In der Debatte um den Ukrainekrieg wird oft argumentiert, für eine Verhandlungslösung sei es noch zu früh – und mit Wladimir Putin sei eine solche vielleicht ohnehin unmöglich. Dem widerspricht der Publizist Fabian Scheidler: Angesichts der Bedrohungen durch Klimakrise und Atomkrieg sei ein Dialog mehr geboten denn je.
Die Pentagon-Leaks aus dem Frühjahr dieses Jahres haben gezeigt, dass aus Sicht des US-Militärs die Konfrontation zwischen Russland und der Ukraine in eine Pattsituation geraten ist. Keine der beiden Seiten kann, so die Einschätzung, in absehbarer Zeit siegen. Das hatten bereits zuvor führende Militärs wie etwa General Mark A. Milley, Vorsitzender der Joint Chiefs of Staff, öffentlich gesagt.[1] Damit aber werden Verhandlungen, so schwierig sie auch sein mögen, zur einzig rationalen Handlungsoption. Denn eine Fortsetzung des Krieges unter diesen Bedingungen würde in ein schier endloses Blutvergießen münden, in ein neues Verdun, ohne dass damit das angestrebte Ziel, eine vollständige Wiederherstellung der ukrainischen Souveränität, erreicht werden würde. Zugleich würde eine nukleare Eskalation immer wahrscheinlicher.
Jede ethisch fundierte Position in einem solchen Konflikt muss zwischen den Risiken und Opfern, die für ein Ziel gebracht werden sollen, und dem, was realistisch erreicht werden kann, abwägen. Die russische Führung hat mit dem Einmarsch in die Ukraine ein schweres Verbrechen begangen, gegen die Menschen und gegen das Völkerrecht. Doch wenn die vollständige militärische Rückeroberung der besetzten Gebiete durch die Ukraine nicht realistisch ist und der Kampf darum nur enorme, letztlich sinnlose Opfer kosten wird, dann steht eine Frage im Raum: Wie viele Menschen sollen noch sterben, um den künftigen Grenzverlauf um wie viele Kilometer zu verschieben?
Doch bereits diese Frage gilt bei vielen, die sich lautstark als Freunde der Ukraine in Szene setzen, als zynisch und unsolidarisch mit den Angegriffenen. Aber ist es nicht im Gegenteil zynisch, genau diese Frage nicht zu stellen? Während Generäle, Politiker und Journalisten über Kriegsziele und Prinzipien diskutieren, sterben in der Ukraine täglich Menschen, die nie darüber abstimmen konnten, ob sie für diese Ziele ihr Leben lassen wollen, weder auf russischer noch auf ukrainischer Seite.
Das führt zu der wichtigen, von Max Weber stammenden Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik. Gesinnungsethik begnügt sich damit, abstrakte Prinzipien zu verteidigen, egal was die Folgen sind. Verantwortungsethik denkt vom gewünschten Ergebnis her. In unserem Fall hieße das beispielsweise: Welche Schritte muss man in der realen, oft unschönen Welt unternehmen, um möglichst viele Menschenleben zu retten, der Ukraine eine Zukunft zu ermöglichen und einen Atomkrieg zu verhindern?
Die Entspannungspolitik von Willy Brandt und Egon Bahr etwa gründete in vieler Hinsicht in einer Verantwortungsethik. Ihre Logik lautete: Auch wenn wir die Herrscher im Kreml missbilligen, ja selbst wenn wir meinten, sie seien die Inkarnation des Bösen, so müssen wir doch mit ihnen sprechen und sogar verhandeln. Zum einen, um konkrete Erleichterungen für die Menschen zu erreichen, zum anderen, um zu verhindern, dass wir alle in einem Atomkrieg sterben.
»Die Welt steht vor einer ganzen Reihe von gefährlichen Kipppunkten, geopolitisch wie ökologisch.«
Um das zu erreichen, sind großspurige moralische Lektionen und eine Anrufung der „westlichen Werte“ oft wenig zielführend. Sie führen zwar dazu, dass man sich selbst moralisch erhoben und auf der richtigen Seite fühlt, tragen aber nichts zu einer Entschärfung der Lage bei. Im Gegenteil: Wie bereits im Fall des Kriegs gegen den Terror nach Nine Eleven verbaut die Selbstbeweihräucherung den Blick auf die Realität und kann damit in eine Spirale der Zerstörung führen.
Die Frage nach Gesinnungs- oder Verantwortungsethik geht aber weit über die Kriegsfolgen im engeren Sinne hinaus und bezieht sich auf die gesamte globale Situation.
Die Welt steht heute vor einer ganzen Reihe von gefährlichen Kipppunkten, geopolitisch wie ökologisch. Zum einen erhöht eine dauerhafte neue Blockkonfrontation die Gefahr eines Atomkriegs erheblich. Selbst ein „begrenzter“ nuklearer Schlagabtausch würde global in einen nuklearen Winter führen und einen großen Teil der Menschheit auslöschen. Allein aus diesem Grund ist eine verantwortungsethische Diplomatie die einzig rationale Handlungsoption. Zum anderen zerstört der neue kalte und heiße Krieg gleich in mehrfacher Hinsicht die Chance, einen Klima- und Biosphärenkollaps noch zu verhindern. Überschreiten wir einige der unmittelbar bevorstehenden Kipppunkte im Klimasystem, dann droht die Erde in einen vollkommen neuen Zustand überzugehen: das Hothouse Earth. Ganze Erdregionen, darunter Teile Südasiens, des Mittleren Ostens und Afrikas, würden unbewohnbar. Um das zu verhindern, muss der größte Teil der noch in der Erdkruste befindlichen fossilen Energien im Boden verbleiben. Und dazu ist wiederum eine intensivierte internationale Kooperation – auch mit China und Russland – unerlässlich.
So abwegig das im Augenblick auch erscheint: Der Westen muss Russland Angebote machen, wie es von einem Exporteur fossiler Brennstoffe zu einem Produzenten erneuerbarer Energien werden kann – denn dafür hat das größte Land der Erde enorme Potenziale. Bleibt Russland aus westlicher Sicht ein Paria, mit dem man nicht redet, ist eine solche Perspektive undenkbar.
