaulich mit Blick auf das Modell der kapitalistisch-industrialisierten Landwirtschaft, wie sie im 20. Jahrhundert in den USA entstand und von dort mitsamt der korrespondierenden »westlichen Ernährungsweise« seit den 1960er Jahren als »grüne Revolution« in die Peripherie exportiert wurde.

Bei der Lektüre stechen einzelne, zumeist sehr konzise Erörterungen von Evergreens der ökologischen Debatte heraus, denen Becker mit gesundem Menschenverstand und auf Höhe der Zeit begegnet. Zum Beispiel verteufelt er die individuelle Konsumption nicht, noch sieht er darin den Hebel für die Implementierung einer nachhaltigen Produktionsweise. Vielmehr zeigt er auf Basis wissenschaftlicher Daten und klassentheoretisch angeleitet, dass der Konsum keineswegs ökologisch bedeutungslos ist, aber der Schaden proportional zum Vermögen und Einkommen wächst.

An mehreren Stellen thematisiert der Autor auch überzeugend, wie der »bürgerliche Umweltschutz« nicht nur Pseudoaktivität zwecks »Greenwashing« ist, sondern auch der Rechten und den Umweltsündern in die Hände spielt. Denn die vorherrschende Umweltpolitik trage durch ihren Fokus auf Steuern, Lebensstiländerungen und auf Schutz der verursachenden Unternehmen statt der Beschäftigten dazu bei, dass Teile der Gesellschaft eine generell ablehnende Haltung gegenüber Umweltpolitik einnähmen. Natürlich handelt es sich bei der Ad-hoc-Ablehnung auch um einen Kurzschluss. Neoliberale Umweltpolitik ist nicht identisch mit Umweltpolitik. Aber »kaum jemand vertraut der politischen Klasse, die den Umweltschutz im Mund führt«, insbesondere wenn er »sozial ungerecht« ist.

Selbstverständlich gibt das Buch auch Anlass zu weiterführenden Diskussionen. Becker behauptet etwa: »Wir steuern auf einen chaotischen Zusammenbruch zu.« Seine Wiederbelebung der Zusammenbruchstheorie begründet er unter anderem mit guten Argumenten gegen die verschiedenen Formen eines »grünen« Kapitalismus als potentiellem neuen Akkumulationsregime. Allerdings nimmt er dabei, politisch verständlich, das Adjektiv ernst. Nachhaltig wird der Kapitalismus tatsächlich nicht. Aber dem kollektiven Interesse der Kapitalistenklasse an der Überausbeutung der Natur steht die Notwendigkeit gegenüber, die Reproduktion der Produktionsbedingungen zu gewährleisten. »Grün« wird der Kapitalismus daher eher, wie er auch die Lohnarbeit erhält, soweit es der Reproduktion des Kapitals dient – aber mit anhaltenden Katastrophen. Dass ein solcher »Kompromiss« zwischen Kapital und Natur ein neues Wachstumsmodell begründen könnte, ist zumindest nicht auszuschließen. Schließlich kommt leider etwas zu kurz, warum Becker die (zumeist staatlich geschaffenen) »Infrastrukturen« als zentralen Ansatzpunkt für den ökosozialistischen Klassenkampf bestimmt. Es wäre sicher naiv, diese zu vernachlässigen. Aber der zentrale Ort der Ausbeutung von Lohnarbeitern und der Naturdestruktion ist die ökonomische Produktion.

 

Matthias Martin Becker: Klima, Chaos, Kapital. Was über den Kapitalismus wissen sollte, wer den Planeten retten will. Papyrossa-Verlag, Köln 2021, 184 Seiten, 14,90 Euro

 

Der Klimabruch verlangt den gesellschaftlichen Bruch

 

Von Christian Zeller

 

aus ak 08-2021

 

Die aktuellen Überschwemmungen und Brände, die Verwüstungen und der Tod vieler Menschen in ganz unterschiedlichen Regionen der Welt machen abstrakte Befürchtungen zur erlebten Erfahrung. Diese Ereignisse kommen nicht überraschend. Sie bestätigen, wovor die Klimaforscher*innen seit vielen Jahrzehnten warnen. Wetterextreme sind die neue Normalität.

 

Die abrupten Brüche im Klima- und Erdsystem machen alle politischen Vorstellungen einer schrittweisen sozial-ökologischen Transformation zur Illusion. Der Herausforderung angemessen und realistisch ist nur noch eine Strategie des revolutionären Bruchs, die allerdings erst in unscharfen Umrissen erkennbar ist.

 

Der kürzlich publizierte Bericht des Weltklimarates (IPCC) zur sich rasch beschleunigenden Erderhitzung ist nüchtern und technisch abgefasst. Aber noch kein anderer Bericht des IPCC hat die Befürchtungen vor den Konsequenzen der unausweichlichen physikalischen Naturgesetze derart klar zum Ausdruck gebracht. Die brutale und ernüchternde Erkenntnis: Das Ziel der Pariser Klimakonferenz von 2015, die Erderhitzung auf 1,5° C zu begrenzen, lässt sich nicht mehr erreichen. Sogar, wenn sich die Regierungen an der Klimakonferenz im kommenden November in Glasgow auf eine schnelle und umfassende Reduktion der Treibhausgasemissionen einigen würden – was als ausgeschlossen gilt – befände sich die Welt weiterhin auf einem katastrophalen Pfad. Sogar in diesem Szenario würde sich das Erdsystem schon in wenigen Jahrzehnten so stark und abrupt verändern, dass allen bisherigen Vorstellungen über eine sozial-ökologische Transformation die Grundlagen entzogen würden.

 

Die anderen und wesentlich wahrscheinlicheren Szenarien werden zum Überschreiten von Kipppunkten führen. Das wird eine verhängnisvolle Eigendynamik auslösen, die Erderhitzung zusätzlich antreiben und aus der Erde einen heißen Planeten machen, der für die menschlichen Gesellschaften und für viele weitere Arten nur noch eingeschränkt bewohnbar ist.

 

Die kapitalistische Produktionsweise pflegt seit über 200 Jahren einen gesellschaftlichen Stoffwechsel mit der Natur, der das Erdsystem so stark verändert hat, dass die Erde spätestens seit der großen Beschleunigung nach dem Zweiten Weltkrieg in eine neue erdgeschichtliche Epoche, das Anthropozän, geraten ist. Die stabile Phase des Holozäns, die nach der letzten Eiszeit einsetzte und rund 11.700 Jahre dauerte, ist vorbei. Doch genau die lebensfreundliche Klimakonfiguration des Holozäns ermöglichte erst die Entwicklung der menschlichen Zivilisation wie wir sie kennen. Mit dem Anthropozän-Kapitalismus treten wir in eine Phase voller Ungewissheiten und Instabilitäten. Die Dynamiken des Erdsystems mit seinen Kipppunkten werden den Gesellschaften abrupte Veränderungen aufzwingen. Pandemien sowie gesellschaftliche Katastrophen durch Dürren, Überschwemmungen und Hitzeperioden sind der Normalzustand. Sie werden den Kampf zwischen den Klassen prägen.

 

Die uns vertrauten politischen Projekte sozialdemokratischer, grüner und linker Parteien sind in dieser verdichteten Zeit vollkommen wirkungslos.

 

Der erhitzte Planet lässt viele althergebrachte und vertraute Lebensumstände abrupt abbrechen. Das erleben wir in Zeiten der Pandemie. Das erfahren die Menschen, deren Häuser weggeschwemmt oder verbrannt werden. Darunter leiden die Menschen, die ihre Städte wegen unerträglicher Hitze verlassen müssen. Es gibt weder Sicherheiten noch Gewissheiten mehr.

 

Die vergangenen Jahrzehnte waren trotz Weltwirtschaftskrise relativ stabil. Die Rahmenbedingungen veränderten sich in den imperialistischen Ländern nur schrittweise. Nach dieser leeren Zeit gradueller Veränderungen sind wir in eine Phase der verdichteten Zeit plötzlicher Brüche eingetreten.

 

Die uns vertrauten politischen Projekte sozialdemokratischer, grüner und linker Parteien sind in dieser verdichteten Zeit vollkommen wirkungslos, denn sie gehen immer noch von stabilen Verhältnissen aus. Sie sehnen sich regelrecht nach Stabilität und Sicherheit, allerdings nur in den imperialistischen Zentren der Weltökonomie. Diese Strategien tragen dazu bei, dass die sozialen und ökologischen Probleme größer werden und die Lasten auf die Menschen in den postkolonialen Ländern abgewälzt werden.

 

»Netto-Null« ist imperialistische Klimapolitik

 

Die umfassende ökologische Krise ist Ausdruck des Widerspruchs zwischen den planetaren Grenzen des Wachstums und der endlosen Akkumulationsdynamik des Kapitals. Seit das Finanzkapital ab den späten 1970er-Jahren zunehmend das Kommando über die Prozesse der Kapitalakkumulation – also die Produktion und Bereitstellung von Infrastruktur sowie, durch die private Verschuldung, sogar über den Konsum – übernahm, schreiten die Ausbeutung der Arbeit und die Plünderung der Natur weltweit noch schrankenloser voran.

 

Als Antwort auf die Zerstörung der Natur gibt es vermehrt Bestrebungen auch die Natur beziehungsweise sogenannte »Dienstleistungen« der Natur als Kapital zu betrachten. Diese erweiterte Stufe der Kolonisierung der Natur dient nicht dem Schutz von Ökosystemen, sondern schafft vielmehr eine neue Anlageklasse. Sie bietet dem Finanzkapital – organisiert in Banken, Fonds, Altersvorsorgekassen, großen Unternehmen aller Art und vermögenden Individuen – eine neue Möglichkeit, Erträge in Form von Zinsen und Renten zu erzielen.

 

Doch der Finanz-Fossil-Staats-Komplex tritt nicht ab. Zwar vereinbarten die Regierungen der frühindustrialisierten Staaten im Jahr 2009 bei einem Gipfeltreffen, Subventionen für fossile Energieträger zu beenden. Selbstverständlich legten sie aber kein Datum fest. Die Besitzer*innen des im fossilen Sektor investierten und platzierten Kapitals denken nicht daran, ihre Vermögenswerte abzuschreiben, ganz im Gegenteil. Die G20-Staaten haben im Zeitraum von 2015 bis 2019 die fossile Energie und Infrastruktur mit rund 3,3 Billionen US-Dollar (2,5 Billionen Euro) subventioniert. Zwar haben sie mehr als 360 Milliarden Euro in klimafreundliche Initiativen gesteckt, neben den Subventionen aber viermal so viel Geld in CO2-intensive Sektoren wie die Luftfahrtindustrie oder die Bauwirtschaft gepumpt. Die kapitalistischen Staaten sind unentwirrbar mit dem Finanzsektor und dem fossilen Sektor seit Jahrzehnten verwoben.

 

Die fossile Wirtschaft bleibt profitabel. Dementsprechend fließt weiterhin Kapital in diesen Sektor. Die Financial Times berichtete am 23. Juli, dass die steigende Stromnachfrage Kraftwerkskohle zur lukrativsten Anlageklasse gemacht hat. Da die Stromnachfrage weiter stark zunahm, stiegen auch die Preise für Kraftwerkskohle. Obwohl erneuerbare Energien wie Wind- und Solarenergie rasant wachsen, halten sie mit der steigenden Nachfrage nach Strom und Energie nicht Schritt.

 

Die Zeit gradueller und kleinteiliger sozial-ökologischer Transformationsdebatten ist abgelaufen.

 

Es fehlen weltweit die materiellen Voraussetzungen, die bestehende Energienachfrage ohne fossilen Energieträger zu befriedigen. Es mangelt an den Rohstoffen hierzu. Die erneuerbaren Energien sind extrem ressourcenintensiv und der Aufbau der Infrastruktur für erneuerbare Energien wird weiterhin riesige Mengen fossiler Energie verschlingen. Um die Preise für die Rohstoffe so niedrig zu halten, dass die Preise der erneuerbaren Energien jene der fossilen Energieträger nicht überschreiten, läuft bereits ein imperialistischer Wettlauf um die Kontrolle und die Erschließung der Rohstofflagerstätten. Ein grüner Kapitalismus kann nur ein imperialistischer sein.

 

Das Budget der Treibhausgasemissionen ist in den imperialistischen Ländern, die historisch die Hauptverantwortung für die Treibhausgasemissionen tragen, aufgebraucht. Doch die Regierungen sprechen von »Netto-Null-Emissionen«. Dahinter verbirgt sich ein großes Ablenkungsmanöver, dem leider auch die Klimabewegung und linke Parteien teilweise erliegen, wenn sie den Begriff unhinterfragt übernehmen. Die »Netto-Null-Strategien« sind damit verbunden, dass riesige Landflächen in den abhängigen und armen Ländern angeeignet und genutzt werden, um Kohlenstoffemissionen aufzufangen, so dass die größten Emittenten in den imperialistischen Ländern eine deutliche Senkung ihrer eigenen Emissionen vermeiden können.

 

Derartige Kompensationsstrategien führen zu einer explosionsartigen Zunahme der Landnachfrage. Die industriellen Wälder und Anpflanzungen zur CO2-Bindung geraten in Konkurrenz zur Nahrungsmittelherstellung und verschlimmern somit den Hunger. Diese Entwicklung beruht auf einer massiven Steigerung ungleicher Verteilung von Land und damit der Verarmung und Vertreibung von Menschen in den betroffenen Ländern.

 

Die grün-kapitalistische Modernisierung verschärft die neokoloniale Ausplünderung und die innerimperialistische Rivalität. Diese Entwicklung eines imperialistischen »grünen« Kapitalismus gilt es zu stoppen. »Netto-Null« ist Bestandteil einer imperialistischen Klimapolitik. Die Klimabewegung sollte sich diesem Ablenkungsmanöver widersetzen.