Die neue Blockkonfrontation droht darüber hinaus die dringend für den sozial-ökologischen Umbau benötigten Ressourcen in den destruktivsten und klimaschädlichsten aller Sektoren zu kanalisieren: ins Militär. Damit zeichnet sich eine fatale Wiederholung der Dynamik nach dem 11. September 2001 ab. Das „Cost of War“-Projekt der renommierten Brown University beziffert die Kosten des Afghanistankrieges allein für den US-Haushalt auf 2100 Mrd. US-Dollar – das entspricht unvorstellbaren 300 Mio. pro Tag, und das über 20 Jahre lang. Die Kriege in Irak und Syrien schlugen insgesamt mit 2900 Mrd. Dollar zu Buche.[2] Zum Vergleich: Das Budget, das die Entwicklungsländer seit Jahren für die Bekämpfung der ärgsten Folgen des Klimawandels fordern, beträgt 100 Mrd. Dollar – gemessen daran eine geradezu winzige Summe, die aber von den reichen Industrienationen bis heute nicht vollständig zur Verfügung gestellt wurde.
Nach den Berechnungen des US-Ökonomen Robert Pollin würde ein wirkungsvoller Global Green New Deal, der ein verheerendes Klimachaos noch verhindern könnte, etwa 4,5 Bill. Dollar jährlich kosten – etwa fünf Prozent der globalen Wirtschaftsleistung.[3] Das wäre durchaus finanzierbar, allerdings nur, wenn zugleich weltweit die Militärausgaben gedrosselt werden würden. Die neue Aufrüstung auf beiden Seiten infolge des Ukrainekriegs droht daher ein weiteres Mal den Weg zu einem ernsthaften ökologischen Umbau zu blockieren. Und damit dürfte womöglich die letzte Chance zur Erhaltung des Erdsystems, wie wir es kannten, beerdigt werden.
An diesem Punkt wird auch deutlich, warum Friedens- und Klimabewegung untrennbar zusammengehören. Die enormen Anstrengungen der Klimabewegung werden vergeblich sein, wenn sie nicht mit einer realistischen friedenspolitischen Perspektive verbunden werden.
Und umgekehrt wird es keinen Frieden geben, wenn wir mit 14 000 Atomsprengköpfen und einer Milliarde Kleinwaffen, die es auf der Erde gibt, ins Klimachaos schlittern. Auf den derzeit zutiefst gespaltenen Bewegungen liegt also eine große Verantwortung, trotz aller Differenzen aufeinander zuzugehen, Brücken zu bauen und gemeinsam zu handeln.
Der so dringend erforderliche Gedanke an Abwägungsprozesse und Verhandlungsinitiativen wird oft mit zwei Argumenten beiseite gewischt: Zum einen, so heißt es, könne man mit einem Monster wie Putin nicht verhandeln. Doch die Geschichte der Verhandlungen im März 2022, die zu erheblichen Annäherungen der beiden Seiten geführt hatte, beweist das Gegenteil.[4]
»Der Ukrainekrieg wird zu einem erheblichen Teil aus geopolitischen Motiven geführt und betrifft die Überlebenschancen aller Menschen.«
Zweitens wird, insbesondere von der US-Regierung, immer wieder darauf hingewiesen, dass es uns nicht anstehe, Kompromisse vorzuschlagen; das sei ausschließlich Sache der Ukrainer. Natürlich ist es an der Ukraine und vor allem an ihren Bürgern – die allerdings seit Jahren zu all dem gar nicht mehr gefragt worden sind –, Entscheidungen über Krieg, Frieden und Verhandlungen zu treffen. Aber es ist vollkommen realitätsfremd, so zu tun, als ob dieser Krieg in einem geopolitischen Vakuum stattfände.
Die Positionen von Frankreich, Deutschland, Großbritannien und vor allem der USA haben de facto erheblichen Einfluss auf die Entscheidungen der ukrainischen Regierung, ebenso wie auch die Positionen Chinas und anderer Länder des Globalen Südens Einfluss auf Moskau haben. Kiew ist finanziell und militärisch vollkommen abhängig von Washington, ohne die Hilfen des Westens würde der Staat in kürzester Zeit zusammenbrechen. In dieser Situation so zu tun, als sei die ukrainische Regierung vollkommen autark und souverän, ist absurd.Es ist auch interessant, dass das Argument gegen Einmischung ausgerechnet von den USA kommt, die sich seit langem permanent in die Angelegenheiten der Ukraine eingemischt haben, und zwar massiv. Anfang Februar 2014, als der Maidanaufstand, der später zum Sturz der Regierung Janukowitsch führte, in vollem Gange war, tauchte das Leak eines Telefongesprächs zwischen Victoria Nuland, damals US-Chefdiplomatin für die EU, und Geoffrey Pyatt, dem US-Botschafter in Kiew, auf. Das Telefonat wurde berühmt durch Nulands Ausspruch „Fuck the EU“. Weniger bekannt, aber noch wichtiger ist die Art und Weise, wie Nuland und Pyatt darüber berieten, wie die künftige Regierung der Ukraine aussehen soll. Hier ein Auszug:
„Nuland: Ich denke, Klitsch sollte nicht in die Regierung gehen. Ich denke, es ist nicht nötig, es ist keine gute Idee.
Pyatt: Ja, ich meine, man sollte ihn lieber draußen lassen und seine politischen Hausaufgaben machen lassen. Ich denke, was den voranschreitenden Prozess angeht, wollen wir die moderaten Demokraten zusammenhalten. Das Problem werden Tjagnibok und seine Leute sein. [Oleg Tjagnibok war Vorsitzender der rechtsextremen, antisemitischen Swoboda-Partei, d. Verf.] […]
Nuland: Ich denke, Jats ist der Mann, der die wirtschaftliche Erfahrung hat, die Regierungserfahrung. Er ist der Mann. Was er braucht, sind Klitsch und Tjagnibok draußen. Er sollte mit ihnen vier Mal die Woche sprechen.“[5]
„Jats“ (gemeint ist Arsenij Jatsenuk) und „Klitsch“ (Vitali Klitschko): Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Nuland und Pyatt die zu diesem Zeitpunkt wichtigsten Oppositionspolitiker im Wesentlichen als Marionetten betrachteten, die man am grünen Tisch in Washington herumschieben kann. Tatsächlich wurde Nulands Wunsch, dass „Jats“ Ministerpräsident der Ukraine werden sollte, am 27. Februar 2014 Wirklichkeit. Sieht so der Umgang mit einem souveränen Land aus, das gänzlich unabhängige Entscheidungen trifft?