 

Hypothese: revolutionäre Strategie

 

Die Zeit gradueller und kleinteiliger sozial-ökologischer Transformationsdebatten ist abgelaufen. Dafür gibt es keinen Spielraum mehr. Sozial-ökologische Reformbündnisse und Projekte für einen »linken Green New Deal« sind ökologisch ungenügend und ökonomisch widersinnig. In den imperialistischen Ländern fehlt ihnen jede materielle, ökonomische und politische Grundlage. Orientierungen, die auf eine sozial-ökologische Transformation des Kapitalismus setzen, werden in grauenvolle Niederlagen führen.

 

Um die Erderhitzung auf 1,5° C gegenüber der vorindustriellen Zeit zu begrenzen, sind in den imperialistischen Ländern einschließlich China die gesamten Produktionsapparate, die Transport- und Logistiksysteme sowie die gesellschaftliche Reproduktion komplett umzubauen. Allerdings werden über 80 Prozent des Weltenergiebedarfs durch fossile Energieträger gedeckt. Öl und Kohle fließen gewissermaßen wie Blut durch den gesellschaftlichen Organismus. Viele Produktionsbereiche, angefangen mit der Rüstungsindustrie und weiten Teilen der Automobilindustrie sind runterzufahren. Jene kleinen Teile der Automobilindustrie, die noch nützlich sind, wie beispielsweise die Busproduktion und die Herstellung gewerblicher und gemeinschaftlicher Autos, sind unter demokratischer Kontrolle mit dem Eisenbahnsektor zu einer nachhaltigen Mobilitätsindustrie zu verschmelzen. Der Finanzsektor ist auf das zu reduzieren, was für die Finanzierung des Umbaus und einer angemessenen gesellschaftlichen und industriellen Infrastruktur nötig ist. Der Finanz-Fossil-Staats-Komplex ist zu zerschlagen.

 

In dieser sich abrupt wendenden und verdichteten Zeit brauchen wir gesellschaftliche und politische Strategien, die den Wendungen und Brüchen entsprechen. Eine revolutionäre Perspektive des gesellschaftlichen Bruchs ist den Kipppunkten und Brüchen im Erdsystem angemessen.

 

Nehmen wir an, es würden Regierungen mit einem radikalen sozial-ökologischen Reformprogramm und gestützt auf umfassende gesellschaftliche Mobilisierungen gewählt. Diese Regierungen stünden vor der Herausforderung, sofort entscheidend in die Produktionsabläufe der Schlüsselindustrien einzugreifen und die Konzerne der demokratischen Kontrolle der Gesellschaft zu übergeben. Das wäre gewissermaßen bereits ein revolutionärer Akt – und etwas komplett anderes als eine SPD-Grüne-Linkspartei-Koalition.

 

Das beste Szenario des IPCC-Berichts

 

• Auch mit dem radikalsten, politisch aber ausgeschlossenen Szenario des IPCC einer sofortigen und umfassenden Reduktion der Treibhausgasemissionen befände sich die Welt auf einem katastrophalen Pfad.
• Die globale durchschnittliche Oberflächentemperatur wird zwischen 2041 und 2060 im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter wahrscheinlich um 1,6°C auf den Landflächen und in vielen Regionen jedoch deutlich stärker ansteigen.
• Die Gletscher in den Gebirgen, auf Grönland und in der Antarktis werden noch jahrzehntelang weiter schmelzen. Die zusätzliche Erwärmung wird den Permafrost weiter auftauen und damit noch mehr Methan freisetzen. Die Hitzewellen treten wesentlich häufiger auf. Eine nur geringe weitere Erwärmung wird die extremen Niederschlagsereignisse verstärken und ihre Häufigkeit erhöhen. Auch die tropischen Wirbelstürme werden intensiver und häufiger auftreten, ebenso Überschwemmungen und Dürren. Der Meeresspiegel wird sich weiter erhöhen. Sturmfluten und Überschwemmungen werden zunehmen. Viele Menschen in Küstengebieten werden ihre Heimat verlassen. Auch die großen Mega Cities an den Küsten sind gefährdet.
• Selbst bei diesem 1,6°C-Szenario sind abrupte Reaktionen und Kipppunkte nicht auszuschließen. Gemäß jüngsten Studien ist eine Abschwächung oder gar ein Zusammenbruch der atlantischen meridionalen Umwälzzirkulation und des Golfstroms möglich. Ein Zusammenbruch würde höchstwahrscheinlich zu plötzlichen Veränderungen des kontinentalen Klimas und des Wasserkreislaufs mit unermesslichen gesellschaftlichen Konsequenzen führen.
Folgt die Welt anderen und wesentlich wahrscheinlicheren Szenarien des IPCC-Berichts, wird das Erdsystem Kippunkte überschreiten und damit eine verhängnisvolle unkontrollierbare Eigendynamik mit weiteren Temperatursteigerungen und einer Kaskade gesellschaftlicher Katastrophen auslösen.

 

Welche Regierungskonstellationen sich auch immer ergeben, erforderlich und entscheidend ist eine Strategie, die auf den Aufbau gesellschaftlicher Gegenmacht zielt. Vordringlich ist, dass die Klimabewegung, soziale Bewegungen und ökologisch bewusste und betrieblich kämpferische Gewerkschafter*innen sich gesellschaftlich verankern und Strukturen in Stadtteilen, an Bildungseinrichtungen und in den Betrieben aufbauen. Auf dieser Grundlage kann das Kräfteverhältnis so verändert werden, dass sich konkrete Umbaumaßnahmen durchsetzen lassen. Verallgemeinern sich derartige Prozesse und gewinnen die Organe der Gegenmacht umfassende gesellschaftliche Legitimität, können Situationen der Doppelmacht entstehen. Ob es dann den Kräften einer ökosozialistischen Umgestaltung gelingt sich durchzusetzen, hängt von ihrer Organisation und dem internationalen Kräfteverhältnis ab. Offensichtlich ist, dass ein ökosozialistischer Umbruch sich bei einer Zuspitzung der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen umgehend internationalisieren muss, um Erfolg zu haben.

 

Wir brauchen jetzt eine Debatte über die Strategie zu einem umfassenden gesellschaftlichen Umbruch hin zu einer Gesellschaft, die gemeinsam entscheidet, mehr teilt und weniger produziert: eine ökosozialistische Gesellschaft. Drei unmittelbare Fragen zum Einstieg in die Diskussion:

 

Wie lässt sich eine derart breite transnationale soziale Bewegung organisieren, die wirklich die Kräfteverhältnisse substanziell verändert? Wie kann es gelingen, die große Masse der Lohnabhängigen und der Arbeitenden in ihrer ganzen Unterschiedlichkeit für eine solche Perspektive zu gewinnen?

 

Sind die Gewerkschaften, die sich bislang mehr um die Konkurrenzfähigkeit der Unternehmen als um die Gesundheit der Beschäftigten und die natürlichen Lebensgrundlagen kümmern, hierzu ein Hindernis, ein Instrument oder eine zu überwindende Hürde?

 

Wie kann es gelingen, die globale Verantwortung und beispielsweise die Solidarität von kleinen Bäuer*innen und Landlosen in den in Abhängigkeit gehaltenen Ländern gegen den Landraub mit einer mit einer konkreten Strategie auf lokaler, nationaler und transnationaler Ebene in den imperialistischen Ländern zu verbinden?

 

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Christian Zeller

 

 

ist Professor für Wirtschaftsgeographie an der Universität Salzburg, 2020 veröffentlichte er das Buch »Revolution für das Klima. Warum wir eine ökosozialistische Alternative brauchen«.

 

 

 

Sozialismus. Der Kapitalismus, den wir kennen, ist nicht mit dem Überleben des Planeten vereinbar. Es ist höchste Zeit, dass wir ein neues Wirtschaftssystem designen
George Monbiot   Ausgabe 34/2021 - Freitag

Den größten Teil meines Erwachsenendaseins habe ich gegen den „Kapitalismus der Konzerne“, den „Konsumkapitalismus“ und die „kapitalistische Vetternwirtschaft“ gewettert. Ich habe lange gebraucht, bis mir klar wurde, dass nicht das Adjektiv das Problem darstellt, sondern das Nomen. Während andere den Kapitalismus gern und schnell abgelehnt haben, ging dies bei mir äußerst langsam und widerwillig vonstatten. Zum Teil lag das daran, dass ich keine klare Alternative erkennen konnte. Anders als manche Antikapitalisten konnte ich mich nie für den Staatskommunismus begeistern, mich hemmte sein quasi-religiöser Charakter. Im 21. Jahrhundert zu sagen „Der Kapitalismus versagt“ ist wie im 19. Jahrhundert zu sagen „Gott ist tot“. Das ist säkulare Blasphemie und erfordert ein Maß an Selbstvertrauen, das ich nicht hatte.

Doch mit zunehmendem Alter habe ich zwei Dinge erkannt. Erstens, dass es das System selbst ist und eben nicht nur eine bestimmte Ausprägung des Systems, das uns unaufhaltsam in eine Katastrophe taumeln lässt. Zweitens, dass man keine definitive Alternative parat haben muss, um sagen zu können, dass der Kapitalismus scheitert. Die Aussage steht für sich.

Das Scheitern des Kapitalismus erwächst aus zwei seiner bestimmenden Elemente. Das erste besteht in permanentem Wachstum. Wirtschaftswachstum ergibt sich zwangsweise aus dem Streben nach Kapitalakkumulation und Extraprofit. Ohne Wachstum bricht der Kapitalismus zusammen, auf einem endlichen Planeten führt permanentes Wachstum aber zwangsläufig in die ökologische Katastrophe.

Wir können nicht unendlich weiter wachsen

Diejenigen, die den Kapitalismus verteidigen, argumentieren, das Wirtschaftswachstum könne von der Verwendung materieller Ressourcen entkoppelt werden, weil der Konsum sich immer weiter von Waren auf Dienstleistungen verlagere. Erst vor kurzem hat ein Paper von Jason Hickel und Giorgos Kallis im Journal New Political Economy diese Annahme untersucht. Es kam zu dem Ergebnis, dass während im 20. Jahrhundert eine gewisse Entkoppelung stattgefunden hat – der Verbrauch materieller Ressourcen stieg an, aber nicht mit derselben Geschwindigkeit wie die Wirtschaft wuchs –, habe es im 21. Jahrhundert eine Wiederankopplung gegeben. Ein steigender Ressourcenverbrauch entspricht bislang dem Niveau des Wirtschaftswachstums oder übersteigt dieses sogar. Die absolute Entkoppelung, die notwendig wäre, um eine Umweltkatastrophe zu verhindern – also eine Reduzierung des Verbrauchs materieller Ressourcen –, ist nie erreicht worden und erscheint auch unmöglich, solange die Wirtschaft weiter wächst. Grünes Wachstum ist eine Illusion.

Ein System, das auf permanentem Wachstum basiert, kann nicht ohne Peripherie und ohne ein Außen funktionieren. Es muss immer einen Bereich geben, der ausgebeutet wird – aus dem Ressourcen entnommen werden, ohne vollumfänglich dafür zu bezahlen – sowie einen Bereich, in dem die Kosten in Gestalt von Müll und Verschmutzung entsorgt werden. Da das Ausmaß an wirtschaftlicher Aktivität so lange zunimmt, bis der Kapitalismus alles durchdringt, von der Atmosphäre bis zum Meeresgrund, wird der gesamte Planet zu dem Bereich, der geopfert wird – und wir alle bewohnen die Peripherie der profitmachenden Maschine.

Das treibt uns in einem derartigen Ausmaß der Katastrophe entgegen, dass die meisten Menschen es sich überhaupt gar nicht vorstellen können. Uns droht ein wesentlich größerer Zusammenbruch unseres lebenserhaltenden Systems als Kriege, Hungersnöte, Seuchen oder Wirtschaftskrisen allein ihn je verursachen könnten – selbst wenn er wahrscheinlich alle diese vier Plagen mit beinhaltet. Gesellschaften können sich von solch apokalyptischen Ereignissen wieder erholen, nicht aber vom Verlust von Lebensraum, einer artenreichen Biosphäre und einem lebensfreundlichen Klima.

Kann man zwischen gutem und schlechtem Kapitalismus unterscheiden?

Das zweite bestimmende Element ist die bizarre Annahme, jemand habe ein Anrecht auf einen so großen Teil des natürlichen Reichtums der Erde, wie er sich mit seinem Geld kaufen kann. Diese Aneignung gemeinschaftlichen Besitzes verursacht drei weitere Verwerfungen. Erstens, das Gerangel um die Kontrolle nicht-reproduzierbarer Güter, das entweder zu Gewalt oder zu Beschneidungen der Rechte anderer führt. Zweitens, die Verelendung anderer durch eine Wirtschaft, die auf Plünderung und Raubbau in der Gegenwart und Zukunft beruht. Drittens die Übersetzung wirtschaftlicher in politische Macht, da die Kontrolle über wichtige Ressourcen zur Kontrolle über die gesellschaftlichen Beziehungen führt, die sie umgeben.

In der New York Times versuchte der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz zwischen gutem Kapitalismus, den er „wealth creation“ und schlechtem Kapitalismus, den er „wealth grabbing“ (etwa die Erzielung von Mieten) nannte, zu unterscheiden. Ich verstehe diese Unterscheidung. Doch aus ökologischer Perspektive ist „wealth creation“ gleichbedeutend mit „wealth grabbing“. Wirtschaftswachstum, das seinem Wesen nach mit dem immer größeren Verbrauch materieller Ressourcen verbunden ist, bedeutet, sowohl den lebenden Systemen als auch zukünftigen Generationen den natürlichen Reichtum wegzunehmen.