Nein, der Ukrainekrieg ist ein globaler Konflikt, er wird zu einem erheblichen Teil aus geopolitischen Motiven geführt und er betrifft die Überlebenschancen aller Menschen. Der Westen muss daher endlich seinen Einfluss nutzen, um etwas zu seiner Beendigung beizutragen, statt Verhandlungsoptionen mit fadenscheinigen Argumenten beiseite zu wischen – auch wenn das nach den bisherigen Verwüstungen und der Zerstörung des Kachowka-Staudamms schwieriger denn je ist. Brasilien, China und Südafrika haben neue Friedensinitiativen auf den Weg gebracht. Die westlichen Länder sollten sich ihnen anschließen.
[1] Vgl. Peter Baker, Top U.S. General Urges Diplomacy in Ukraine While Biden Advisers Resist, www.nytimes.com, 10.11.2022.
[2] Vgl. Costs of War, https://watson.brown.edu.
[3] Vgl. Noam Chomsky und Robert Pollin, Die Klimakrise und der Green New Deal, Münster 2021.
[4] Vgl. Fabian Scheidler, Naftali Bennett wollte den Frieden zwischen Ukraine und Russland: Wer hat blockiert?, www.berliner-zeitung.de, 6.2.2023.
[5] Ukraine crisis: Transcript of leaked Nuland-Pyatt call, www.bbc.com, 7.2.2014.
von Werner Hajek
Gleich zwei Ostermärsche gab es diesmal in Flensburg. „Typisch für diese Stadt, von allem gibt es immer zwei, und nie werden sie sich einig“, so beklagte sich eine Teilnehmerin der Kundgebung am Nordertor. Einigkeit für die zerstrittene Friedensszene? Ein nachvollziehbarer Wunsch. Schließlich ist eine zerstrittene Friedensszene ein Widerspruch in sich, oder?
Doch bevor wir auf den Kern des Differenzen zurückkommen, werfen wir erst einmal einen Blick auf die Akteure. Am Nordertor folgten bis zu 150 Friedensbewegte dem Aufruf vom Netzwerk Friedenskooperative und der DFG/VK-Ortsgruppe zur Kundgebung und zum Marsch für Frieden und Abrüstung. Alles ganz traditionell? Nicht nach Flensburger Neusprech. Denn unter dem irreführenden Etikett „Traditioneller Ostermarsch“ wollten andere Akteure die erhofften Massen beim tausend Meter entfernten Gewerkschaftshaus versammeln. Neben dem DGB unterzeichneten die evangelische Kirchengemeinden und die Ortsgruppen von SPD, Grünen und Linken den Aufruf für Frieden und Aufrüstung.
„Für Frieden und AUFRÜSTUNG“? Leider kein Schreibfehler. Ein wörtliches Zitat aus dem Aufruf ließ tatsächlich die entscheidende Frage ergebnisoffen im Raum stehen: „Muss Deutschland mehr Geld in Rüstung stecken, verbunden mit der Frage, ob das Zwei-Prozent Ziel der NATO nun sinnvoll erscheint oder nicht?“ Laut Auskunft einiger Linker hätten mehrere andere Gruppen sonst nicht mitmachen wollen. Die Quittung war eine Abstimmung mit den Füßen. Die gesammelte Kraft der aufrufenden Organisationen brachte nur eine Schar von, laut Tageszeitung, 60 bis 80 Teilnehmern zusammen, zu wenige. Also blieb es bei einer Kundgebung; der aufrüstungsoffene Abrüstungsmarsch wurde erst gar nicht angetreten.
Ich hatte mich sowieso für den echten Ostermarsch-Klassiker der örtlichen DFG/VK entschieden. Gut zu sprechen bin ich auf diesen Verein allerdings nicht. Mich stören seine Aufrufe, der angegriffenen Ukraine den Waffennachschub zu sperren. Mich stört die ewige Täter/Opfer-Verkehrung, nach der „militärische Verteidigung Selbstzerstörung ist“. Mich stört das übergroße Verständnis für das bedrohte, angeblich friedliebende Russland.
Nun gut, der erste Schritt zum Dialog beginnt mit dem Zuhören. Das wollte ich, und ich traf auf friedliche Menschen, freundliche Stimmung, auf einen Auftakt mit einen Mey-Song gegen den Krieg und auf einen schamanischen Friedenstrommler zum Abschluss.
Dass die Redner das Altbekannte wiederholten – geschenkt! Dass die offiziell parteipolitisch neutrale Demonstration von einem großen Banner der kommunistischen Jugendorganisation SDAJ begleitet wurde – auch geschenkt! Ich bin ja nicht mitgelaufen.
Interessanter ist die eingangs zitierte Frage der Kundgebungsteilnehmerin vom Nordertor: Warum zwei Osterdemonstrationen?
Was trennt diese gespaltene Flensburger Friedens-Szene, und wo hat sie vielleicht doch einen gemeinsamen Nenner? Hier meine persönliche Einschätzung: Die Spaltung besorgen zwei „unsichtbare Elefanten im Wohnzimmer“: nämlich die politischen und militärischen Machtbestrebungen Russlands einerseits, die politischen und militärischen Machtbestrebungen der USA und Deutschlands andererseits. Die Redner der beiden Kundgebungen nehmen jeweils nur einen der beiden Elefanten wahr, vor dem anderen drücken sie ein Auge zu. Einzelne Zuhörer sahen das am Nordertor beidäugiger.
Womit wir bei dem sind, was die meisten Friedensbewegten verbinden könnte:
- Das Mitleiden mit den Opfern
- Die Forderung, dass Menschen überall friedlich und selbstbestimmt leben sollen
- Der Einsatz gegen die brandgefährliche Zuspitzung der internationalen Lage
- Die Furcht vor einem ukrainischen Atomkraft-GAU oder einem Atomkrieg
- Der Protest gegen eine heißlaufende Rüstungsspirale
- Und vor allem die Erwartung, dass die vorhandenen Mittel und Fähigkeiten für wirklich wichtige Menschheitsaufgaben gebündelt werden müssen: für globale Gerechtigkeit und die sozialverträgliche Abfederung der Folgen der Erderwärmung
Reicht das für eine gemeinsame Basis?