Wer auf solche Probleme hinweist, muss sich auf ein Sperrfeuer aus Anschuldigen gefasst machen, von denen viele auf folgender Voraussetzung basieren: Der Kapitalismus hat mehrere Hundertmillionen Menschen aus der Armut befreit – jetzt wollt ihr sie wieder in die Armut zurückstoßen. Es stimmt, dass der Kapitalismus und das wirtschaftliche Wachstum, das er vorantreibt, die wirtschaftliche Situation einer großen Zahl von Menschen verbessert hat, während er gleichzeitig den Wohlstand und das Wohlergehen vieler anderer zerstörte. Nämlich derjenigen, denen Land, Arbeit und Ressourcen genommen wurden, um anderswo Wachstum zu befördern. Ein Großteil des Wohlstands reicher Nationen gründet sich auf Sklaverei und koloniale Enteignung.

Es gibt kein Zurück

Wie die Kohle so hat auch der Kapitalismus viele Annehmlichkeiten mit sich gebracht. Doch wie die Kohle verursacht er heute mehr Schaden als Nutzen. So wie wir Mittel gefunden haben, um nutzbare Energie zu generieren, die besser und weniger schädlich ist als Kohle, müssen wir Mittel finden, menschlichen Wohlstand zu schaffen, die besser und weniger schädlich sind als der Kapitalismus.

Es gibt kein Zurück. Die Alternative zum Kapitalismus sind weder Feudalismus noch Staatskommunismus. Der Sowjetkommunismus hatte mehr mit dem Kapitalismus gemeinsam, als die Vertreter beider Systeme zugeben würden. Beide Systeme sind (oder waren) besessen davon, Wirtschaftswachstum zu generieren. Beide sind bereit, erstaunliches Leid zu verursachen, um dieses und andere Ziele zu erreichen. Beide haben eine Zukunft versprochen, in der wir nur ein paar Stunden die Woche arbeiten müssen, verlangen stattdessen aber endlose, brutale Buckelei. Beide sind entmenschlichend. Beide sind absolutistisch und beharren darauf, dass die ihre – und wirklich nur die ihre – die einzig wahre Religion sei.

Wie also könnte ein besseres System aussehen? Ich habe keine komplette Antwort auf diese Frage. Und ich glaube auch nicht, dass irgendjemand sie hat. Doch ich sehe, wie ein grober Rahmen entsteht. Einen Teil davon stellt die ökologische Zivilisation bereit, die Jeremy Lent vorschlägt, einer der größten Denker unserer Zeit. Andere Elemente stammen aus Kate Raworths Doughnut Economics sowie dem umweltpolitischen Denken von Naomi Klein, Amitav Ghosh, Angaangaq Angakkorsuaq, Raj Patel und Bill McKibben. Ein Teil der Antwort liegt in der in der Vorstellung von „privater Angemessenheit und öffentlichem Luxus“. Ein anderer Teil erwächst aus der Schaffung eines neuen Konzepts von Gerechtigkeit auf Grundlage des einfachen Prinzips, dass jede Generation überall dasselbe Recht auf Genuss des natürlichen Reichtums haben sollte.

Wir haben die Wahl

Ich glaube, unsere Aufgabe besteht darin, die besten Vorschläge von vielen verschiedenen Denkerinnen und Denkern zu identifizieren und das Ganze dann zu einer zusammenhängenden Alternative zu formen. Denn kein Wirtschaftssystem ist nur ein Wirtschaftssystem. Es dringt in alle Aspekte unseres Lebens ein. Wir brauchen viele Köpfe aus verschiedenen Disziplinen – Wirtschaft, Politik, Kultur, Gesellschaft und Logistik –, die zusammenarbeiten, um eine bessere Organisation der Gesellschaft zu erdenken, die unsere Bedürfnisse befriedigt – ohne unseren Lebensraum zu zerstören!

Am Ende läuft die Wahl, die wir haben, auf Folgdendes hinaus: Beenden wir das Leben, damit der Kapitalismus weiter fortbestehen kann – oder beenden wir den Kapitalismus, um weiter leben zu können?

George Monbiot ist ein britischer Journalist, Autor, Universitätsdozent, Umweltschützer und Aktivist

 

Während die kapitalistische Klimakrise die Ernährungsbasis der Menschheit bedroht, beweist das morsche politische System mit der europäischen Agrarreform seine Reformunfähigkeit

 Können Sie auf Kaffee [1] verzichten? Wie sieht es mit Schokolade [2] aus? Oder Bananen [3]? Binnen der kommenden Dekaden sind diese Nutzpflanzen, die einen festen Bestandteil der Diät in den Industrieländern bilden, von den Folgen des Klimawandels bedroht. Der morgendliche Kaffee oder die nachmittägliche Schokoladendosis - sie könnten wieder zu einem Luxuserlebnis, zu einem Statussymbol werden, das der breiten Masse der Bevölkerung nicht mehr zugänglich ist.

Rasch ansteigende Temperaturen, zunehmende Dürren und Extremwetterereignisse sowie das drohende Umkippen ganzer Ökosysteme im globalen Süden würden Studien zufolge die Anbaugebiete vieler tropischer Nutzpflanzen hart treffen. Mitunter handelt es sich nicht mehr um bloße Prognosen.

Binnen der letzten fünf Jahre sind die Ernteerträge der Kakaobohne in Ghana - einem der wichtigsten Anbaugebiete dieser Nutzpflanze - um rund 30 Prozent [4] zurückgegangen. Als zentrale Ursache dieser Ernteeinbußen wird der Klimawandel in der Region angegeben, da dieser zu starken Witterungsschwankungen führt, die den sensiblen Kakao-Pflanzen zusetzen. Immer öfter auftretender Regenmangel führt dabei ebenso zu Ausfällen wie zunehmender Starkregen, der mit Pilzbefall einhergeht.

Neue alte Luxusnahrung?

Anfang 2020 veröffentlichte Studien des International Center for Tropical Agriculture (CIAT) warnen, dass dies nur der Beginn einer dramatischen Entwicklung sei. Der Kakao sei demnach in seinen bisherigen Anbaugebieten am Äquator auf ein Gleichgewicht aus tropischer Temperatur, hoher Luftfeuchtigkeit gleichmäßigen Regelfällen angewiesen, das bei rasch steigenden Temperaturen gestört werde.

Bis zur Jahrhundertmitte könnten demnach rund 90 Prozent der Anbauflächen in Ghana und der Elfenbeinküste für die Kultivierung der Kakaobohne nicht mehr geeignet sein. Da diese beiden westafrikanischen Staaten rund 60 Prozent der globalen Kakao-Produktion erwirtschaften, drohe laut dem CIAT schon ab dem Jahr 2030 eine Versorgungslücke: der weltweite Bedarf werde nicht mehr befriedigt werden können, was zu einer Preisexplosion führen dürfte.

 

Beim Kaffee droht in den kommenden Jahrzehnten ein Verlust von rund der Hälfte [5] der Anbauflächen, so eine 2019 veröffentlichte Prognose des World Coffee Research Instituts. Die wichtigsten derzeitigen Kaffeeanbaugebiete könnten durch den Klimawandel zerstört werden, der bereits das sensible klimatische Gleichgewicht in den Anbaugebieten störe.