Liebe Attac-Regionalgruppen!
Auf dem Frühjahrsratschlag wurde über das Positionspapier abgestimmt, dabei erreichte das Papier eine mehrheitliche Zustimmung, es wurden aber auch 17 Vetos eingelegt. Die Themenfelder 2 und 3 waren
auf Wunsch der BAG WTO ausgeklammert, da diese BAG hierzu noch Vorschläge einreichen wird.
Ein Teil der Vetos wurde damit begründet, dass mehr Zeit für die Diskussion in Regionalgruppen und BAGs gebraucht würde.
WIR LADEN DAHER ALLE REGIONALGRUPPEN UND BAGS EIN MITZUWIRKEN UND BIS ZUM 15.8.23 ÄNDERUNGSANTRÄGE EINZUREICHEN AN Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
Hier findet ihr die aktuelle Version des Papiers mit den auf dem Frühjahrsratschlag vereinbarten Änderungen:
HIER anklicken ...
In die Themenfeldern 2 Handel und 3 Privatisierung werden wir bis Mitte Mai die mit der BAG WTO abgesprochenen Änderungen einarbeiten. Wir schicken Euch dann eine aktualisierte Version dieser Themenfelder
zu, dann könnt ihr auch dazu Änderungsvorschläge einreichen. Die inhaltlichen Vetos werden in einer Konsensrunde besprochen Auf dem Herbstratschlag, der vermutlich Ende Oktober stattfindet, wird das
überarbeitete Papier zur nächsten Abstimmung gestellt. Diese Version - sowie ggf. eine Übersicht über nicht übernommene Änderungsanträge - erhaltet ihr mindestens 4 Wochen vor dem Herbstratschlag.
Liebe Grüße,
Julia für die Moderationsgruppe Erneuerungsprozess
Deutscher Diplomat fordert Einigung der NATO auf „westliche Kriegsziele“ in der Ukraine. Neue Quellen belegen: Der Westen verhinderte im Frühjahr 2022 ein rasches Kriegsende.
BERLIN/WASHINGTON/KIEW (Eigener Bericht) – Der frühere Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, fordert eine Einigung in der NATO auf „die westlichen [!] Kriegsziele“ im Ukraine-Krieg. Um diese festzulegen, solle „eine politisch-strategische Kontaktgruppe“ eingerichtet werden, erklärt der deutsche Diplomat. So müsse etwa festgestellt werden, ob man „die Ukraine ermuntern“ wolle, „die Krim militärisch zurückzuerobern“. Mit der Bildung einer solchen „Kontaktgruppe“ übernähme der Westen faktisch völlig offen die Kontrolle über das ukrainische Vorgehen in dem Krieg, dessen frühzeitige Beendigung er zahlreichen Quellen zufolge Ende März bzw. Anfang April vergangenen Jahres erfolgreich sabotierte. Das zeigen Berichte britischer und ukrainischer Medien wie auch Schilderungen bekannter US-Russland-Expertinnen und des früheren israelischen Ministerpräsidenten Naftali Bennett, die von Recherchen des ehemaligen UN-Diplomaten Michael von der Schulenburg bestätigt werden. Demnach scheiterte ein fast fertig ausgehandeltes Waffenstillstandsabkommen vor zehneinhalb Kriegsmonaten an hartnäckigen Einwänden der NATO und insbesondere Großbritanniens.
Abzug gegen Neutralität
Die Gespräche über ein Waffenstillstands- oder sogar Friedensabkommen zwischen der Ukraine und Russland waren im März 2022 tatsächlich relativ weit gediehen. Das ließ sich damals Berichten diverser Leitmedien aus mehreren westlichen Staaten klar entnehmen. So zitierte etwa der britische Daily Telegraph am 3. April 2022 eine Äußerung, die David Arachamija, einer der ukrainischen Verhandlungsführer, im ukrainischen Fernsehen getätigt hatte: „Die Russische Föderation hat eine offizielle Antwort auf alle unsere Vorschläge gegeben“; Moskau habe „die ukrainische Position akzeptiert außer der Krimfrage“.[1] Die ukrainische Position bestand vor allem darin, dass Russland seine Truppen aus der Ukraine abziehe – bis auf den Donbass und die Krim. Der russische Verhandlungsführer Wladimir Medinski wiederum wurde mit der Aussage zitiert, Kiew habe sich darauf eingelassen, was Moskau bereits seit 2014 fordere; gemeint war, wie der Daily Telegraph erläuterte, vor allem die Neutralität der Ukraine. Arachamija ergänzte, man werde die Sache nun in trockene Tücher bringen; dann könnten die Präsidenten beider Länder zusammenkommen und alles auf höchster Ebene abschließen. Er habe bei alledem allerdings „das Gefühl, dass die Vereinigten Staaten und Großbritannien die letzten sein werden, die sich darauf einlassen“ – wohl erst dann, „wenn sie sehen, dass alle anderen zustimmen“.[2]
„Die Ukraine braucht Frieden“
Mit dem Bericht des Daily Telegraph decken sich Schilderungen diverser ehemaliger US-Regierungsmitarbeiter, die zwei bekannte US-Russland-Expertinnen, Fiona Hill und Angela Stent, im September in der US-Zeitschrift Foreign Affairs wiedergaben. Hill war mehrere Jahre lang im Nationalen Sicherheitsrat der Vereinigten Staaten tätig gewesen. Den US-Regierungsmitarbeitern zufolge „schienen sich russische und ukrainische Verhandler auf die Umrisse einer vorläufigen Verhandlungslösung geeinigt zu haben“, laut der Russland sich „auf seine Stellungen vom 23. Februar zurückziehen“ werde, während die Ukraine „zusage, keine NATO-Mitgliedschaft anzustreben und sich stattdessen um Sicherheitsgarantien einer Reihe von Staaten“ zu bemühen.[3] Aufbauend auf diesem Verhandlungsstand sprach sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj noch am Abend des 4. April 2022 für einen schnellen Waffenstillstand aus. Selenskyj forderte bei einem Besuch in der Stadt Butscha: „Die Ukraine muss Frieden bekommen.“[4]
Der Wunsch nach Waffenstillstand
Weitere Aufschlüsse bringen Aussagen aus einem Interview mit dem damaligen israelischen Ministerpräsidenten Naftali Bennett, der sich Anfang März vergangenen Jahres als Vermittler zwischen Moskau und Kiew betätigte. Bennett berichtet, damals seien sowohl der russische Präsident Wladimir Putin als auch Selenskyj zu Zugeständnissen bereit gewesen, um den Krieg zu stoppen: Putin habe die Forderung nach „Entmilitarisierung“ und „Entnazifizierung“ der Ukraine zurückgezogen – Letzteres zielte auf einen Regime Change –, während Selenskyj bereit gewesen sei, auf die ukrainische NATO-Mitgliedschaft zu verzichten. Beide seien „pragmatisch“ aufgetreten und hätten seinem Eindruck nach „stark einen Waffenstillstand“ gewünscht; in einem Verhandlungsmarathon seien zahlreiche Entwürfe für ein Abkommen erarbeitet worden. Dann jedoch hätten die westlichen Mächte die Verhandlungen gestoppt.[5] Er sei sich sicher, es habe „eine gute Chance auf einen Waffenstillstand gegeben“, bekräftigt Bennett, der auf die entsprechende Nachfrage des Interviewers („wenn sie“, die westlichen Mächte, „das nicht gedrosselt hätten?“) nickt.
Die NATO interveniert
Dass die reale Chance auf einen Waffenstillstand oder gar ein Friedensabkommen damals von den westlichen Mächten verhindert wurde, bestätigen auch Recherchen des Diplomaten Michael von der Schulenburg, eines ehemaligen Assistant Secretary-General der Vereinten Nationen. Laut von der Schulenburg sollte die Einigung auf ein Abkommen – Rückzug der russischen Truppen, Verzicht der Ukraine auf NATO-Mitgliedschaft und auf Errichtung westlicher Militärstützpunkte auf ihrem Territorium – am 29. März in Istanbul beschlossen werden.[6] Auf einem Sondergipfel am 23. März in Brüssel verlangte die NATO dann allerdings, schon vor weiteren Verhandlungen müsse Russland die Waffen schweigen lassen und seine Truppen abziehen; ein möglicher Verzicht auf eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine wurde nicht erwähnt.[7] Von der Schulenburg stuft dies als letztlich erfolgreichen Versuch ein, „die ukrainisch-russischen Friedensverhandlungen zu beenden“. Wenig später, stellt der Diplomat fest, änderte Russland seine Strategie und setzte nun darauf, „durch die Besetzung ukrainischen Territoriums den Beitritt der Ukraine zur NATO verhindern und seinen Zugang zum Schwarzen Meer schützen zu können“.
Boris Johnson reist nach Kiew
Dazu, wie der Westen seine Gegnerschaft zu einem frühen Ende des Krieges nach Kiew übermittelte, liegen ebenfalls mehrere offen zugängliche Quellen vor, insbesondere britische und ukrainische Medienberichte. So hieß es in der britischen Times, die Regierung in London sei „besorgt“ gewesen, „einige Verbündete“ – genannt wurden vor allem Deutschland und Frankreich – seien „allzu begierig“ gewesen, dass Selenskyj eine Vereinbarung unterzeichne. Premierminister Boris Johnson habe deshalb am letzten Märzwochenende 2022 Selenskyj angerufen und ihn vor weiteren Verhandlungen „gewarnt“; zugleich habe London Kiew neue Waffen in Aussicht gestellt, etwa Drohnen.[8] Auch die Ukrainska Prawda brachte Johnson mit dem Ende der Friedensverhandlungen in Verbindung: Als der britische Premierminister am 9. April persönlich in Kiew eingetroffen sei, habe er die „Botschaft“ mitgebracht, der Westen sei zu der Auffassung gekommen, Putin sei nicht so mächtig, wie man zuvor gedacht habe, und es gebe eine Chance, ihn „unter Druck zu setzen“.[9] Drei Tage danach, stellt die Ukrainska Prawda fest, teilte Putin offiziell mit, die Gespräche mit der Ukraine über ein Waffenstillstandsabkommen steckten „in einer Sackgasse“. Dabei blieb es.
Wo entschieden wird
Gestern, fast ein Jahr nach Kriegsbeginn und zehneinhalb Monate nach der Sabotage des russisch-ukrainischen Waffenstillstandsabkommens durch den Westen, beklagte der einstige Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, in der NATO gebe es gegenwärtig, was den auf Insistieren führender NATO-Mitglieder nicht beendeten Krieg anbelange, keine einheitliche Linie. „Deswegen bin ich der Meinung“, teilte Ischinger mit, es sei notwendig, „eine politisch-strategische Kontaktgruppe“ einzurichten, „um die westlichen [!] Kriegsziele so klar zu definieren, dass wir alle wissen ..., wo es hingeht“.[10] Man müsse sich etwa festlegen: „Wollen wir tatsächlich die Ukraine ermuntern, die Krim militärisch zurückzuerobern?“ Dazu gebe es gegenwärtig „ein weites Spektrum unterschiedlicher Meinungen“. Über sie entschieden wird letzten Endes nicht in Kiew, sondern im Westen.
[1], [2] Nataliya Vasilyeva: Russia has agreed to almost all of our peace proposals, says Ukrainian negotiator. telegraph.co.uk 03.04.2022. S. auch „Alles unterhalb eines Kriegseintritts”.
[3] Fiona Hill, Angela Stent: The World Putin Wants. Foreign Affairs, September/October 2022. S. 108-1022.
[4] Verhandlungen im Ukraine-Krieg: Selenskyj äußert sich zu möglichen Gesprächen. fr.de 04.04.2022.
[5] Branko Marcetic: The Grinding War in Ukraine Could Have Ended a Long Time Ago. jacobin.com 08.02.2023.
[6] Michael von der Schulenburg: Es geht darum, den Frieden zu gewinnen – nicht den Krieg. makroskop.eu 11.10.2022.
[7] Statement by NATO Heads of State and Government. nato.int 24.03.2022.
[8] Steven Swinford, Larisa Brown, Bruno Waterfield: Don’t back down, Britain urges Ukraine. thetimes.co.uk 31.03.2022.
[9] Iryna Balachuk, Roman Romaniuk: Possibility of talks between Zelenskyy and Putin came to a halt after Johnson’s visit – UP sources. pravda.com.u 05.05.2022.