 

Die steigenden Temperaturen und extreme Niederschlagsmengen bieten vor allem Schädlingen optimale Bedingungen, was bereits zur Verbreitung des Kaffeekirschenkäfers in höheren Anbaulagen in Mittelamerika führte. Etliche Bauern in Costa Rica hätten infolge der zunehmenden Probleme den Kaffeeanbau bereits aufgegeben. Nicht nur der Kakao, auch die Kaffeebohne ist auf ein stabiles tropisches Klima angewiesen.

 

An der koffeinhaltigen Exportware, die vor allem in den Zentren konsumiert wird, hängen Millionen von Existenzen [6] in der Peripherie. Allein in Afrika bauen etwa zehn Millionen Bauern Kaffee auf einer Fläche von circa zwei Millionen Hektar an. Weltweit sind es sogar 25 Millionen. Längst schon spürten die Landwirte die Folgen des Klimawandels, wie kenianische Bauern gegenüber der Deutschen Welle erklärten.

 

"Was wir heute ernten ist nichts im Vergleich zu vor 10, 20 Jahren", so ein Landwirt aus dem ostafrikanischen Anbaugebiet. Die "Globale Erwärmung, Dürren und Überflutungen, Entwaldung, Krankheiten und Schädlinge" seien hierfür verantwortlich, erläuterte die DW. Auch wenn neue Anbauflächen erschlossen würden, könnten die Kleinbauern aus den durch die Klimakrise zerstörten Anbauregionen "nicht so einfach umziehen".

 

Bei Bananen werden Prognosen zufolge Brasilien und Indien [7] zu den größten Verlierern der Klimakrise gehören. Die für den Bananenanbau optimalen Temperaturen würden in vielen Ländern des globalen Südens überschritten, so dass sich die "Erträge bis 2050 deutlich reduzieren" oder dass sie "ganz verschwinden" könnten, wie etwa Die Zeit [8] unter Verweis auf entsprechende Studien konstatierte. Überdies setzten den Nutzpflanzen Schädlinge und Pilzbefall immer stärker zu, die durch die klimatischen Änderungen zunehmend Auftrieb erhielten.

 

Der insbesondere in Afrika und Asien grassierende Schlauchpilz befällt beispielsweise Bananen der Sorte Cavendish, die größtenteils in den Export in die Zentren des Weltsystems - Europa und USA - geht. Bananen dienen aber in vielen Regionen der tropischen Peripherie - vor allem die Stärkebananen - als Ernährungsgrundlage der Bevölkerung. Was in Europa als eine exotische Frucht gilt, ist in vielen Ländern des Südens ein wichtiges Grundnahrungsmittel, das einen Großteil des Nährstoffbedarfs abdeckt. Die Klimakrise bedroht somit auch den Anbau von Grundnahrungsmitteln.

 

Einbußen bei Grundnahrungsmitteln

 

Ähnliche Ernteeinbußen, die den globalen Getreidemarkt destabilisieren [9] könnten, werden auch bei weiteren Grundnahrungsmitteln für die kommenden Dekaden prognostiziert. Für jedes Grad an globaler Klimaerwärmung würden die Ernteerträge bei Mais um rund 7,4 Prozent zurückgehen, bei Weizen seien es sechs Prozent, bei Reis und Sojabohnen rund drei Prozent. Dieser Rückgang der Erträge bei Grundnahrungsmitteln würde zu dramatischen Preisanstiegen führen - und die Nahrungsversorgung in verarmten Regionen gefährden.

 

Würde der Klimawandel ungebremst voranschreiten, wären laut Prognosen bis zum Ende des Jahrhunderts rund 97 Prozent der Weltbevölkerung von Nahrungseinbußen [10] durch verminderte Ernteerträge in der Landwirtschaft und Fischerei betroffen. Bei einer Begrenzung des globalen Temperaturanstiegs auf weniger als zwei Prozent müssten rund 60 Prozent der Weltbevölkerung mit weniger - und schlechterer - Nahrung zurechtkommen.

 

Der Klimawandel lässt nämlich die Qualität der Lebensmittel, ihren Nährstoffgehalt, absinken. Entsprechende Forschungsreihen bei dem wichtigsten Grundnahrungsmittel, bei Reis [11], kamen zu dem Ergebnis, dass erhöhte CO2-Konzentrationen zwar die Pflanzen schneller wachsen ließen, dies aber dazu führe, dass essentielle Nährstoffe wie Vitamine, Eiweiß oder Eisen in den Nutzpflanzen in verminderter Konzentration vorkommen. Dies gilt nicht nur für Reis, sondern auch für Gemüse [12], das ohnehin anfälliger für Hitzestress ist und bereits jetzt von einem Großteil der Weltbevölkerung nicht im ausreichenden Ausmaß konsumiert werden kann.

 

Der Glaube, eine erhöhte Konzentration an CO2, das als "Düngemittel" wirkt, werde durch schnelleres Pflanzenwachstum zu besseren Erträgen führen, hat sich ohnehin als Trugschluss erweisen, da die ebenfalls ansteigende Ozon-Konzentration in der Luft, eine höhere Luftverschmutzung, Wassermängel, sowie die bereits beschriebenen Klima- und Witterungsänderungen diesen Effekt wieder zunichtemachen. Der Menschheit droht somit nicht nur ein durch die kapitalistische Klimakrise [13] hervorgerufener Mangel an Nahrung, sondern auch ein beständiges Absinken der Qualität der Nahrung, die immer weniger Nährstoffe enthalten dürfte.

 

In den kommenden Jahrzehnten könnte sich auch die Versorgung der Menschheit mit Fischen und Meeresfrüchten massiv verschlechtern. Laut Studien [14] der Nichtregierungsorganisation WWF droht bis 2050 - je nach Klimaszenario - eine globale Reduktion der konsumierbaren Fisch-Biomasse in den Weltmeeren von fünf bis 20 Prozent, wobei hierbei ebenfalls Entwicklungsländer in Äquatornähe am stärksten betroffen wären.

 

Mitunter sollen in einigen Regionen des globalen Südens Einbrüche der lokalen Fischbestände um bis zu 50 Prozent möglich sein. Die Bestände der meisten wichtigen Fischarten, wie etwa Sardinen, Sardellen und Thunfisch, wären demnach von den Folgen des Klimawandels negativ betroffen.

 

Diese sich abzeichnende Nahrungskrise gerät im Spätkapitalismus in Wechselwirkung mit einem maroden, durch eine perverse Nahrungsmittelverschwendung [15] gekennzeichneten Agrarsektor, der bereits im gegenwärtigen Krisenschub - trotz ökologisch ruinöser Überschussproduktion - nicht in der Lage ist, dem wachsenden Hunger [16] effektiv zu begegnen.