[10] Ischinger fordert Klarheit über Kriegsziele des Westens. tagesschau.de 14.02.2023.
- Von Reinhard Merkel - Aktualisiert am
Reinhard Merkel ist emeritierter Professor für für Strafrecht und für Rechtsphilosophie der Universität Hamburg und Mitglied des Deutschen Ethikrates bis 2020
Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine ist völkerrechtswidrig und das Land dazu verpflichtet, die Gewalt zu beenden. Gibt es aber auch eine Pflicht für die Ukraine, sich auf Verhandlungen einzulassen?
Die Anfänge der Lehre vom gerechten Krieg reichen zurück in die vorsokratische Antike. Systematisch ausgearbeitet wurden sie erst von den scholastischen Theologen und den Juristen des kanonischen Rechts im späten Mittelalter. Die Gründerväter des neuzeitlichen Völkerrechts im 16. und 17. Jahrhundert nahmen die Entwürfe auf und entwickelten sie weiter: zur vernunftrechtlichen Ordnung einer europäischen Staatenwelt, die sich mit dem Westfälischen Frieden von 1648 neu zu formieren begann. Grundlage ihrer Rechtsbeziehungen wurden moderne Prinzipien der Staatlichkeit ihrer Subjekte: deren Souveränität, ihre Gleichheit und die Undurchdringlichkeit ihrer territorialen Grenzen wie ihrer inneren Angelegenheiten gegen Interventionen von außen.
Seither unterscheiden alle Theorien des gerechten Kriegs zwei normative Grundfragen: die nach dem Recht zum Krieg (ius ad bellum) und die nach dem Recht im Krieg, den zulässigen Formen militärischer Gewalt (ius in bello). Kant schärfte in seiner „Rechtslehre“ den Blick für die Notwendigkeit einer dritten Kategorie: für das Recht nach dem Krieg (ius post bellum), die Pflichten der Konfliktparteien nach dem Ende ihrer Kämpfe. Diese Dreiteilung der Frage nach der Gerechtigkeit von Kriegen spiegelt sich, wiewohl unvollständig, auch in der Entwicklung des Völkerrechts bis in die Gegenwart.
Wer könnte die Pflicht einfordern?
Erst in jüngster Vergangenheit erkannte man, dass die klassische Trias der Normen legitimer Kriegführung eine empfindliche Lücke aufwies. Darrell Moellendorf, Philosoph an der Universität Frankfurt, gab ihr einen sprechenden Titel, der sich durchsetzte: „ius ex bello“. Knapp und grob: Gibt es schon während des Gewaltgeschehens für alle Konfliktparteien rechtsprinzipielle Pflichten, sich um Wege ex bello zu bemühen, um ein Ende des Kriegs, und zwar selbst dann, wenn dies ihre militärischen oder politischen Ziele vereiteln würde?
Für Kriege, in denen außer Zweifel steht, wer Aggressor und wer Angegriffener ist, erhält die Frage eine besondere Schärfe. Denn solche Ex-bello-Pflichten könnten das Recht des Angegriffenen, sich zu verteidigen, beschränken oder unterlaufen. Damit sind wir beim Krieg in der Ukraine. Russlands Invasion war völkerrechtswidrig, und seine weitere Kriegführung bleibt dies. Dass der Aggressor verpflichtet ist, die Gewalt zu beenden und zum Status quo ante zurückzukehren, versteht sich. Warum aber sollte, solange das nicht geschieht, die Ukraine verpflichtet sein, sich auf Verhandlungen einzulassen und ihren Kampf womöglich zu beenden, bevor dessen Ziele erreicht sind? Was könnte diese Pflicht begründen? Und wer könnte sie einfordern? (Der Aggressor?)
Recht zur Selbstverteidigung
Das Völkerrecht kennt keine Pflicht zur Selbstverteidigung. Es erlaubt dem angegriffenen Staat, der nach Artikel 51 der UN-Charta ein „naturgegebenes Recht“ zur Selbstverteidigung hat, sich zu wehren, solange die Aggression andauert und solange er will und kann. Daraus folgt nicht, dass seine Kriegführung keine moralischen Grenzen hätte. Zwei davon sind offensichtlich (wann sie erreicht wären, ist eine andere Frage): erstens das Risiko eines Nuklearkriegs und zweitens ein unerträgliches Missverhältnis zwischen den Zielen der Selbstverteidigung und deren Kosten an menschlichem Leben und Leid – nicht nur der Zivilbevölkerung, sondern auch der Soldaten. Zwar haben Kombattanten, egal ob sie zur Armee des Aggressors oder des Verteidigers gehören, eine symmetrische Erlaubnis, einander zu töten. Dieses zwielichtige Privileg moralisch zu rechtfertigen ist aber bislang weder den Völkerrechtlern noch den Philosophen gelungen.
Das Schweigen des Völkerrechts zum ius ex bello überlässt dessen Begründung der politischen Ethik. Die zuständigen Argumente korrespondieren mit denen des ius ad bellum für gerechte Kriege. Denn gerechtfertigt kann die Fortsetzung der eigenen Gewalt nur so lange sein, wie die legitimierenden Gründe für deren Beginn fortbestehen. Aber die äußeren Umstände, auf denen die anfängliche Rechtfertigung beruhte, mögen sich im Verlauf eines Kriegs dramatisch verändern – und mit ihnen das moralische Urteil über seine Verlängerung. Die klassische Doktrin des ius ad bellum kannte neben formellen Bedingungen jeder Kriegführung (Autorisierung, Erfolgsaussicht, Verhältnismäßigkeit) eine ganze Reihe materieller Gründe ihrer Gerechtigkeit: Schutz der (eigenen) Religion in anderen Ländern, Hilfe für unterdrückte Völker, präventive Sicherung der Mächtebalance, territoriale Konflikte, Bestrafung von Rechtsbrüchen und schließlich die Selbstverteidigung und die Nothilfe gegen die Aggression Dritter.
Das heutige Völkerrecht akzeptiert davon nahezu nichts mehr. Nur die individuelle und kollektive Selbstverteidigung gilt ihm als legitimer Kriegsgrund. „Gerechte Kriege“ kennt es nicht mehr. Selbst ein Krieg zur Verteidigung ist nicht schon deshalb gerecht, wiewohl ihn die UN-Charta zum Naturrecht nobilitiert. Man stelle sich den Angriff gegen ein Tyrannenregime finsterster Provenienz vor, Nordkorea etwa. Er werde, nehme man an, von demokratischen Staaten im Zeichen globaler Mindeststandards der Menschenrechte geführt und verfolge allein das Ziel, ein Volk aus seiner Knechtschaft zu befreien. Der angegriffene Staat hätte fraglos ein Recht zur Selbstverteidigung, jeder andere dürfte ihm helfen. Die menschenrechtsfreundlichen Angreifer dagegen machten sich der Aggression schuldig: eines völkerrechtlichen Verbrechens. Dass aber ein solcher Krieg zur Verteidigung der eigenen Tyrannis gerecht wäre, wird niemand behaupten wollen.
Kurz: das Völkerrecht hat die Legitimation militärischer Gewalt entmoralisiert. Der Schutz des globalen Friedens hat Vorrang vor der Gerechtigkeit. Man mag diesen Schutz für ein Postulat von Moral und Gerechtigkeit halten. Plausibler versteht sich das Gewaltverbot als Stabilitätsbedingung jeder Normenordnung, auch einer ungerechten (wie der heutigen Weltordnung). Als eine solche Bedingung, sagt Kant in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“, wäre es zwingend „selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben)“. Die zweite (und letzte) Möglichkeit der Rechtfertigung militärischer Gewalt, ihre Autorisierung durch den Weltsicherheitsrat nach Kapitel VII der UN-Charta, unterstreicht den prinzipiellen Vorrang der Friedensmaxime. Eine solche Autorisierung ist kein Rechtszwang für die Interessen einzelner Staaten, sondern Ausübung eines globalen Gewaltmonopols zugunsten des Friedens aller. Auch das Recht auf Selbstverteidigung steht unter diesem Vorbehalt. Zieht der Sicherheitsrat die Regelung eines Konflikts an sich und trifft „die zur Wahrung des Weltfriedens . . . erforderlichen Maßnahmen“ (Artikel 51 der UN-Charta), so endet die Freiheit des angegriffenen Staates, über Fortsetzung oder Beendigung seines Kampfes zu entscheiden. Erließe der Rat eine Resolution, die beide Kriegsgegner zum Waffenstillstand verpflichtete, entfiele auch für den Angegriffenen das Recht auf weitere Gewaltanwendung. Verantwortung der Ukraine
Das alles indiziert eine Pflicht der Regierung in Kiew, Verhandlungen ex bello zu akzeptieren und deren konzessionslose Ablehnung zu beenden. Diese Pflicht ist, im Unterschied zu der Moskaus, kein unmittelbares Gebot des Völkerrechts, wohl aber eines der politischen Ethik. Ihre Basis ist eine spezifische Verantwortung auch der ukrainischen Regierung und reicht über die triviale Grundnorm jeder Moral, menschliches Leid zu vermeiden, weit hinaus. Denn die Ukraine ist kausal beteiligt an der fortdauernden Erzeugung des Elends dieses Krieges. Der schlichte Befund, so unbestreitbar er ist, löst regelmäßig Empörung aus. Sie gründet vermutlich in der Intuition, die defensive Beteiligung an einem Konflikt, den ein anderer als Aggressor zu verantworten habe, schließe jede Zurechnung seiner Folgen an das Aggressionsopfer aus. Auch in der Politik ist dieser Gedanke populär. An den Kommentaren zu dem jüngsten Einschlag ukrainischer Raketen in einem polnischen Dorf ließ sich das ablesen. Ohne Russlands Angriffskrieg, so hieß es, geschähen solche Dinge nicht; auch für sie sei daher allein Moskau verantwortlich.
Aber das ist gewiss falsch. Man unterstelle hypothetisch, die Rakete sei vorsätzlich in ihr Ziel gelenkt worden. Selbstverständlich wären die Urheber dafür verantwortlich, und übrigens sie allein, nicht außerdem noch Moskau als der Urheber des Krieges. Auch Kriegsverbrechen ukrainischer Soldaten geschähen nicht, hätte Russland den Krieg nicht begonnen. Wer käme ernsthaft auf die Idee, daher seien für solche Verbrechen nicht ihre Täter, sondern Russland selbst verantwortlich? Um Missverständnisse zu vermeiden: Nichts spricht im Fall der Raketeneinschläge in Polen für einen Vorsatz der Schützen. Aber auch im wahrscheinlichen Fall ihrer Fahrlässigkeit tragen sie am Tod der beiden Opfer eine Mitschuld, die von dem Urheber des Krieges freilich geteilt wird. An Russlands Verantwortung für den Hintergrund des trostlosen Geschehens besteht ja kein Zweifel. Das schließt die eigene Verantwortlichkeit der Ukraine aber nicht aus.
Etwas verantworten müssen ist nicht gleichbedeutend mit schuldig sein. Die Verantwortung mag sich ja, anders als die des Aggressors, tragen lassen, und selbst ihre katastrophalen Folgen mögen gerechtfertigt sein. Bis zu welchen Grenzen? Irgendwann kommen die des nicht mehr Legitimierbaren in den Blick: das atomare Risiko für die Welt und die Zerstörung der Ukraine, des Lebens und der Zukunft ihrer Menschen. Lange vor diesen Grenzen beginnt die moralische Pflicht auch des Aggressionsopfers, mögliche Alternativen zur Fortsetzung des blutigen Grauens zu erwägen und in Verhandlungen zu klären. Die Pflicht des Angreifers, seine Aggression zu beenden, versteht sich (noch einmal) von selbst. Aber ihre Verweigerung hebt moralische Bindungen der ukrainischen Regierung nicht auf – weder gegenüber dem Rest der Welt noch und vor allem gegenüber ihrer eigenen Bevölkerung und ihren Soldaten.