 

Alljährlich landet rund ein Drittel [17] aller Lebensmittel im Müll. Millionen Tonnen an Lebensmitteln wurden in diesem Krisenjahr bewusst vernichtet, weil sie auf den Märkten nicht abgesetzt werden können, während zugleich die Zahl der Hungernden nicht nur in der Peripherie, sondern auch in den Zentren des Weltsystems rasch ansteigt.

 

Reformunfähigkeit der spätkapitalistischen Politmaschine

 

Politischen Strategien, diese perverse Agrarverfassung angesichts der voll einsetzenden Klimakrise zu überwinden, scheinen angesichts des Systemzwangs zu uferloser Kapitalverwertung kaum Erfolgsaussichten beschieden zu sein. Wie reformresistent die verkrusteten spätkapitalistischen Machtstrukturen gerade im Agrarsektor sind, zeigt gerade das jüngste Beispiel der EU-Agrarreform.

 

Der Klimawandel macht ja auch an den EU-Grenzen nicht halt. Die Europäische Umweltagentur EEA publizierte folglich schon 2019 eine umfassende Studie [18], die sich mit den Auswirkungen der Klimakrise auf den europäischen Agrarsektor befasste - und in der vor bereits unabwendbaren Auswirkungen des Klimawandels innerhalb der EU, wie auch von einer "Kaskade von Auswirkungen des Klimawandels außerhalb Europas" gewarnt wird, die "die Nahrungsmittelpreise unter Druck" setzen werden. Immerhin glaubt die EEA, dass die Versorgung mit Futter- und Nahrungsmittel in der EU "höchstwahrscheinlich" in den kommenden Dekaden gesichert sein werde.

 

Insgesamt müsse der Agrarsektor der EU den Prognosen der EEA [19] zufolge mit Einkommensausfällen von rund 16 Prozent bis 2050 rechnen, die durch zunehmende Dürren und Extremwetterereignisse verursacht würden. Besonders hart wird es Südeuropa treffen: Laut den - leider wohl realistischen - Hochemissionsszenarien der Umweltagentur sollen die Ernteerträge von Feldfrüchten, die nicht bewässert werden, wie beispielsweise Weizen, Mais und Zuckerrüben, im Süden der EU bis 2050 um rund 50 Prozent einbrechen. Dies würde einen Einbruch der landwirtschaftlichen Bodenpreise von bis zu 80 Prozent nach sich ziehen, so die EEA - was letztendlich nur ein marktwirtschaftlicher Ausdruck der Verwüstung dieser Regionen wäre.

 

Doch glaubte die EEA noch im Herbst 2019 einen Weg aus der drohenden Misere weisen zu können. Die damals in Brüssel diskutierte Reform der europäischen Agrarpolitik (Common Agricultural Policy - CAP) für den Zeitraum 2021 bis 2027 enthalte die Klimaanpassung als ein "ein klares Ziel" europäischer Agrarpolitik. Diese Vorgaben dürften die Mitgliedsstaaten der EU dazu verleiten, ihre finanziellen Aufwendungen für die Anpassungsmaßnahmen im Agrarsektor signifikant zu erhöhen, glauben die Berufsoptimisten der Umweltagentur damals.

 

Im Rahmen nationaler und regionaler Anpassungspläne würden "praktische Maßnahmen" umgesetzt, wie Strategien zur Sensibilisierung und Risikoverringerung bei Extremwetterereignissen, oder gleich der Aufbau ganzer ländlicher Infrastrukturen zur effizienten Bewässerung und zum Nahrungsmittelschutz.

 

Die rund ein Jahr später in Brüssel verabschiedete Agrarreform lässt die Vorstellungen der EEA von einer koordinierten, klimafreundlichen Agrarpolitik in der EU als realitätsferne Träumereien erscheinen. Selbst die Frankfurter Allgemeine Zeitung [20] (FAZ), nicht gerade als Bastion des Umwelt- und Klimaschutzes bekannt, sah in ihrem Bericht die Chance auf einen tatsächlichen Systemwechsel verpasst.

 

Eine Neuausrichtung der Agrarpolitik sei in der kommenden Haushaltsperiode 2021 bis 2027 nicht gelungen [21], das alte System werde in seinen Grundzügen beibehalten. Mit einem Volumen von 345 Milliarden Euro stellen die Aufwendungen für den Agrarsektor den mit Abstand größten Haushaltsposten dar, der rund ein Drittel des europäischen Gesamtbudgets 2021-27 umfasst.

 

Vor allem wurde das alte Subventionsprinzip beibehalten, wonach Landwirte und Agrarkonzerne steuerfinanzierte Fördermittel abhängig von der Größe ihrer Anbauflächen erhalten, was vor allem Großbetriebe bevorzugt. Rund 70 Prozent des Agrarhaushalts der EU flossen bisher in diese flächenbasierten, direkten Subventionen an die Agrarunternehmen, der Rest ging in regionale Strukturförderungsprogramme.

 

In der Bundesrepublik erhalten ab 2012 Agrarunternehmen einen Betrag von 300 Euro je Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche, was einem jährlichen Gesamtbetrag von fünf Milliarden Euro entspricht.

 

Kampf um Subventionen und Definitionen

 

Die Subventionsgelder Brüssels fließen somit vor allem in Regionen, in denen eine intensive, industrielle Landwirtschaft betreiben wird, während Anbaugebiete mit hoher Artenvielfalt und einem geringen Ausstoß von Treibhausgasen benachteiligt würden, berichtete die Süddeutsche Zeitung [22] unter Verweis auf entsprechende Studien im vergangenen August.

 

Die Zahlungen, die Landwirte erhielten, die sich um den "Erhalt der Artenvielfalt", um Klima- und Umweltschutz kümmerten, seien viel zu gering: Bei rund 54 Milliarden Euro an Subventionen, die alljährlich an landwirtschaftliche Betriebe ausgezahlt würden, seien nur "vier Prozent ausdrücklich für klima- und umweltfreundliche Produktionsmethoden vorgesehen", bemerkte etwa die Süddeutsche [23].

 

Dennoch feierte Bundeslandwirtschaftsministerin Klöckner im vergangenen Oktober die europäische Agrarreform als einen Durchbruch zu einer ökologischen Transformation. Worin soll nun der von Klöckner bejubelte [24] "Systemwechsel" eines in Jahrzehnten von der europäischen Agrarlobby geformten Subventionsregimes bestehen?

 

Ein Teil der Direktsubventionen an die Agrarunternehmen soll nun an die Teilnahme an Klima- und Umweltschutzprogrammen gekoppelt werden, die im Brüssler Fachjargon passenderweise als Eco-Schemes bezeichnet werden. Das europäische Parlament einigte sich auf einen Öko-Anteil von 30 Prozent bei diesen Direktsubventionen, der aber bei den darauf folgenden Verhandlungen auf Agrarministerebene aufgrund fleißiger Lobbyarbeit des europäischen Agrarverbandes Copa-Cogeca auf 20 Prozent gedrückt werden konnte.