Jenseits der Schmerzgrenze
Viele glauben, eine Pflicht ex bello lasse sich so nicht begründen. Ob die Ukraine über einen Waffenstillstand verhandeln wolle oder nicht, sei ihre Sache, in die sich niemand einzumischen habe. Das überzeugt nicht. Gewiss trifft es in einem belanglos formellen Sinne zu, dass für die Entscheidung, den Krieg fortzusetzen, die Regierung in Kiew zuständig ist – so wie es für die Entscheidung, ihn zu beginnen, die Regierung in Moskau war. Das schließt Kritik daran nicht aus. Denn dafür gelten die Normen des Völkerrechts und der politischen Ethik, nicht die Kriterien von Machthabern. Jeder Krieg, sein Beginn, seine Dauer wie sein Ende, ist von gravierender Bedeutung für die ganze Welt. Die UN-Charta, Gründungsurkunde des heutigen Völkerrechts, lässt daran keinen Zweifel und die Ethik erst recht nicht. Für das Risiko eines Atomkriegs, das zwar gering, aber wegen seiner apokalyptischen Dimension dennoch zu hoch ist, liegt das auf der Hand. Es gilt aber auch für ein ins Maßlose wachsende Elend aller, die in das Gewaltgeschehen zwangsinvolviert sind: neben Hunderttausenden von Soldaten beider (ja, beider) Armeen viele Millionen Ukrainer, von denen Tausende den Winter nicht überleben werden.
Die Ukraine mag diesen Krieg am Ende gewinnen können, politisch und vielleicht auch militärisch, aber allenfalls mit einer Zerstörungsbilanz, die dem Begriff eines solchen Sieges keinen fassbaren Sinn mehr beließe. Der Gedanke deutet an, wie irreführend die Analogie zwischen staatlichem Verteidigungskrieg und individueller Notwehr ist. Wer als Person angegriffen wird und sich wehrt, darf das mit jedem Risiko für sich selbst und bis zum Verlust seines Lebens tun. Aber Regierungen haben Schutzpflichten gegenüber den Bürgern ihrer Länder. Dazu gehört auch die Verteidigung des Staates gegen Aggressoren, aber der Schutz von Leib und Leben und Zukunft seiner Bürger ebenfalls. Jenseits einer Schmerzgrenze, an der die Verwüstung des Landes und der Menschen jede moralische Proportionalität übersteigt, noch immer allein auf die Fortsetzung der Gewalt zu dringen und jede Verhandlung über deren Ende abzulehnen ist nicht tapfer, sondern verwerflich.
Verhandeln heißt nicht kapitulieren. Verhandlungen können scheitern, man kann sie auch scheitern lassen. Die Ukraine hat keinerlei Veranlassung, irgendeine der völkerrechtswidrigen Annexionen ihres Territoriums seit Februar dieses Jahres anzuerkennen. Mit der Krim und deren avisierter Rückeroberung verhält sich das allerdings anders. Keine Rolle spielt dabei, ob der Anschluss der Krim an Russland 2014 eine Annexion war oder nicht. Völkerrechtswidrig war das russische Verhalten jedenfalls, vielleicht auch ein bewaffneter Angriff, wiewohl kein einziger Schuss fiel und niemand verletzt wurde.
Kopfschüttelnde Zurückweisung
Doch seither steht die Krim unter einer russischen Administration, der die große Mehrheit ihrer Bevölkerung zustimmt. Aus der ehedem rechtswidrigen Okkupation ist der stabile Zustand einer befriedeten Ordnung entstanden. Damit gewinnt die Friedensmaxime der UN-Charta, die Grundnorm ihres Gewaltverbots, Dominanz über abweichende Erwägungen zur territorialen Gerechtigkeit. Zugleich endet für die Ukraine die Möglichkeit, eine militärische Rückeroberung der Krim als Selbstverteidigung zu rechtfertigen. Das mag man missbilligen. „Der Besitzschutz des Räubers“, schrieb der Völkerrechtler Walter Schätzel schon 1953 über jene Maxime der Charta, „ist unerträglich.“ Vielleicht. Aber es geht nicht um Besitz-, sondern um Friedensschutz.
Nur wenn die friedliche Verwaltung der Krim seit neun Jahren ein permanenter „bewaffneter Angriff“ Russlands wäre, hätte die Ukraine auch jetzt noch, womöglich ad infinitum, ein Recht zur gewaltsamen Revision. Für diese These spricht wenig. 1982 hat Argentinien, nachdem es die Falkland-Inseln besetzt hatte, in einem Schreiben an den Sicherheitsrat ein analoges Argument bemüht. Die Okkupation der Inseln durch England 1832 sei rechtswidrig gewesen: ein bewaffneter Angriff. Dieser dauere seither fort. Mit der Rückbesetzung übe Argentinien lediglich sein Recht auf Selbstverteidigung aus. Der Rat hat das Argument in wenigen Zeilen, fühlbar kopfschüttelnd, zurückgewiesen.
Ein Angriff auf die Krim wäre illegitim
Nun sind eineinhalb Jahrhunderte friedlicher Regierung naturgemäß ein gewichtigerer Umstand als knapp neun Jahre russischer Verwaltung auf der Krim. Wie viele Jahre reichen? Darüber kann man streiten (und tut es auch). Aber entscheidend ist nicht die schiere Dauer der Verwaltung, sondern das Maß der mit ihr erreichten normativen Stabilität und die Gewähr ihrer friedlichen Zukunft. Historische, kulturelle, sprachliche und religiöse Hintergründe können dafür eine bedeutendere Rolle spielen als die formelle Souveränität über das Territorium. Für die Krim ergibt sich hieraus ein klarer Befund. Die Bewohner der Halbinsel fühlen sich mehrheitlich als Russen; längst vor 2014 wollten sie den staatsrechtlichen Wechsel. Diesen nun mit Gewalt zu revidieren, dafür Tausende weiterer Menschenleben zu zerstören und unauslöschliche Spuren des Hasses in den Überlebenden zu hinterlassen, schriebe einen düsteren Plan für die Zukunft der Krim und ihrer Bewohner.
Begänne die Ukraine mit dem Versuch einer militärischen Rückeroberung der Krim, so begänne sie einen neuen Krieg. Er wäre nicht die Fortsetzung der Verteidigung gegen die russische Aggression vom vergangenen Februar, sondern selbst ein bewaffneter Angriff. Das sollte die Bundesregierung bei weiteren Waffenlieferungen bedenken. Deren Bedingungslosigkeit war immer verkehrt, politisch wie moralisch. Sollten die künftigen Lieferungen irgendwann zur Rückeroberung der Krim verwendet werden, würde aus diesem Fehler eine Verletzung des Völkerrechts.
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