 

Schon die Vorlage des EU-Parlaments, die einen Kompromiss der Konservativen, Sozialdemokraten und Liberalen bildet, wurde von der Eurofraktion der Grünen kritisiert. Die Teilnahme an diesen Programmen ist für die Bauern freiwillig, sie verlieren aber bei einer Verweigerung die entsprechenden Gelder. Zudem gelten diese Bestimmungen nicht etwa ab dem kommenden Jahr, sondern erst ab 2023, weil die derzeitigen Regelungen schlicht verlängert wurden - hierbei diente die Pandemie zur Legitimierung dieses Aufschubs.

 

Schließlich hat es die Agrarlobby geschafft, eine zweijährige Übergangszeit zu erwirken, in der die Annahmebereitschaft der Ökoprogramme durch die Agrarunternehmen eruiert werden solle. Die Folge: Anstatt ab 2021, wird die Ignorierung der Eco-Schemes erst ab dem Jahr 2025 tatsächlich zu Einnahmeausfällen bei den europäischen Agrarbetrieben führen.

 

Doch entscheidend ist in diesem Zusammenhang, was unter dem Label der "Eco-Schemes" verkauft werden wird, die von Klöckner & Co. als Einsteig in den "Systemwechsel" gefeiert werden. Und hier scheinen der Fantasie der EU-Länder keine Grenzen gesetzt. Den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union soll es in den kommenden Jahren nämlich weitgehend freistellt werden, wie sie die entsprechenden Umwelt-Programme konkret ausgestalten.

 

Schließlich fungieren die EU-Subventionen oftmals auch als politisches Schmiermittel, um reaktionäre Machtstrukturen in postdemokratischen Peripheriestaaten - etwa im Ungarn Orbans - durch eine entsprechende Günstlingswirtschaft funktionsfähig zu halten. Daran wird sich somit bis auf Weiteres nichts ändern, da beispielsweise Orbans Landwirtschaftsminister künftig sich seine eigenen Eco-Schemes ausdenken kann, um die Klientel der ungarischen Rechtspopulisten weiterhin mit europäischen Subventionen zu versorgen.

 

"Weitermachen" - bis zum Kollaps von Ökosystemen

 

Selbst die FAZ [25] bemerkte hierzu, dass der EU buchstäblich die Zeit davonlaufe, da Brüssel bis 2030 den Ausstoß von Treibhausgasen eigentlich um 55 Prozent absenken wolle - da könne doch der Agrarsektor nicht bis 2025 "weitermachen wie bisher".

 

Was dieses "weiter so" konkret bedeutet angesichts einer europäischen Agrarpolitik, die sich nahezu total der destruktiven Scheinrationalität kapitalistischer Verwertungsinteressen unterordnet, macht eine Meldung des Fachblattes Top-Agrar [26] deutlich, wonach etwa auf der Schwäbischen Alb ein drastischer Insektenrückgang von 97 Prozent festgestellt worden sei. Entomologen warnten vor einem Kollaps des gesamten Ökosystems.

 

Als Ursache wurden die Folgen der "industriellen Landwirtschaft" benannt, deren Fortbestand von der Brüssler Agrarlobby bis 2027 gesichert wurde: Monokulturen, jahrzehntelanger, exzessiver Einsatz von Pestiziden, weitflächige Überdüngung, bei der die Sonderabfälle der europäischen Fleischfabriken als Dünger auf den Feldern entsorgt werden, sowie die zunehmende Flächenversiegelung.

 

Ohne Insekten bricht aber ein großer Teil der Nahrungsmittelversorgung zusammen, da die Produktion von rund einem Drittel aller Nahrungsmittel von der Bestäubung durch Insekten - zu 80 Prozent durch Bienen - abhängig ist. Spätestens dann wird sich ja herausstellen, ob man Agrar-Subventionen auch essen kann.

 

Von Tomasz Konicz erschien zu diesem Thema im Mandelbaum Verlag das Buch Klimakiller Kapital [27]. Wie ein Wirtschaftssystem unsere Lebensgrundlagen zerstört.

 


 

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[1] https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/nicht-nur-der-klimawandel-bedroht-anbau-warum-kaffee-schon-bald-zum-luxus-produkt-wird/25064478.html
[2] https://www.tagesschau.de/wirtschaft/boerse/klimawandel-schokolade-101.html
[3] https://www.zeit.de/wissen/umwelt/2019-09/ernteeinbussen-klimawandel-bananen-indien-brasilien-erderwaermung
[4] https://www.tagesschau.de/wirtschaft/boerse/klimawandel-schokolade-101.html
[5] https://www.oekotest.de/essen-trinken/Klimawandel-laesst-Kaffee-knapp-werden-_10908_1.html
[6] https://www.dw.com/de/klima-afrika-hat-den-kaffee-auf/a-55629397
[7] https://www.scinexx.de/news/geowissen/wirds-der-banane-zu-heiss/
[8] https://www.zeit.de/wissen/umwelt/2019-09/ernteeinbussen-klimawandel-bananen-indien-brasilien-erderwaermung
[9] https://www.scinexx.de/news/geowissen/klimawandel-destabilisiert-getreide-weltmarkt/
[10] https://www.scinexx.de/news/geowissen/klimawandel-bringt-nahrungs-einbussen-weltweit/
[11] https://www.deutschlandfunk.de/mehr-co2-weniger-vitamine-wie-der-klimawandel-die.676.de.html?dram:article_id=418596
[12] https://weather.com/de-DE/wissen/klima/news/2018-06-22-gemse-im-hitzestress-forscher-warnen-vor-gesundheitskrise
[13] https://www.heise.de/tp/features/Kapital-als-Klimakiller-4043735.html?seite=all
[14] https://www.wwf.de/fileadmin/fm-wwf/Publikationen-PDF/WWF-FishForward-Studie-2020-DE.pdf
[15] https://www.heise.de/tp/features/Marode-kapitalistische-Misswirtschaft-4717812.html
[16] https://www.heise.de/tp/features/Pandemie-des-Hungers-4995797.html
[17] https://www.dw.com/de/weltklimarat-warnt-vor-nahrungsknappheit/a-49933468
[18] https://www.eea.europa.eu/highlights/climate-change-threatens-future-of
[19] https://www.eea.europa.eu/publications/cc-adaptation-agriculture
[20] https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/agrarreform-der-eu-systemwechsel-in-der-landwirtschaft-verpasst-17013114.html
[21] https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/klima-energie-und-umwelt/europas-landwirtschaft-was-die-eu-agrarreform-bedeutet-17012533.html
[22] https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/eu-landwirtschaft-subventionen-klimawandel-1.5012117
[23] https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/eu-landwirtschaft-subventionen-klimawandel-1.5012117
[24] https://de.reuters.com/article/eu-agrar-kl-ckner-idDEKBN2761GM
[25] https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/agrarreform-der-eu-systemwechsel-in-der-landwirtschaft-verpasst-17013114.html
[26] https://www.topagrar.com/acker/news/97-insektenrueckgang-auf-der-schwaebischen-alb-12392302.html
[27] https://www.mandelbaum.at/buch.php?id=962